
Gegen die Wand
„Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken!“
Das Migrations- und Liebesdrama „Gegen die Wand“ aus dem Jahre 2004 bedeutete den Durchbruch für den Hamburger Regisseur Fatih Akin („Solino“). Akin vermischte europäisches und Hollywood-Erzählkino miteinander, sorgte für Hamburger Lokalkolorit und verfilmte sein eigenes Drehbuch, das eine sehr individuelle und doch in gewisser Hinsicht universelle Liebesgeschichte zwischen Emanzipation vom Zuhause und dessen Erwartungen, Selbstzerstörung und Selbstfindung ist, in einem Drama in fünf Akten.
Der verwitwete 40-jährige Deutschtürke Cahit (Birol Ünel, „Duell – Enemy at the Gates“) ist fertig mit sich und seinem Leben, liegt nach Alkohol- und Drogenexzessen und einem Selbstmordversuch in einem Hamburger Krankenhaus. Sibel (Sibel Kekilli, „Kebab Connection“) ist eine ebenfalls in Hamburg aufgewachsene Deutschtürkin, aber nur halb so alt wie Cahit. Sie versuchte, das Leben in vollen Zügen zu genießen, verzweifelt jedoch an der Erwartungshaltung ihrer erzkonservativen, gläubigen Familie – was sie ebenfalls in einen Suizidversuch trieb. Nun lernen die beiden sich auf der Krankenhausstation kennen. Sibel sieht eine Chance, ihrer Familie zu entkommen, darin, dass Cahit sie ehelicht. Nach einigen Überlegungen willigt Cahit ein, beide ziehen zusammen. Sibel genießt die Freiheiten, die ihre Scheinehe für sie mit sich bringt – bis Cahit sich eingestehen muss, tatsächlich zärtliche Gefühle für Sibel zu entwickeln…
Seinen vornehmlich in „seinem“ Hamburg spielenden Film eröffnet Akin mit einer Musikeinlage der türkischen Folkloregruppe Selim Seslers, die sie in Istanbul unter freiem Himmel zum Besten geben. Dies ist offenbar bewusst kitschig visualisiert, das musikalische Thema wird den Film hindurch wiederholt aufgegriffen werden. Ein abrupter Szenenwechsel führt nach Hamburg-Altona zum Veranstaltungszentrum „Fabrik“, bevor es ins Krankenhaus nach Ochsenzoll geht. Sibel steht unter dem Zwang ihrer Familie, ihr ehrloser Bastard von Bruder (gespielt von Fatih Akins Bruder Cem), droht ihr gar mit „Ehrenmord“. Ihre Familie verabscheut alles Westliche, außer dessen Geld. Fatih Akin scheut sich also ganz und gar nicht, der eigenen „Community“, wenn man es so nennen will, ans Bein zu pinkeln. Auch bei Sibel und Cahit handelt es sich um ambivalente Charaktere; Akins Verständnis für Menschen ohne festen Halt im Leben führt zu einer differenzierten Figurenzeichnung.
Damit, dass eben diese sich nach ihrer Heirat doch noch ineinander verlieben, beginnen andere Probleme. Die grobe Struktur des Films kennt die Phase der Emanzipation Sibels und ihrer Scheinhochzeit – und alles danach. Sibels Entscheidung, sich eine Kurzhaarfrisur zuzulegen, markiert diesen Übergang. Sie fungiert auch als Sprecherin aus dem Off und ist die Hauptfigur eines Films, der viel männliche, sexistische Übergriffigkeit und Gewalt zeigt und damit verdammt wütend macht. Nachdem sich die Handlung nach Istanbul verlagert hat, wird Sibel im Suffkoma vergewaltigt und beinahe umgebracht. Meine Dozentin sagte dazu, Sibel verhalte sich wie ein Mann und provoziere dadurch aufs Äußerste. Dies sei überall auf der Welt tödlich. Womit sie vermutlich Recht hat. Dies sind die heftigsten Szenen des Films, die zugleich vermitteln, dass es sich um eine Art perverser Normalität handelt. „Gegen die Wand“ ist hart und nervt damit, stört, rüttelt auf. Gut so.
Und „Gegen die Wand“ ist inszenatorisch dabei sehr gut gemacht, entwickelt eine Sogwirkung auf sein Publikum, auch auf ein möglicherweise zunächst skeptisches. Die Kamera ist sehr nah an den Figuren und arbeitet mit Zooms, die Musik kann stets als Kommentar zur Handlung verstanden werden. Der Film ist urban, realistisch und spröde, zeigt Frau und Mann in natürlicher Nacktheit, sowohl körperlich als auch emotional. Ihr Hang zur Selbstzerstörung wird in einen Kontext eingebettet, der ein typischer des migrantischen Films ist, dem Akin damit aber neue Facetten hinzufügt und so weit geht wie vermutlich kein deutscher bzw. deutsch-türkischer Filmemacher zuvor – ohne es dabei auf einen Krawallfilm anzulegen. Die ehemalige Pornodarstellerin Sibel Kekilli wechselte mit „Gegen die Wand“ ins seriöse Fach, was sich als absoluter Glücksgriff erwies. Vermutlich ermöglichte ihr die eine oder andere Parallele zwischen ihr und ihrer Rolle ein besonders glaubwürdiges Spiel. In Birol Ünel (R.I.P.) fand sie einen Schauspielpartner, bei dem es sich offenbar ähnlich verhielt. Das halboffene Ende kann unterschiedlich aufgefasst werden – ob es sich um ein Happy End handelt oder nicht, bleibt Auslegungssache.
Fatih Akins Drama ist ein intensiver, beeindruckender Film, der auf der Berlinale sogar mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, womit er in Volker Schlöndorffs Fußstapfen trat. Dieser Film hat den Blick auf Deutschland als Filmland zum Positiven verändert.