Was vom Tage übrigblieb ...

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Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Manipulation (Pascal Verdosci, 2011) 7/10

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Im November 1956 beendete die Sowjetunion den ungarischen Volksaufstand durch den Einsatz von Panzern. Ganz Europa hatte anschließend Angst, dass „die Russen kommen“ und sich auch andere Länder einverleiben. In der Schweiz ging die Angst so weit, dass das kleine und unabhängige Land ein eigenes Atomwaffenprogramm auflegte. Soweit die Historie.
In der Fiktion nimmt die Schweizer Bundespolizei, Abteilung Antispionage und Abwehr, kurz darauf einen einheimischen Journalisten fest, Werner Eiselin, und zwar unter dem dringenden Tatverdacht der Spionage für die Sowjetunion. Der Beweis ist ein Foto, auf dem zu sehen ist, dass Eiselin auf dem Roten Platz Dokumente von einem sowjetischen Verbindungsoffizier erhält. Dem ermittelnden Kommissar Rappold wird dieses Bild von einem externen Mitarbeiter der Abwehr zugespielt, Major Harry Windt. Eiselin leugnet, natürlich, und nach 33 Tagen in Haft und 68 Verhören, ohne Kontakt zu seiner Frau, überhaupt ohne Kontakt zur Außenwelt, in Isolationshaft und ohne Anwalt, erschießt sich Eiselin in Rappolds Büro.
Jetzt, ein Jahr später, taucht plötzlich das Schweizer Atomwaffenprogramm in der sowjetischen Prawda auf. Zum Teil sogar wortgetreu. Und es taucht ein Film auf, auf dem zu sehen ist, dass Major Harry Windt, ehrenvolles Mitglied der Schweizer Wehrgesellschaft und gut befreundet mit dem kompletten Offiziersstab von Heer und Abwehr, dass dieser Major Windt, der beruflich Public Relation-Kampagnen für das Schweizer Heer und für Politiker durchführt, dass besagter Major Windt Dokumente an einen russischen Verbindungsoffizier weitergibt. Vier Tage, bevor die Prawda das besagte Atomwaffenprogramm abdruckt. Hauptkommissar Rappold soll ermitteln. Er lässt Major Harry Windt verhaften, und hat damit sofort und automatisch die gesamte Spitze von Heer und Abwehr gegen sich. Seinen Vorgesetzten, seine Vertrauten, alle sind gegen ihn. Denn Harry Windt ist so etwas wie das militärische Gegenstück zu einem Popstar. Ein Mann der die Wahrheit und die Aufrichtigkeit gepachtet hat. Bis er seine Version der Geschichte erzählt …

Zu viel darf man nicht über MANIPULATION wissen, und ich stelle mal die Behauptung in den Raum, dass die obige Inhaltsangabe knapp die Hälfte des Filmes darstellt. Die eher vorhersehbarere Hälfte. Und über die andere Hälfte mag ich nichts erzählen … Nur so viel, dass sie einige, nun ja, nicht vorhersehbare Ereignisse enthält.

Tatsächlich ist MANIPULATION ein fieser und hinterfotziger Thriller, der in seiner Machart erstaunlich altbacken wirkt, in seiner Wirkung hingegen hochmodern ist. Wir verlassen das Büro Rappolds nur für ein paar kurze Aufnahmen, aber eigentlich könnte man auch von einem Theaterstück reden, so fixiert scheint der Film auf das Büro und den Verhörraum. Hier, im Herzen einer erstarrten und unbeweglichen Bürokratie, entscheidet sich das Schicksal freier Menschen. Eines Journalisten, der aus Versehen in Spionageverdacht gerät und auch in einer modernen Vorzeigedemokratie damit aller(!) seiner Bürgerrechte verlustig geht. Eines PR-Beraters, der ebenfalls der Spionage verdächtigt wird, aber intelligenter und trickreicher scheint als der Journalist. Eines Abwehroffiziers und Verhörspezialisten, der an seiner eigenen Wahrnehmung zweifelt und an der Realität scheitert. Dies ist die eine Hälfte der Wahrheit(?), die andere Hälfte ist das grandiose Spiel vor allem Sebastian Kochs als Harry Windt. Was Koch an kleinen und kaum merkbaren Spitzen heraushaut, wie er den Zuschauer und auch Rappold foppt, die Wahrheit(?) andeutet, die Lüge kultiviert, und damit jeden aufs Glatteis führt, das ist über alle Maßen sehenswert und geradezu überwältigend. Vor allem im Hinblick darauf, wie sich nach dem Ende des Films die Puzzleteile zusammenfügen und ein Bild ergeben, das eigentlich dazu führt, dass man sich den Film noch einmal anschauen müsste, um die kleinen Hinweise und Spitzfindigkeiten erst richtig schätzen zu lernen. Wie DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, nur kälter. Realistischer. Böser.

MANIPULATION ist ein trickreiches Spiel mit Lüge und Wahrheit, und die Inszenierung steht dem in Nichts nach. Wir sehen Bilder und hören dazu die Töne einer anderen Szene, Rückblenden können natürlich visuell ausfallen, aber auch rein akustisch sein. Wir sind in Rappolds Kopf und nehmen dergestalt seine Erinnerungen wahr, versuchen sie einzuordnen und die eine, die wesentliche, die übersehene Information daraus zu ziehen. War Eiselin ein Kommunist? Oder ein Bauernopfer in einem viel größeren Spiel? Was stellt Windt dar? Einen raffinierten Spion? Oder einen Kleinkriminellen, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die Chance seines Lebens ergriffen hat? Und überhaupt: Manipulation – Wer manipuliert hier wen? Manipuliert Rappold Eiselin, wenn er ihm im Verhör etwas vorlügt? Oder manipuliert Windt Rappold, wenn er ihm die Wahrheit erzählt? MANIPULATION ist eine Scharade, deren Fazit es ist, um Himmels Willen nicht alles zu glauben was in den Medien steht – Eine Schlussfolgerung, die heutzutage aktueller scheint denn je: Was ist in einer durchschnittlichen Nachrichtensendung die Wahrheit? Und was eine Lüge? Und welche „Meldung“ kann in einem sogenannten Sozialen Medium mit diesen Begriffen belegt werden? Der Film ist also nicht nur ein schlauer und ausgefuchster Thriller, sondern gleichzeitig auch eine Lehrstunde in Sachen Moral, aber auch und vor allem in Sachen Wahrnehmung und Wahrheit. Was immer man unter dem Begriff Wahrheit verstehen mag. Und gerade wegen der völligen Absenz von Actionszenen ist MANIPULATION allen schwerstens empfohlen, denen gutes Storytelling und intelligente Skripts im Film auch heute noch wichtig sind. Was keine Lüge ist. Oder?
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Dr. Crippen an Bord (Erich Engels, 1942) 6/10

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Was mich an DR. CRIPPEN AN BORD so unglaublich irritiert ist diese strikte Dreiteilung der Narration: Drei etwa gleichlange Teile, die jeweils einen Teil der zusammenhängenden Geschichte behandeln, aber mit Abstrichen auch für sich und als Kurzfilm stehen könnten.

Teil 1: Ouvertüre. Die Ehefrau von Dr. Crippen, die erfolgreiche Artistin Cora Crippen, erfährt, dass sie aufgrund einer Verletzung nie wieder auftreten können wird. Ihr Verehrer Dr. Morrison, ein Verwandlungskünstler beim Varieté, ist derjenige, der ihr diese Mitteilung macht, und er fügt wie selbstverständlich auch hinzu, dass Dr. Crippen selber dies bereits weiß. Jeder weiß es, nur sie nicht. Cora ist schwer getroffen und lässt sich von ihrem liebenden Ehemann einen Tee machen. Am nächsten Tag heißt es, dass Cora Crippen ihren Mann verlassen hat, um in Rio de Janeiro einen anderen zu heiraten. Dr. Crippen selber ist mit den Nerven am Ende, doch ein junger Künstler, der Cora eigentlich malen wollte und mit ihr verabredet war, schluckt die Geschichte nicht und geht zur Polizei. Inspektor Düwell glaubt dem jungen Mann und stochert selber bei Crippen herum. Mit dem Erfolg, dass Crippen und seine Geliebte Lucie Talbot von heute auf morgen spurlos verschwinden.

Teil 2: Die Titelstory. An Bord des Dampfers Montrose nach Venezuela haben unter anderem ein Reverend und sein Sohn eingecheckt. Der pfiffige Steward Petersson erkennt in dem Reverend den mittlerweile weltweit gesuchten Dr. Crippen wieder, und vergewissert sich auch, dass der Sohn in Wirklichkeit eine Frau ist (wie er das macht, das verrate ich jetzt nicht. Aber die Idee ist genial!). Ein Funkspruch an die Polizei, und sofort bewegt sich Inspektor Düwell in Richtung Südamerika, um den Dampfer vor der Dreimeilenzone noch aufzuhalten. Crippen aber ist kein Dummkopf und merkt, dass sich an Bord einiges verändert, und dass sich das Netz um ihn herum zuzieht. Er versucht unterzutauchen und dem Zugriff des Inspektors zu entgehen.

Teil 3: Apotheose. Zurück in der Heimat wird Dr. Crippen der Prozess gemacht. Der Verteidiger holt aus dem Fall heraus was nur möglich ist, und er geht sogar soweit, einen weiteren dringend Tatverdächtigen zu präsentieren, nämlich Dr. Morrison, den Verwandlungskünstler. Wer war jetzt wirklich der Mörder der armen Cora Crippen?

Wie gesagt, drei deutlich voneinander getrennte Teile. Zuerst befinden wir uns in der gehobenen Bürgerschicht, mit gut geführtem Haus und entsprechendem Dienstmädchen, und schauen gleichzeitig der Polizei bei ihrer Arbeit zu. Teil 2 hat zwar auch die Polizei zum Akteur, aber eigentlich ist das Schiff die Bühne für die Geschichte. Und Teil 3 verlässt den Gerichtssaal gar nicht mehr. Der Erzählfluss ist dadurch nicht ganz so stringent wie man es heute gewohnt ist, und auch die Spannung leidet ein klein wenig. Denn spannend ist der Film prinzipiell schon, oh ja. Die Frage nach dem Mörder wird vor allem im letzten Drittel dank der Schauspielkunst Paul Dahlkes als Verteidiger von Grund auf neu verhandelt, und als Zuschauer kommt man gar nicht umhin, die Schuld Crippens glatterdings abzulehnen und sich auf den aalglatten und unsympathischen Morrison (O.E. Hasse) zu stürzen.

Überhaupt sind es die Schauspieler, die der etwas mühsam erzählten Geschichte ihr Leben einhauchen. Rudolf Fernau ist als Dr. Crippen theatralisch und eiskalt, immer höflich aber distanziert, immer absolut undurchschaubar. Ein Mörder wie man ihn sich besser kaum vorstellen kann. Wenn er denn der Mörder ist. Daneben René Deltgen als Inspektor Düwell, nur echt im Doppelpack mit seinem gefühlt doppelt so großen Assistenten Michels. Deltgen ist hemdsärmelig und steht mit beiden Beinen voll im Leben. Seine Ausstrahlung ist die eines Klaus Löwitsch – Aggressiv, engagiert, voller Leben und voller Gefühle. Das perfekte Gegenstück zu dem kühlen Fernau. Nicht ganz so überzeugend sind dann Figuren wie der Steward Petersson oder der Apotheker Harras – Interessante und schräge Rollen, die aber in ihrer Anlage leider alles etwas ins Komische ziehen, und damit ein Gegengewicht zur Spannung aufbauen, was vor allem auf dem Schiff viel Substanz herausnimmt und das zweite Drittel öfters mal zu einer Eine Seefahrt die ist lustig-Farce mutieren lässt.

Aber insgesamt ist DR. CRIPPEN AN BORD spannend, und er ist in seiner ganzen Machart ein Film, den ich eher in den 50er-Jahren verortet hätte als in den frühen 40er-Jahren, wo ein so modern erzählter Kriminalfall doch eher eine Seltenheit war. Entsprechend wurde der Film 1943 ein großer Erfolg beim Publikum, der eine Menge Geld einspielte und gute Kritiken einfuhr. Vielleicht sollte ich also nicht so streng sein mit dem Film, denn wenn ich in der Wikipedia über den Fall des Dr. Crippen lese fällt schnell auf, dass sich das Drehbuch sehr stark am Originalfall orientiert. Und während ich darüber nachdenke fällt mir weiter auf, dass der Film eigentlich gar nicht schlecht ist. Und dass diese Dreiteilung auch ihren Reiz hat, jedenfalls können alle Aspekte der Story mit der gleichen Intensität behandelt werden. Sehenswert ist er also auf jeden Fall. Wie sehenswert, das liegt wie so oft im Auge des Betrachters …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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