Blutsverwandte
Les liens de sang
Kanada / Frankreich 1978
Regie: Claude Chabrol
Donald Sutherland, Aude Landry, Lisa Langlois, Laurent Malet, Stéphane Audran, Walter Massey, Micheline Lanctôt, Donald Pleasence, David Hemmings, Marguerite Lemir, Ian Ireland, Guy Hoffmann, Gregory Giannis, Jan Rooney, Tim Henry, Victor Knight, Jérôme Tiberghien
OFDB
Les liens de sang
Kanada / Frankreich 1978
Regie: Claude Chabrol
Donald Sutherland, Aude Landry, Lisa Langlois, Laurent Malet, Stéphane Audran, Walter Massey, Micheline Lanctôt, Donald Pleasence, David Hemmings, Marguerite Lemir, Ian Ireland, Guy Hoffmann, Gregory Giannis, Jan Rooney, Tim Henry, Victor Knight, Jérôme Tiberghien
OFDB
Fritz Göttler schrieb in der Süddeutschen Zeitung über Claude Chabrol unter anderem „Mit filmischen Mitteln sezierte er das Verhältnis der Bourgeoisie zu Geld und Macht, schildert deren Intrigen, ihre Dekadenz und ihre Geilheit. Mehr noch den gutbürgerlichen Mittelstand, der sich an den fremdbestimmten oder selbstgesetzten Wünschen und Ansprüchen, an dem gewünschten Selbstbild abarbeitet, bis das Selbstbewusstsein bröckelt und mit Obsessionen und Pathologien bestraft wird.“ (1) Eine Charakterisierung, wie für BLUTSVERWANDTE gemacht.
In einer regnerischen Nacht wird in einem Hinterhof die junge Muriel abgestochen. Ihre Cousine Patricia, dem Mörder knapp entronnen, beschreibt den Täter, und die Polizei beginnt zu ermitteln. Ein aufregender Mordfall, und es werden auch schnell die üblichen Verdächtigen abgehakt: Diejenigen, auf die die Beschreibung passt, genauso wie die Pädophilen. Aber Inspektor Carella tritt auf der Stelle und die Aufklärung des Falls kommt so gar nicht voran, bis Patricia eine Aussage machen will: Sie möchte ihren Bruder Andrew nicht länger schützen, denn tatsächlich sei er der Mörder. Andrew wird verhaftet, doch allmählich kommen Carella Zweifel an der Einfachheit des Falls, als er den Vorgesetzten Muriels kennenlernt, deren freundschaftlich verbandelte Kollegin, und den Frauenarzt, der Muriel vor gar nicht langer Zeit behandelt hat …
Das Bürgertum und am besten gleich die ganze Gesellschaft, alles geht den Bach hinunter. Die Müllmänner streiken, Cousin und Cousine haben eine Affäre, die Mutter säuft, der Vater ist ein prinzipientreuer Christ der nicht nur einen Stock, sondern gleich ein ganzes Kruzifix im Arsch hat, und überhaupt besteht die gesamte Mischpoke irgendwie nur aus notgeilen Teenies und verknöcherten Alten. So ungefähr schildert Chabrol seine Sicht der kanadischen(!) Gesellschaft in BLUTSVERWANDTE. Einzig die Polizisten scheinen integer, aber dafür verweigert das Skript denen praktisch jedwedes Familienleben. Nein, das stimmt nicht ganz: Carella hat einen Job, eine Frau und einen Hund. In dieser Reihenfolge. Aber zumindest bei ihm ist das Familienleben intakt: Während Carella zuhause stunden- und gefühlt sogar tagelang wichtiges Beweismaterial sichtet, schläft seine Frau verständnisvoll einfach neben ihm ein. Wenn es nur immer so einfach wäre.
Aber alle anderen sind deutlich auf dem Weg in den Abgrund. Der Vater von Patricia und Andrew ist ein stockkonservativer Möchtegernchrist, der für seine Autowerkstatt und Gott lebt, ansonsten aber im Familienleben Liebe mit Strenge verwechselt. Ob die Mutter der Familie schon vor dem Tod ihrer Tochter das Trinken begonnen hat lässt sich nicht sagen, aber die Performance Stéphane Audrans als älter werdende einsame Frau auf dem Abstieg in ihre private Hölle ist trotz der wenigen Screentime extrem beeindruckend und ausgesprochen realistisch. Der Vorgesetzte Muriels ist ein älter werdender Mann, in dessen Ehe es nicht mehr so gut läuft, und der sich deswegen an die knackige Muriel ranmacht. Die Charmeoffensive hat auch Erfolg, und man fragt sich unweigerlich, wie der Film wohl ausgegangen wäre, wenn da nicht dieser Mord im Raum stehen würde. Und von Donald Pleasance als Pädophilem, der eine 13-jährige unter seiner Kontrolle hat, brauchen wir genauso wenig zu reden wie von dem Säufer, der seine Frau krankenhausreif schlägt und das völlig normal findet. Nein, dieses Pack ist nicht mehr auf dem Weg in den Abgrund. Dieses Pack ist bereits dort angekommen. Und zieht seine bemitleidenswerte Umwelt gleich mit …
Deine Frau hält sich für was Besseres. Wenn sie Dir dumm kommt, hau ihr eine rein.
Bleiben die Jugendlichen, die diese Welt mal irgendwann von den Älteren erben werden: Patricia und Muriel sind 15 bzw. 17 Jahre alt – Und teilen sich ein Zimmer. Privatsphäre oder Geheimnisse, etwas was alle Teenager in diesem Alter haben und brauchen, sind da natürlich ausgeschossen. Muriel führt ein Tagebuch, das mit einem Schlüssel, der an einer Kette um ihren Hals hängt, verschlossen ist. Es ist klar, dass solche Geheimnisse auch entsprechende Begehrlichkeiten wecken, und auch hier sind die Konflikte bereits vorprogrammiert. Vor allem da Andrew ein eigenes Zimmer hat (klar, die Sache mit dem kleinen Unterschied), und noch viel mehr, weil Andrew und Muriel ganz furchtbar heiß aufeinander sind. Und Muriel jedes Detail dieser verbotenen Liebe ihrem Tagebuch anvertraut. Jenes Tagebuch, das immer in der obersten Schublade ihrer Kommode liegt. Und das jetzt verschwunden ist …
Die Konstellation ist ein wenig arg statisch, was bei mir persönlich auch zu einem leichten Punktabzug führt. Die Figuren sind alle sehr stereotyp gezeichnet, und die großartigen Schauspieler sind es, die diesem vorgegebenen Schema F Leben einhauchen und ein Panoptikum des Schreckens zeichnen können. Der Schrecken funktioniert, und auch wenn sich der krimierfahrene Zuschauer die Auflösung des Kriminalfalles schon sehr früh denken kann, so ist dieser Fall schließlich auch nicht der Sinn des Filmes. Viel mehr geht es um die Vorführung einer spießbürgerlich-bigotten Bürgerschicht und der Betrachtung der daraus entstehenden Auswüchse. Und trotz der, ein wenig vorhersehbaren, Ausführung des Handlung setzt Chabrol die kleinen Schocks und die nicht so kleinen Entsetzlichkeiten genau an den richtigen Punkten, um das Interesse des Zuschauers nie erlahmen zu lassen. Was dann dazu führt, dass man zwar weiß wie der Hase laufen wird, man aber ob der gelungenen Umsetzung dann doch wieder gebannt vor der Glotze hängen bleibt und zuschaut, wie diejenigen, die eigentlich alles haben, sich in ihrer Gier und ihrer Eitelkeit ihr eigenes Grab schaufeln. BLUTSVERWANDTE ist sicher kein großes Meisterwerk, aber gut anzuschauen und leider auch bemerkenswert modern in seiner Aussage.
(1) (1) https://web.archive.org/web/2016030 ... n-1.998854
6/10