Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Angefixt von Sid's Aufruf zu den "20 herzallerliebsten Musikalben" und in Gedenken an die Countdowns, mit denen uns Dr. Django vor Jahren mehrfach musikalisch auf unsere Happenings einstimmte, kam mir gestern bei einem Treffen mit Fritzcarraldo die Idee, im Vorfeld der anstehenden Zusammenkunft in Hannover beides miteinander zu verbinden. In diesen heiligen Hallen werde ich in 5er Etappen bis Ende September insgesamt 50 Alben droppen, die zwar nicht unbedingt allesamt zu meinen herzallerliebsten zählen, die jedoch verbindet, dass ich sie a) größtenteils irgendwann einmal (vor allem in meiner aktiven Sammlerzeit musikalischer Kuriosita mit Anfang bis Mitte 20) in physischer Form - ob als CD, Vinyl, oder, selten, Kassette, zuweilen auch bloß digital - besessen habe (oder immer noch besitze), sprich, dass irgendwas an ihnen (das Cover, das Konzept, die Musik selbst) mich dazu gebracht hat, Zeit (und Geld) in sie zu investieren, sowie b), dass sie in irgendeiner Weise gegen den konventionellen Strich gebürstet sind, und somit die Bezeichnung "skurril" verdienen - sei es, dass besagtes Konzept ein reichlich weirdes ist, sei es, dass sie Sounds aufbieten, die den allgemeinen Hörgewohnheiten radikal zuwiderlaufen, sei es, dass sie ausgesprochen trashig, cheesy, kitschig sind, dass sie von Menschen fabriziert wurden, die mit Musik eigentlich nichts am Hut haben, oder, dass sie von eigentlich renommierten Bands und Solokünstlern stammen, die sich ein einziges Mal in ihrer Diskographie weit, weit aus dem Fenster des Vertrauten herauslehnten, (und sich damit zuweilen eine blutige Nase holten). Eben ganz so wie in einer der im Titel aufgerufenen Wunderkammern oder Kuriositätenkabinette, wo ja ebenfalls echte oder falsche Edelsteine, Narwalzähne, Elfenbeinschnitzereien, ausgestopfte Fabeltiere, Zauberhüte oder was sonst noch für absonderlicher Plunder für die staunende Masse zusammengetragen wurde. Eine Chronologie soll es keine geben, eine Hierarchie höchstens ansatzweise, indem wir uns immer mehr zu den Werken vorwagen, die mich heute noch sprachlos machen, ansonsten existieren keine genretechnischen, geographischen, geschmacklichen Grenzen - und wer es bis Ende September schafft, das alles zu hören, ohne taub zu werden, der bekommt von mir eigenhändig einen Trostpreis verliehen... :D
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

50. Nymphomatriarch - Nymphomatriarch (2003)

Hinter dem schönen Namen "Nymphomatriarch" verstecken sich die Elektronikmusiker Aaron Funk (alias "Venetian Snares") und Rachael Kozak (alias "Hectate"). Die teilen zum Zeitpunkt der Aufnahmen ihres einzigen gemeinsamen Albums nicht nur das Bett, sondern möchten ihre Zuhörerschaft auch hautnah an dem teilhaben lassen, was sie in diesem Bett so alles miteinander anstellen. Mit Mikrofonen ganz dicht an ihren kopulierenden Körpern, (und teilweise wohl auch im Innern derselben!), zeichnet das Paar all das Stöhnen und Schreien, all die glitschenden, klatschenden Geräusche, all die monotonen Rhythmen auf, die bei einem Geschlechtsakt üblicherweise entstehen. Aus den derart gewonnenen Sounds basteln die beiden sodann sechs Instrumentalstücke, von denen eins ("Hymen Tramp Choir") uns eine Viertelstunde lang mit meditativem Ambient einlullt, die restlichen fünf nach dem rast- und atemlosen Breakcore klingen, den man mit Aaron Funks Solowerken verbindet. Dass wir hier gerade Sex lauschen, lässt sich oft nur noch schwerlich erahnen, so sehr ist das Ursprungsmaterial verfremdet, bearbeitet, letztlich abstrahiert worden - und ich frage mich, ob jemand, der nichts über die eigenwillige Produktionsgeschichte des Werks weiß, überhaupt realisieren würde, dass wir hier gerade Zeuge intimster Stunden werden. In jedem Fall dürfte dies wohl eins der wenigen Alben der Musikgeschichte sein, das den meisten Spaß wohl den beiden Menschen bereitet hat, die es aufgenommen haben.




49. Peter "Cool Man" Steiner - Ah - ein Stadtmensch (2001)

Im Jahre 1993, mit satten 73 Jahren, wird der Schweizer "Alpöhi" Peter Steiner als Werbefigur für einen Milka-Schokolade-Spot eingesetzt - und entwickelt schnell einen derartigen Kultstatus, dass das deutsche Produzententeam XXL es für eine lukrative Idee hält, ein ganzes Dance-Projekt mit dem greisen Landwirt als Galionsfigur zu starten. "It's Cool Man" erklimmt Anfang 1995 die höchsten Ränge der Charts, auch die Nachfolgesingle "Geierwally" wird zum Hit. Erst 2001 folgt mit "Ah - ein Stadtmensch" Steiners erste und einzige Langspielplatte - zu einem Zeitpunkt, als die "Cool-Man"-Welle eigentlich längst totgeritten ist. Tatsächlich ruht sich das Album dann auch vorwiegend auf seinem einzigen Gimmick aus, der da lautet, dass das Landei und Naturkind Steiner auf moderne (und oft recht billige) Discobeats trifft. So schwärmt er in seinem unnachahmlichem Schweizer Idiom für die Sangria-Insel Mallorca ("Bailo contigo"), fordert uns auf, ihm eine SMS zu senden ("Send me ne SMS"), widmet seiner Kuh Ayla ein Liebesständchen ("Ayla, Ayla, meine Kuh") - das Ganze untermalt mit Elektroniksounds und weiblichen Gesangslinien aus der Eurodance-Vorhölle. Highlights sind "Der Gletscher", ein ambient-lastiger Ausflug Steiners in die Schweizer Bergwelt zu Murmeltier und Gams, der überraschend aus dem sonstigen Rahmen fällt, sowie der Partykracher "Bumm bumm (Jetzt spacen wir ab)", der die generische, wenn auch bizarre Formel des Albums bis zur Selbstdekonstruktion transzendiert: "Das geht direkt in die Beine! Come on and move your body! Come on, check this out! Bumm Bumm! Jetzt drehen wir aber richtig auf!"




48. Pink Floyd - Ummagumma (1969)

Mit ihrem insgesamt vierten Album "Ummagumma" wagen sich Pink Floyd Ende der 60er erstmals an eine Doppel-LP, bestehend aus einer Live- sowie einer Studio-Scheibe. Während erstere unter Beweis stellt, was für eine geniale Live-Band die Combo zur damaligen Zeit gewesen ist, (geboten werden vier Stücke, die mich als jungen Menschen schon beim bloßen Zuhören berauschten), entfernt sich die zweite Platte noch wesentliche Schritte weiter von den sowieso schon arg amorphen Live-Darbietungen tief hinein in pure Kopfkratz-Gefilde: Auf der Studio-Seite nämlich bekommt jedes Bandmitglied seine eigene Solo-Nische, in der er es sich ohne Beschränkungen und Reinreden der anderen austoben darf. Nick Mason ergeht sich in einem endlosen Schlagzeugsolo, gerahmt von einer simplen Querflötenmelodie. Richard Wright lässt die Geräusche einer mediterranen Idylle mit wildem Affengekreisch und Klängen zusammentreffen, die sich anhören, als ob jemand mit einem Stück Metall die Stäbe einer Heizung entlangratschen würde. David Gilmour lässt zwei hübsche Gitarrensongs, bei denen es wirkt, als traue er sich kaum, beim Singen die Stimme zu erheben, in einer Unmenge elektronischer Effekte untergehen. Roger Waters packt die Akustikklampfe aus und trällert erst mit "Grantchester Meadows" den Schönheiten englischer Landschaft ein Liebeslied, untermalt von Vogelgezwitscher und endend mit dem Tod einer Fliege durch eine Klatsche, bevor er mit "Several Species of Small Furry Animals Gathered Together in a Cave and Grooving With a Pict" das wohl wildeste Stück des gesamten Albums vorlegt, eine Collage aus den (elektronisch erzeugten) Lautäußerungen von Fabeltieren, die, wie der Titel suggeriert, mit dem Angehörigen des schottischen Volkstamms der Pikten in einer Höhle eingeschlossen sind. Als Gesamtkunstwerk vielleicht mein liebstes Pink-Floyd-Album, defintiiv aber das abgedrehteste. Das dem CD-Release beiliegende Poster des Albumcovers zierte dann auch jahrelang die Tapete meines Jugendzimmers.




47. Apator - Masturbate in Praise of Black Satan (1992)


Black Metal zeichnet sich ja generell durch einen radikalen Reduktionismus aus: Ein einziges Gitarrenriff für zehn Minuten; Bass im bewusst räudigen Soundmix kaum vernehmbar; das Schlagzeug spielt pausenlos Blastbeats; dazu krakeelt sich jemand die Seele aus dem Leib. Der holländische, nennen wir ihn mal, Sound Artist Apator führt dieses Rezept ins Extrem (und darüber hinaus), wenn er in seinem berühmt-berüchtigten Tape-Release von 1992 mit dem bezaubernden Titel "Masturbate in Praise of Black Satan" so etwas aufbietet wie eine Art schwarzmetallische A-Capella-Variante. Fast eine halbe Stunde lang dürfen wir dem guten Herrn beim Grunzen, Röcheln, Fauchen zuhören, komplett ohne musikalische Begleitung. Verständliche Worte konnte ich aus diesen Lautäußerungen noch nie destillieren, jedoch lassen Songtitel wie "Satan Vomits (On Holy Mary's Virgin Child)", "The Satanic Bloodspraying" oder "Rapor Satan" zumindest auf eine bestimmte thematische Fixierung des Künstlers schließen. Black Metal für Menschen, die keinen Metal mögen, und auch sonst nicht viel mit Musik an sich anfangen können.




46. Horror Charly - Horror Sex Show (1972)

Über dieses Kleinod habe ich mich ja schon im Sektor des "zuletzt gehörten Tracks" vor geraumer Zeit einmal verblüfft ausgelassen: Ein Album angeblich von 1971 namens "Horror-Sex-Show", das größtenteils aus "unheimlichen" Geräuschen wie Käuzchenrufen, Friedhofsglockengeläut, Sturmbrausen etc. besteht, sowie einem mit verzerrter Stimme sprechenden (oder irre lachenden) Kerl, der behauptet, der einzige Sohn Graf Draculas zu sein, und in dieser Rolle allerhand wahlweise drollige oder verstörende Gewalt- und Sexphantasien zum Besten gibt, (beispielweise, wenn ich das richtig verstanden habe, dass er durch die "Scheißhaustür" in die Häuser junger Frauen eindringen wird, um ihnen die Zähne in den Hals zu stoßen); zwischendurch ertönen Samples aus Filmsoundtracks oder anderweitigen Musikstücken (Morricones Mundharmonika aus Leones C'ERA UNA VOLTA IL WEST; trist-traurige Orgelmelodien; nerviges Klaviergeklimper), oder aber man hört minutenlang nur uneindeutigen Geräusche wie Rauschen, Knistern, Brummen, als ob die Schallplatte kurz davor stünde, bei all dem sonischen Wahnsinn selbst zu kollabieren. Wie Karlabundzu seinerzeit angemerkt hat, steckt hinter dem Projekt wohl ein gewisser wohl zum Soundtrack dieser Vaudeville- bzw. Grand-Guignol-Darbietungen stempelt. Puh, gebt mir eine Zeitmaschine ins München der frühen 70er!

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karlAbundzu
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von karlAbundzu »

Hui, schöne Idee und gleich unbekanntes dabei. Höre gerade Nymphomatriarch duri, gefällt bisher. Ich bin positiv gespannt!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Blap
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Blap »

Sehr angenehm! 👍🏼
Das Blap™ behandelt Filme wie Frauen
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Maulwurf
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Maulwurf »

Schon recht eigen, aber megainteressant! Bitte weiter so :thup:
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Arkadin
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Arkadin »

Sehr schöne Idee. Und hochinteressant. Danke dafür. Und ja... ich vermisse den Doc2 und seine hübschen Forentreffen-Countdowns auch. Also doppeltes Danke für Deine Mühe!
Früher war mehr Lametta
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Nach den durchweg wohlwollenden Reaktionen auf mein kleines Countdownprojekt hier nun also die nächste Fuhre von Balsam für eure Ohren, mit denen ihr euch die beginnende Arbeitswoche versüßen, und euch auf die akustischen Extravaganzen einstellen könnt, die zu erwarten sind, wenn sich im September unsere schrillen Stimmchen im Kinofoyer miteinander vermischen...


45. Franco Battiato – L’Egitto prima delle sabbie (1978)

Im berühmten zoologischen Nachschlagewerk "Brehms Tierleben" sollte neben dem Artikel zum "Chamäleon" eigentlich ein Bild Franco Battiatos abgebildet sein. Nach mehreren Alben, die man noch einer eigenwilligen, recht persönlichen und collagehaften Version des Progressive Rocks der frühen 70er zuordnen kann, wendet sich der Sizilianer mehr und mehr einer atmosphärischen Elektronik à la Klaus Schulze oder Tangerine Dream zu. Dem Massengeschmack vollends eine Absage erteilt Battiato dann mit drei Alben zwischen 1977 bis 1978, von denen "L’Egitto prima delle sabbie" ("Ägypten vor dem Sandstrand") das letzte und radikalste darstellt. Wir befinden uns knietief im Bereich Moderner Klassik beziehungsweise der sogenannten Neue Musik; lediglich zwei Stücke von zusammen gerade mal etwas mehr als einer halben Stunde Spielzeit gibt es zu belauschen: Das erste trägt den Titel des Albums, das zweite nennt sich "Sud Afternoon"; einziges Instrument bei beiden ist ein Piano, bei Track 1 gespielt von einem Soloperformer, bei Track 2 bearbeitet von insgesamt vier Händen. So viel kann man sagen: Minimalistischer als hier wird Musik wohl nicht mehr, denn alles, was sich bei den Kompositionen auf "L’Egitto prima delle sabbie" unterscheidet, sind die Abstände, die zwischen den Anschlägen vergehen, mit denen ein und dieselbe Akkordfolge aus dem Klavierkörper hervorgeholt wird. Stück 1 erinnert dabei an das Geräusch eines Wassertropfens, nur perlt dieser mal schneller, mal zurückhaltender aus dem Waschbeckenhahn; Stück 2 bietet ein 18minütges Stakkato, bei dem man schon genau hinhören muss, um irgendwelche Variationen zu registrieren. Wie ironisch Battiato dieses Album nun gemeint haben mag, sei dahingestellt - immerhin engagierte er für diese nun technisch wirklich nicht anspruchsvollen Stücke zwei professionelle Pianisten, die sie für ihn einspielten. Trotz oder gerade deshalb hat "L’Egitto prima delle sabbie" ein paar Leute offenbar derart begeistert, dass sie dem Werk den Stockhausen-Preis verliehen, eine renommierte internationale Auszeichnung für besonders gewagte Klavierkompositionen. Interessant ist nicht zuletzt, dass keine drei Jahre vergehen sollten bis Battiato erneut seine Farbe wechseln, und mit seinem (sensationellen!) Album "La voce del padrone" zu einem erfolgreichsten (und skurrilsten) Popstars Italiens der frühen 80er aufsteigen sollte.





44. Old Skull - Get Outta School (1989)

Nein, die drei Bengel aus dem Albumcover - einer mit Irokesenschnitt, einer mit O.K.-Daumen, einer mit Hüsker-Dü-Shirt - sind nicht etwa die Bandmusiker von "Old Skull" in jungen Jahren, oder irgendwelche random punk kids, vielmehr zeigt es ein aktuelles Photo des Trios bestehend aus den Brüdern Jean-Paul und Jamie Toulon sowie ihrem Schulfreund Jesse Collins-Davies, die bei der Aufnahme des Debüt-Albums der Hardcore-Punk-Kapelle aus Madison, Wisconsin allesamt gerade mal 9 Lenze zählen. Gemanagt und produziert werden sie von Papa Toulon, der selbst auf eine lange Laufbahn innerhalb der Punkszene zurückblickt, und die Buben dementsprechend mit genretypischem Songmaterial versorgt, das von den Rotznasen sodann mit kindlicher Aggression runtergekoppelt wird - wobei es sicherlich zur Rohheit von "Get Outta School" beiträgt, dass keiner der Burschen - allein aufgrund seines Alters - über ausreichend Spielerfahrung verfügt, dass die insgesamt 15 Lieder auch nur in den erweiterten Radius eines glatten, geschliffenen Sounds geraten würden. Ebenso spannend wie die räudige Performance sind die Texte: AIDS handelt von der titelgebenden Immunkrankheit, die Ende der 80er in aller Munde ist; in HOMELESS wird die fehlende Unterstützung von Obdachlosen durch die republikanische Regierung Ronald Reagans angeprangert; in GET OUTTA SCHOOL möchte man sämtliche Grenzen überschreiten und einfach mal die Schule schwänzen; HOT DOG HELL lässt uns einiges über die kulinarischen Vorlieben der Kids erfahren; in JAMES wird gar ein gleichnamiger Klassenkamerad, den das Trio nicht ausstehen kann, nun auch in Liedform gemobbt. Bester Moment: Wenn ein schrilles Kinderstimmchen inbrünstig "I hate you Ronald Reagan!" ins Mikrofon kreischt. Leider endet die Geschichte für die Beteiligten nicht sonderlich rosig: Die Toulon-Brüder veröffentlichen mit neuem Drummer 1992 das Nachfolgealbum C.I.A. DRUG FEST, bevor sie die Band auflösen und sich anderen Punkbands anschließen. Es folgen Gefängnisaufenthalte, Drogenabhängigkeiten; Jean-Paul stirbt 2010 an Umständen, die der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht worden sind, ausgerechnet am Geburtstag seines Bruders Jamie, der daraufhin 7 Monate später den Freitod wählt.




43. Josh Laryea - Ye tietia wo so (2013)

Was hat denn bloß ein generischer Gospel-Musiker aus Ghana wie Josh Laryea auf dieser Liste zu suchen? Im Grunde nichts, wäre sein 2013er Album "Ye tietia wo so" nicht auf allen gängigen Musikplattformen in einer fehlerhaften Version hochgeladen worden, die über derart viele akustische Artefakte in Gestalt von Störgeräuschen verfügt, dass man die zugrundeliegenden fröhlichen Liedchen zu Ehren Christi zuweilen bloß noch erahnen kann, in jedem Fall aber fortwährend ein irritierend-faszinierender Widerstreit zwischen Harmonien und Dissonanzen stattfinden, der an den biblischen Kampf zwischen Gut und Böse denken lässt. Für mich hört es sich jedenfalls tatsächlich so an, als ob dieses Album teuflisch besessen sei: Der Satan selbst ist es, der sich rülpsend, furzend, kotzend immer wieder zu Wort meldet, um uns von der göttlichen Botschaft abzulenken, die Larvea und sein Goseplchor mit seligem Dauergrinsen vortragen - oder ist es gar Apator (Platz 47), der es irgendwie geschafft hat, sich mit seinen grunzenden Lautäußerungen auf die Veröffentlichung zu schmuggeln? Auch, dass das Album bis zum heutigen Tage nur in dieser korrumpierten Form auf Spotify zugänglich ist, kann man doch eigentlich nur mit satanischen Umtrieben erklären, oder? Denn hätten Laryea und seine Mitstreiter nicht längst Sorge dafür getragen, das Album allerorts vom Saulus in einen Paulus zu verwandeln?




42. Thai Elephant Orchestra (with Dave Soldier & Richard Lair) - Thai Elephant Orchestra (2000)

Wer sich schon immer mal von Dickhäutern in die süßesten Träume hat klimpern lassen wollen, ist bei dem 2000 veröffentlichten Debüt des Thai Elephant Orchestras aus der Proving Lampang im Norden Thailands goldrichtig. Die Gründung einer Musikkapelle bestehend aus Rüsselträgern geht auf Richard Lair, Mitgründer und Leiter des Thai Elephant Conservation Centers, sowie seinen Mitarbeiter Davild Sulzer, seines Zeichens Neurowissenschaftler von der Columbia University, zurück, nachdem beide festgestellt hatten, wie musisch begabt ihre elefantösen Schützlinge doch sind. Das Album besteht aus drei klar voneinander geschiedenen Segmenten: Das Gros wird von den insgesamt 14 Elefanten selbst bestritten, die auf eigens für sie angefertigten Instrumenten, die imstande sind, höchste Belastungen auszuhalten, meditative Live-Improvisationen hinlegen; anschließend ergänzen Sulzer und Lair das Ganze noch mit ein paar Aufnahmen von "natürlichen" Elefantengeräuschen wie insbesondere das typische Tröten, sowie Instrumentalstücke, die von thailändischen Indigen zu Ehren von Elefanten komponiert worden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt - nämlich nach knapp einer Stunde Laufzeit - haben die monotonen Geräusche, die entstehen, wenn Schlagstöcke von Rüsseln auf Xylophone, Gongs und Trommeln gehauen oder an den Saiten von Streichinstrumenten entlanggezogen werden, uns aber wohl sowieso längst in die schönsten Dickhäuterträume gewiegt.




41. Avey Tare & Kría Brekkan - Pullhair Rubeye (2007)

Avey Tare (Mitglied der Band "Animal Collective") und Kría Brekkan (Ex-Mitglied der Band "múm"), zu diesem Zeitpunkt ein Liebespaar, nehmen zusammen in ihrem Studio in Brooklyn eine Handvoll Songs auf. Dominierend sind Piano und Akustikgitarre, die einzelnen Stücke besitzen allesamt eine starke Folk-Ausrichtung, klingen friedvoll, verträumt, pastoral, sind jedoch mit der nötigen Dosis Verschrobenheit gewürzt, die sich vor allem in der das Album durchziehenden DIY-Attitüde niederschlägt, sowie in den Gesangesstimmen, die immer wieder stark nach Katzenmiauen klingen. So weit, so gut: Wäre "Pullhair Rubeye" in dieser Form veröffentlicht worden, würde es sich um ein hübsches kleines Album handeln, irgendwo zwischen Freak Folk und Ambient-Drone. Dann aber beschließt das Pärchen, unbedingt auf vorliegender Liste verewigt zu werden - und bringt die gesamte Songkollektion als CD und Vinyl in einer rückwärts abgespielten und teilweise beschleunigten Fassung auf den Markt. Im Klartext: Die von Tare und Brekkan intendierte Version von "Pullhair Rubeye" beginnt mit dem letzten Ton des Albums und endet mit dem allerersten - quasi Gaspar Noés "Irreversible" im Albumformat -, was die eigentlich zärtlich-kauzigen Songs in herausfordernde Tape-Experimente verwandelt. Nicht alle sind hiervon so begeistert wie ich. Ein Kritiker im Netz beispielsweise konstatiert: "Artistic self-indulgence taken to its logical conclusion." Selbst die Fans hadern mit Tares und Brekkans Entscheidung, und lange Zeit ist "Pullhair Rubeye" im Netz lediglich in einer "korrigierten" Fassung zu finden, die das Album, den Intentionen seiner Macher zum Trotz, vom Kopf auf die Füße stellt. So oft wie dieses Album nunmehr schon vor- und zurückgespult worden sein dürfte, das hat sicher nicht mal "Led Zeppelin IV" in den Händen irgendwelcher evangelikaler Backward-Masking-Gläubiger erlebt.

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buxtebrawler
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von buxtebrawler »

Ganz großartig, Salvatore :lol:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Da ich nunmehr im September noch einmal für zwei Wochen verreise und der virtuellen Welt dabei weitgehend fernzubleiben versuche, muss ich mich ein bisschen sputen, um meine selbstgesteckten Quest bis dahin gemeistert zu haben. Deshalb jetzt schon, quasi zur Einstimmung auf's Wochenende, ein weiterer Limbus mit fünf besonders herzigen Plätzchen, an denen man von all der kalten, kalkulierten, konventionellen Popmusik, mit der man in Supermärkten, Autos von Bekannten oder Telefonhotlinewarteschlangen gemeinhin beschallt wird, erholen und sich infernalisch aufheizen kann, bis das Fell brennt.


40. Tetê Espíndola - Pássaros na Garganta (1982)

Allein, denen bereits die Sangesstimmen von Musikerinnen wie Kate Bush oder Joanna Newsom Probleme bereiten, dürften einen weiten Bogen um die 1954 geborene Brasilianerin Tetê Espíndola machen, zu der der portugiesischsprachige Wikipedia-Artikel bereits im Einleitungssatz vermerkt, sie habe "mais belas e exóticas vozes nacionais", also "eine der schönsten und exotischsten nationalen Stimmen". Was in dieser Hinsicht mit "exotisch" gemeint ist, unterstreicht ihr zweites Soloalbum "Pássaros na Garganta", was übersetzt so viel heißt wie "Vögel in der Kehle" bedeutet. Tetês Kehlenvögel frappieren schon beim ersten, wohl mit Abstand poppigsten Stück "Amor e guavira", das in seinen nicht mal zweieinhalb Minütchen klingt wie eine Kate-Bush-Pastiche, bei der der Weirdness-Faktor im Gesangssektor noch um ein Vielfaches gesteigert wurde. Es folgen 12 weitere, oftmals sehr kurze, fast skizzenhaft anmutende Tracks, die sich instrumental irgendwo zwischen Música Popular Brasileira, Avant Folk und Sertanejo-Gitarrengezupfe einpendeln. Während das musikalische Fundament im Kontext brasilianischer Popmusik der frühen 80er wohl durchaus eigen und stellenweise geradeheraus experimentell genannt werden kann, schießt Tetês Stimme im Sekundentakt den Vogel ab - beziehungsweise, um im Bild des Albumtitels zu bleiben, befreit im Sekundentakt ganze Schiffsladungen bizarrer Piepmätze, die ihre Freude über die wiedergewonnene Freiheit zügellos herausschreien. Zu meinen Highlights zählt neben dem Closer "Sertão", der ganz am Ende dieses wilden Trips plötzlich versöhnliche, fast romantische Töne anschlägt, das erneut nicht mal zwei Minuten lange Stück " Ibiporã", in dem Tetê es tatsächlich schafft, das Meckern einer Ziege zu imitieren, und zwar eines, das ganz tief hinten in der Kehle produziert wird, sodass es außerordentlich heiser, kratzig klingt. Ihren Vögeln bleibt die Künstlerin übrigens treu, wenn sie 1991 mit "Ouvir/Birds" ein Album veröffentlicht, das eine Klangcollage aus Folk-Songs und Aufnahmen von Vogelstimmchen darstellt. Ich bin verliebt.




39. Sergius Golowin - Lord Krishna von Goloka (1973)

Nach Peter Steiner (Platz 49) begegnet uns mit Sergius Golowin ein weiterer naturverbundener Schweizer: Während der zur Milka-Werbefigur avancierte Landwirt Steiner als uriges Original inszeniert wurde, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht, zieht es Golowin in seinem gesamten, hauptsächlich literarischen Schaffen immer wieder auf spirituelle Höhenkämme: Neben Kräuterlehrbüchern, Sagensammlungen und esoterischen Lebensratgebern, die er bis zu seinem Tod 2006 in rauen Mengen verfasst, nimmt der Kauz 1973 für Rolf-Ulrich Kaisers "Kosmische Kuriere" eine einzige LP auf. Unterstützt von in der Krautrockszene klingenden Namen wie Klaus Schulze, Witthüser & Westrupp oder Jürgen Dollase (von der Band "Wallenstein") generiert sich Golowin hier auf insgesamt drei sphärischen Stücken als Verkünder hinduistischer Lebensweisheiten. Mit dem Pathos eines Gurus, dessen monotone Stimme (inklusive starkem Schweizer Akzent) beim Rezitieren endloser Lobpreisungen Krishnas immer kurz davor steht, so tief in den lauschenden Verstand einzudringen, dass die Gehirnwäsche kurz bevorsteht, erzählt er von indischen Mythen, von der Schönheit und Weisheit der achten Inkarnation Vishnus, von der weißen Kuhalm, wo angeblich alle Fäden des Universums zusammenlaufen - während seine Mitmusiker für Klangteppiche sorgen, die zugleich folkig-pastoral oder elektronisch-trippy, und zumeist von entwaffnender Schönheit sind. Das Ganze ist freilich vollkommen ernst gemeint, kennt Ironie nicht mal vom Hörensagen, sodass viele von Golowins einschläfernden Monologen zuweilen nur knapp an unfreiwilliger Komik vorbeischrammen. Immer dann aber, wenn der Camp droht, sich breitzumachen, bezaubert die Begleitmusik, die vor allem im Highlight "Die weiße Alm" klingt, als würden Tangerine Dream den Soundtrak für eine experimentelle Heidi-Neuverfilmung liefern. Auch das kann jedoch nicht verhindern, dass einem spätestens nach einer Viertelstunde die mantraartige Erwähnung des Namens Krishnas gehörig auf die Nerven geht.




38. Milan Knížák: Broken Music (1979)

Was bei einer Veröffentlichung wie Josh Laryeas "Ye tietia wo so" (Platz 43) völlig unbeabsichtigt geschieht, nämlich, dass das Album in einer Version voller akustischer Artefakte auf Streaming-Plattformen hochgeladen wird, sodass man gar von nicht-intendiertem Glitch sprechen kann, haben in der Vergangenheit Soundtüftler freilich bereits ganz bewusst herbeigeführt - so der Erfinder der "Broken Music" Milan Knížák, seines Zeichens Aktionskunst-Pionier aus Prag, der seiner tschechischen Heimat in den 60ern beispielsweise die ersten Fluxus-Aktionen bescherte. Für sein 1979er Album, das er selbstbewusst nach der ihm von ihm entdeckten Methode bislang unerhörter Klangerzeugung benennt, unterzieht Knížák einen Haufen LPs unaussprechlicher Folterqualen: Die Schallplatten werden zerbrochen, neu zusammengeklebt; sie werden extremer Hitze ausgesetzt; sie werden bemalt, beklebt, beschmiert - und landen am Ende, mehr tot als lebendig, auf dem Schallplattenspieler, wo sie lediglich noch zu röchelnden, knarzenden, kreischenden Lautäußerungen fähig sind - unterbrochen von Fetzen der Popmusik und Klassikstücke, die eigentlich auf ihnen enthalten sind. Wenn es eine Hölle für Menschen geben sollte, die Schallplatten übel mitspielen, dann dürfte Knížák ein Plätzchen dort sicher sein.




37. Jacula – Tardo Pede in Magiam Versus (1972)

Das akustische Äquivalent zu einem Italo-Gothic-Horror-Streifen der frühen 70er: Die Affinitäten des Bandprojekts rund um Antonio Bartoccetti und Doris Norton zu Schaurigem jenseits des Hochkulturkanons zeigt allein schon der ausgewählte Name, bezieht der sich doch auf die Titelfigur einer berühmt-berüchtigten, ab 1969 unter der Ladentheke verfügbaren Fumetti-Nera-Serie. Dass sich die Combo redlich müht, eine schauerromantische Stimmung zu evozieren, springt sofort in Auge und Ohr. Die Ingredienzien sind: ein makabares Cover, auf dem zu sehen ist, wie eine rotbekuttete Gestalt sich an einem verwesten Leichnam kulinarisch gütlich tut; endlose Beschwörungslitaneien auf Latein, dazu Mönchsgesänge und eine völlig überstrapazierte Kirchenorgel, die auf mehr als der Hälfte der Tracks das Soundbild dominiert. Das Ergebnis gleicht einer Geisterbahnfahrt: Wirklich markerschütternd ist hier nichts, zuweilen wirken die Schockeffekte reichlich billig, bizarre Unterhaltung kann dem Ganzen trotz oder gerade deswegen nicht abgesprochen werden. Gewissermaßen vertonen Jacula auf "Tardo Pede in Magiam Versus" (zu Deutsch: "Ein langsamer Fuß in Richtung Magie") jenen Moment in einem B-Horrorfilm eurer Wahl, wenn eine Plastikfledermaus am Gummiband von einem Crewmitglied von außerhalb der Kamera vor deren Linse geschwenkt wird: irgendwie knuffig, wie Blap sagen würde. 70 Prozent des Werks bestehen dabei, wie gesagt, einzig und allein aus Kirchenorgelsounds, darunter ein Stück, das mutmaßlich die Aufnahme einer Schwarzen Messe darstellen soll. Auflockerung bieten ein flüchtiges Easy-Listening-Instrumentalstück, das perfekt zur Untermalung einer lesbischen Annäherung in einem italienischen Genrefilm passen würde, sowie ein fast zehnminütiger Beweis dafür, wie lausig das Englisch von Bartoccettis Partnerin Norton ist, die uns derart gebrochen, dass ich mir nur die Hälfte der Worte überhaupt zusammenreimen kann, eine mit Sicherheit sehr unheimliche Geschichte über ein finstres Schloss irgendwo tief in den Wäldern erzählt. Fun Fact am Rande: Laut Eigenaussage von Bartoccetti haben "Jacula" bereits 1969 ein Album mit dem Titel "In Cauda Semper Stat Venenum" aufgenommen, dieses jedoch nie offiziell veröffentlicht, sondern die 300 Pressungen lediglich an Klöster, Sekten und irgendwelche Okultisten verschenkt - meiner Meinung nach eine der durchschaubarsten Finten der Popmusikgeschichte, denn hört man sich die angeblich Anfang der 2000er besorgte Neuauflage des Debüts selbst nur mit halbem Ohr an, wird schnell klar, dass die satten Sabbath-Gitarren, von denen das pausenlose Georgel immer wieder flankiert wird, mit Sicherheit NICHT im Jahre 1969 eingespielt wurden - darauf verwette ich jedenfalls meine Kollektion schwarzmagischer Schabrackentapirtalismane!




36. Randy "Macho Man" Savage - Be a Man (2003)

"In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes", lautet ein berühmtes Diktum Andy Warhols - und, könnte man ergänzen, in diesen sprichwörtlich gewordenen 15 Minutes of Fame bietet sich vielen auch die Möglichkeit, ein Tonstudio zu betreten und ein Album aufzunehmen - selbst wenn die jeweilige Person mit Musik so rein gar nichts am Hut hat. Ein gutes Beispiel ist der US-amerikanische Wrestler Randy "Macho Man" Savage, der im Jahre 2003, 8 Jahre vor seinem tragischen Unfalltod, sein erstes (und letztes) Album droppt. Genretechnisch haben wir es mit besonders testosterongeschwängertem, aggressivem Hip Hop zu tun, untermalt von zahllosen Samples verzerrter Metal-Gitarren, Background-Gesang im Stil von Stadiongegröle sowie Beats, wie sie um die Jahrtausendwende anspruchslosere Großraumdiscos und Collegeparties zum Schwitzen brachten. Dabei beschränkt sich Savage größtenteils darauf, Phrasen wie "Are y'all ready?" oder Stilblüten à la: "Get Back Dude / or I'm a have to bring the pain /
Cuz messin' wit Randy Savage / you're insane in the brain" ins Mikrofon zu brüllen, wobei er krampfhaft versucht, seine Stimme klingen zu lassen, als sei sie ein weiterer seiner exponierten Muskel. Die ungefilterte Maskulinität überwältigt einen allerdings ja bereits angesichts des Albumcovers, dass sich anfühlt wie ein visueller Fausthieb: Savage ist dort leicht angeschrägt zu sehen, wie er grimmig in die Kamera guckt und uns eine Eisenkette präsentiert, die er bestimmt gleich in tausend Stücke zerfetzen wird: Ein Peplum-Heros des 21. Jahrhundert, der seine kurze Zeit als Popstar zwar primär nutzt, um zum Beispiel im Battle Modus gegen Intimfeind Hulk Hogan auszuteilen, der aber vor allem dann unintendierte Höhen erklimmt, wenn er sich ernsteren Themen widmet, und vor allem mit dem Schlusstrack "My Perfect Friend" einem verstorbenen Ring-Buddy ein rühriges Abschiedsständchen widmet.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

35. Mibu Furukawa - Gousarashi (1978)

Der japanische Singer-Songwriter Mibu Furukawa hat, meines Wissens, bislang lediglich 1978 dieses eine Album als Privatpressung veröffentlicht - und es zählt zu den aufwühlendsten Liedermachereien, die jemals mein Ohr herausfordert haben. Zu Anfang braust der Nordwind, mutmaßlich eben jener, wie er auch die Präfektur Aomori weit im Norden des Inselstaats durchpeitscht, aus der Furukawa stammt - eins von vielen Field-Recordings, die immer wieder die insgesamt sieben Songs ummanteln, darunter Babygeschrei, Fetzen traditioneller japanischer Folklore, Frauenstimmen, die klingen, als würden sie im Gebetsrausch heilige Texte rezitieren. Die Instrumentierung ist spärlich, zumeist belässt es Furukawa bei Gitarrengezupfe und Mundharmonika, zuweilen ergänzt eine einsame Trommel die minimalistischen Kompositionen mit monotonem Rhythmus. Eine ausgefeilteres Soundgewand wäre aber wohl auch vielleicht zu viel des Guten gewesen, ist doch Furukawas Sangesstimme das eigentlich Highlight dieses wunderschönen Werks, wie sie von Song zu Song, manchmal auch innerhalb eines einzigen Liedes, ständig zwischen einfühlsamen Intonationen und theatralischem Geschrei hin und her pendelt. Besonders gut fassen Furukawas Kosmos möglicherweise die Tracks 3 und 4 zusammen, die jeweils LP-Seite 1 beschließen und LP-Seite 2 eröffnen: Letzterer ist das mit Abstand hörerfreundlichste Stück des Albums, ein Lagerfeuerohrwurm, der gerade aufgrund Furukawas Mundharmonikaspiels frappant an den jungen Bob Dylan erinnert; ersterer wiederum stellt das mit Abstand sprachlos machendste Stück des Albums dar, bei dem Furukawa sich schon zu Beginn voller Inbrunst die Seele aus dem Leib brüllt, und dann, wenn man denkt, dass menschliche Stimmbänder eigentlich längst zerrissen sein müssten, in den letzten paar Minuten zu einem hysterischen Falsetto wechselt, das ich, ehrlich gesagt, bislang einzig von manchem Film Andrej Zulawskis kenne, wenn der polnische Regisseur seinen Cast zu Schauspiel am Rande des Nervenzusammenbruchs anstachelt. Am Ende dann erneut minutenlanges Sturmbrausen - und Mibu Furukawa verstummt, nachdem er der Welt wenigstens ein Meisterwerk geschenkt hat.




34. Áine O'Dwyer - Music for Church Cleaners Vol. I and II (2015)

Was passiert eigentlich in Gotteshäusern, wenn die Transsubstantation vollzogen, wenn die Messe gelesen, wenn der Heilige Geist versprüht worden ist, und sich die Gläubigen aus dem sakralen Raum in den profanen verzogen haben? Darauf hat die irische Soundtüflterin Áine O'Dwyer eine Antwort, die 2015 in zwei Teilen und mit insgesamt eineinhalb Stunden Laufzeit veröffentlicht wird. Einmal mehr fasziniert mich zuallererst das Konzept: O'Dwyer setzt sich an die Kirchenorgel, improvisiert vor sich hin, während um sie herum das Reinigungspersonal seine Arbeit verrichtet, die Böden schrubbt, die Beichstühle abstaubt, unter den Bänken nach zurückgelassenen Habseligkeiten der Kirchenbesucher schaut. Nach dem ganzen Brimborium des amtlichen Gottesdienstes versüßt die Musikerin den monotonen Arbeitsalltag des untersten Bodenpersonals des Herrn mit hypnotischen, atmosphärischen, meditativen Klängen, und wir, quasi auf eine Meta-Ebene versetzt, hören zeitgleich beides: Das, was O'Dwyer der Orgel an dröhnenden Soundlandschaften entlockt, und die Schritte, das Husten, die Kehrgeräusche der Reinigungskräfte, was das akustische Triptychon zu einer ganz faszinierenden Mischung aus Church Music und Field Recordings macht.




33. Yasunao Tone: Solo for Wounded CD (1997)

Wenn Milan Knížák (Platz 38) der Schrecken analoger Schallplatten ist, dann handelt es sich bei Yasunao Tone um den Alptraum jeder Compact Disc. "I called my audiophile friend, who owned a Swiss-made CD player, and asked him about it. It was a simpler method than I suspected. I bought a copy of Debussy’s Preludes and brought it to my friend’s place. By his engineer friend’s suggestion, we simply made many pinholes on its of Scotch tape and stuck it on the bottom of a CD. I had many trials and errors. I was pleased [with] the result, because the CD player behaved frantically and out of control. [It] was a perfect device for performance", erklärt der Klangkünstler die simple, aber effektive Methode, mit der er seit Mitte der 80er unerhörte Sounds aus handelsüblichen Compact Discs hervorkitzelt. Sein 1997 veröffentlichtes Album "Solo for Wounded CD" ist eben genau das: Das Wehgeschrei von CDs, die Tone mit perforiertem Tesafilm beklebt hat, sodass das Abspielgerät nicht die eigentlich auf den Tonträgern enthaltene klassische oder populäre Musik abspielt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes durchdreht, und klangliche Verzerrungen am laufenden Band produziert. Eine Ikone der experimentellen Musik wie John Cage ist begeistert von Tones Entdeckung; die restliche Weltbevölkerung dürften die 50 Minuten Spielzeit von "Solo for Wounded CD" sich kaum jemals zum Genuss am Stück angehört haben - mich eingeschlossen...




32. Raymond Scott - Soothing Sounds for Baby Vol. 1-3 (1962)

Frischgebackene Eltern kennen das Problem: Der Nachwuchs mag einfach nicht zur Ruhe kommen, schreit unablässig, und kaum ist er eingeschlafen und man hat ihn in die Wiege gelegt, verzerrt sich das Frätzchen schon wieder zu markerschütterndem Geheul. Es ist das dezidierte Anliegen des US-amerikanische Komponisten und Erfinders von elektronischen Musikinstrumenten Raymond Scott (1908-1994) in solchen Situationen Abhilfe zu schaffen. Sein Antidot, das 1962 in Zusammenarbeit mit dem Gesell Institute of Human Development herausgegeben wird, hört auf den Titel "Soothing Sounds for Baby" und setzt sich aus drei Alben zusammen, die in drei Altersgruppen unterteilt sind: Vol. 1 ist gedacht für Kinder von 1 bis 6 Monaten; Vol. 2 soll zwischen 6 und 12 Monaten für Ruhe sorgen; Vol. 3 schließlich deckt die Zeitspanne bis zum 18. Monat ab - wobei die Klänge, die Scott seinen bereits erwähnten selbst entwickelten archaischen Synthesizern wie dem sogenannten Electronium entlockt, mit jedem Album komplexer, man könnte auch sagen: experimenteller, werden. Empirische Beweise dafür, dass Scotts Pionierarbeiten im Feld der elektronischen Musik tatsächlich Babylider in Windeseile schwer werden lassen, konnte ich bislang nirgends finden, dafür kann ich mir aber vorstellen, dass, selbst wenn der Säugling irgendwann selig schlummert, bis dahin die Eltern von den stellenweise arg strapaziösen Stücken noch den letzten Nerv abgetötet bekommen haben. "Soothing Sound for Baby Vol. 1" beginnt beispielsweise noch recht harmlos mit "Lullaby", einer elektronisch verfremdeten Fassung des Liedchens "Schlaf, Kindlein, schlaf", das sich für mich jedoch durch den schummrigen Sound von Scotts Synthies anhört, als würde man auf einem Acid-Trip durch eine Geisterbahn stolpern; den Endpunkt des Albums bildet wiederum mit "Tic Toc" eine achtminütige Komposition, die einzig und allein aus zwei Tönen besteht, die im Zusammenspiel das Geräusch einer tickenden Uhr imitieren: Tic, Toc; Tic-Toc; Tic-Toc - mal lauter, mal leiser werdend, immer aber enervierend und unangenehm schrill. Werbematerial für Scotts Trilogie zeigt übrigens, unter anderem, eine Bildcollage, in der der Kopf eines grinsenden Babys von den Soundwellen aus Scotts musikalischen Innovationen regelrecht durchbohrt wird. Wie gesagt: Ich zweifle stark, dass das Experiment funktioniert wie intendiert, werde es aber wohl bald selbst zur Genüge als Feldstudie ausprobieren können.




31. Jingle Cats - Meowy Christmas (1993)

Würde man meine Mutter nach dem schlimmsten Album der Popmusikhistorie fragen, würde sie sicher dieses Machwerk anführen - und zwar, weil ihr Teenagersohn es sich nicht nehmen ließ, die CD alljährlich zu Weihnachten in den Player wandern zu lassen. Verantwortlich für das Projekt ist ein gewisser Mike Spalla, dem Gott weiß welcher Geist einflüsterte, es sei eine gute Idee, ein Album voller traditioneller Weihnachtssongs wie "Silent Night", "Go Tell It On The Mountain" oder "Oh Christmas Tree" von Katzen trällern zu lassen. Das heißt, die Miezen singen natürlich nicht selbst, vielmehr hat Spalla eine Kollektion an Cat Sounds erworben, die er dann so montiert und manipuliert, dass die einzelnen Maunzer mit (absolut billigen) instrumentalen Karaoke-Fassungen der genannten Christmas Carols harmonieren. Wobei Harmonie in diesem Fall natürlich eine Frage des Geschmacks ist, denn die meisten Menschen dürften schon nach dem Eröffnungsstück "Silent Night" das Handtuch werfen. Wenn im weiteren Verlauf des Ganzen dann auch noch Hundelaute hinzugemischt werden, dürfte das, zusammen mit der Laufzeit von knapp 50 Minuten, manchem die Festtage durchaus verhageln. Erfolgreich scheinen die "Jingle Cats" aber dennoch (oder gerade deswegen?) gewesen zu sein, denn es folgen nicht nur weitere CD-Veröffentlichungen mit Titeln wie "Here Comes Santa Claws", auch die eigentlich vollkommen konzeptfremden Hündchen bekommen ein eigenes Spin-Off, und treiben, wenig originell, fortan als "Jingle Dogs" ihr Unwesen, um die angeblich stillste Zeit des Jahres in eine Kakophonie zu verwandeln.

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