Memories of a Lifetime - Mario Salieri (1992)

Alles aus Italien, was nicht in die anderen Themenbereiche gehört.

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 2992
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Memories of a Lifetime - Mario Salieri (1992)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

memories-of-a-lifetime.jpg
memories-of-a-lifetime.jpg (107.27 KiB) 242 mal betrachtet

Originaltitel: Tutta una vita

Produktionsland: Italien 1992

Regie: Mario Salieri

Cast: Angelica Bella, Deborah Wells, Zara Whites, Sarah Young, Letizia Stovinsky, Isabelle Adorata, Mario De Sica, Christoph Clark


Abt.: Dem Arkadin sei Dank!

Italien im Zweiten Weltkrieg: Relativ abgeschieden von den Verwerfungen der großen Metropolen lebt eine bäuerliche Familie ihr einfaches Leben irgendwo im Hinterland. Der Vater ist ein ausgemachter Hasenfuß, der schon vom Stuhl fällt, wenn sich ein Auto auf der Landstraße nähert, aus Angst, es könne sich um Wehrmachtssoldaten handeln; die Mutter scheint schon lange das Zeitliche gesegnet zu haben; die bereits erwachsenen Kinder, zwei Mädchen und ein Bub, hoffen auf das baldige Ende des Krieges und die Befreiung ihres Heimatlandes vom Joch des Faschismus. Dann aber wird unsere dem Duce mindestens kritisch gegenüberstehende Familie doch in die Weltpolitik hineingezerrt: Ein Onkel in Rom ist seit jeher ein glühender Verehrer Mussolinis und überzeugter Kollaborateur mit den Deutschen. Nun aber, wo die Alliierten näher und näher rücken, wird diesem das Pflaster in der Hauptstadt zu heiß. So lange soll er bei seinen ruralen Verwandten versteckt werden, bis, wovon seine Parteigenossen ausgehen, die Amerikaner flächendeckend zurückgeschlagen sind. Freilich gefällt dem ängstlichen Familienoberhaupt die Vorstellung kein bisschen, seinen politisch so ganz aus der Art geschlagenen Bruder bei sich zu beherbergen. Doch was bleibt ihm übrig, wenn ihm ein deutscher Offizier diesen Plan quasi als Befehl mitteilt. Dass der Zuzug des Schwarzhemds in die eher rot getünchte Gemeinschaft nicht ohne Konflikte vonstattengeht, dürfte klar sein. Verkompliziert wird die Lage allerdings noch dadurch, dass eine der Töchter, Cuchora, einen mit seinem Flugzeug abgestürzten Soldaten der US-Army im Heuboden versteckt hält, auf den sie mehr als nur ein Auge geworfen hat. Als der Onkel, der seine greisen Finger übrigens kaum einmal von den beiden Töchtern des Hauses lassen kann, davon Wind bekommt, zaudert er natürlich nicht lange und verrät den blinden Passagier an die Wehrmacht. Doch nicht nur der Augenstern Cuchoras wird alsbald abgeholt, auch ihr Vater und ihr Bruder, die sich gerade auf dem Nachhauseweg befinden, erhalten von einem Trupp Deutschen die zweifelhafte Einladung auf eine Spritztour – und werden danach nicht mehr gesehen. Cuchora findet Zuflucht bei weiteren Verwandten, ihre Schwester verschlägt es nach Rom. Jahre ziehen ins Land, die Wehrmacht zieht ab, dafür hissen die Alliierten ihre Fahnen über Italien. In der Nachkriegszeit trifft Cuchora erneut auf ihren Onkel Mario, der sich bestens an die neuen Verhältnisse angepasst hat und als erfolgreicher, nunmehr demokratischer Politiker in einem prächtigen Palazzo haust. Als sie zufällig erfährt, dass er es gewesen ist, der ihre große Liebe ans Messer lieferte, beschließt sie, sich an ihrem verhassten Verwandten bitter zu rächen…

Na, auf das Konto welches Neorealisten wird dieses Kriegsdrama wohl gehen? Ist es etwa ein vergessener Rossellini? Haben Giuseppe de Santis oder Vittorio de Sica ihre Finger im Spiel? Oder werden wir bei Cesare Zavattini oder Alberto Lattuada fündig? Mitnichten. Der Regisseur dieses Films heißt Mario Salieri, produziert wird der Streifen in den frühen 90ern und trotz seines Plots, dessen Komplexität ich in meiner obigen Inhaltsangabe nicht ansatzweise gerecht geworden bin, handelt es sich in erster Linie um einen – Hardcore-Porno.

Beim Italienischen Neorealismus gibt es für mich, so sehr positiv ich dieser filmhistorisch immens wichtigen Strömung gegenüberstehe, seit jeher eine extreme Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Neorealismus, das sollen keine erfundenen Geschichten sein, sondern die vorgefundene Realität, so erzählt, als würde es sich um eine Geschichte handeln. Neorealismus will nicht inszenieren, nicht dramatisieren, nicht dem Geschmack des Publikums entsprechen. Aber zum einen ist es diesem Publikum ja relativ gleichgültig, ob es nun einen Film sieht, der eine dokumentarische Wirklichkeit in ein Drehbuch verwandelt hat, oder einen Film, dessen Drehbuch sich eines dokumentarischen Settings bedient. Und zum andern würde das das Ende des Kinos bedeuten, wenn man jedweden Plot, jedwede Inszenierung über Bord werfen würde. Schon wenn ich mich entscheide, die Kamera hier und nicht dort aufzubauen, tue ich genau das: Ich inszeniere, ich picke mir eine Möglichkeit heraus, ich "verfälsche". So groß die Meisterwerke von de Sica, Visconti oder Rossellini auch sind: Sie alle haben ein Skript, dem sie folgen; sie alle sind in erster Linie Erzählkino und dann erst unmittelbare Wahrheit; sie alle lassen, (was mich schon immer irritiert hat), auf ihren Tonspuren ganze Orchester aufspielen, als wollten sie mir genau erklären, welche Emotionen ich in welcher Szene verspüren soll, wo es doch selten vorkommt, dass wir in unserer Leben von extradiegetischen Klangteppichen begleitet werden.

Auch bei Mario Salieri scheint mir, - zumindest, wenn man TUTTA UNA VITA in den Blick nimmt -, eine krasse Kluft zu klaffen: Der Mann ist Porno-Regisseur. Er sollte daran interessiert sein, mir so viele abwechslungsreiche Sexszenen vorzuführen wie möglich. Was tut er stattdessen? Er taucht tief ab in die jüngere italienische Historie, erzählt eine verästelte Familiengeschichte über mehrere Jahre hinweg, lässt sogar weit über eine halbe Stunde Laufzeit verstreichen, bevor es überhaupt zum ersten nennenswerten sexuellen Stelldichein kommt. Es würde mich nicht wundern, wenn der gemeine Pornokonsument bis dahin längst vorgespult oder den Aus-Knopf gedrückt hat, weil ihn die endlosen Dialogszenen kein bisschen interessieren. Ich kann mich nicht entscheiden: Ist TUTTA UNA VITA ein seriöses Drama, dem Salieri deshalb ein paar Sexszenen angeheftet hat, um den Film besser (oder überhaupt) vermarkten zu können? Oder ist TUTTA UNA VITA in erster Linie ein Porno, der versucht, etwas Abwechslung in seine monotone Abfolge aus Balzakten zu bringen, indem er sich anspruchsvollem Narrationskino annähert? Eigentlich tendiere ich zu ersterem: Über weite Strecken – (erneut: die erste halbe Stunde!) – kümmern Salieri die Reize seiner Actricen wenig und er schildert in epischer Breite die Struktur innerhalb der zentralen Familie, die Machenschaften des lüsternen Onkel Mario, die zart-romantische Liebe zwischen dem US-Soldaten und Cuchora, (die bezeichnenderweise in keiner einzigen Hardcore-Sequenz gipfelt!) Völlig ohne Ironie sage ich: Wäre Salieri ein Regisseur im Fahrwasser der Neorealisten Mitte der 40er gewesen und hätte er seinerzeit sein Drehbuch auf die große Leinwand bringen können, hätte vielleicht auch TUTTA UNA VITA das Zeug zu einem Klassiker gehabt.

Aber wir sind nicht in den 40ern, sondern im Videotheken-Sumpf der 90er, und dort herrschen allein budgettechnisch und ästhetisch ganz andere Bedingungen. Obwohl Salieri sich um eine geschmackvolle Beleuchtung und wechselvolle Schauplätze bemüht: Man sieht TUTTA UNA VITA an allen Ecken und Enden an, was der primäre Kontext dieser Produktion gewesen sein muss. Inszenatorisch wirkt der Film in seinen besten Momenten wie eine geschwätzige Telenovela; in seinen schlimmsten sieht er eben aus wie ein Porno, der völlig aus dem Blickfeld verloren hat, worauf er sich eigentlich hätte versteifen sollen. Romaneske Handlung und graphisches Kopulieren harmonieren kaum einmal miteinander: Entweder schiebt sich die Story mit ihrem langen Atem eines naturalistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert störend zwischen die Porno-Szenen, oder aber die Geschlechtsakte hemmen den Handlungsfluss. Einige Entgleisungen Salieris wiederum kann man sicher nicht mit Geldfragen entschuldigen: Weshalb er einige Sex-Akte mit deplatziertem Techno untermalt, beispielweise. Oder weshalb er selbst Vergewaltigungsszenen, wenn unserer Heldin und ihrer Schwester zum Beispiel ein deutscher Soldat übel mitspielt, in Szene setzt, als würde jede der Beteiligten gerade den Orgasmus ihres Lebens durchleiden. Auch wirkt das letzte Drittel sehr gehetzt und versehen mit mehr narrativen Kapriolen als mein Verstand fassen konnte: Wer da nun gegen wen integriert und wer wen heiratet und wer mit Onkel Mario weshalb genau welches Hühnchen zu rupfen hat, erschloss sich mir ebenso wenig wie die sehr aufgesetzte Rahmung des Films mit Epilog und Prolog, die der Liebe zwischen Cuchora und ihrem US-Boy dann doch noch ein kitschiges Happy End beschert.

Fasziniert hat mich TUTTA UNA VITA aber gerade wegen all dieser Heterogenitäten, die den Film an seinem eigenen Anspruch scheitern lassen – ebenso faszinierend wie Meisterstücke à la LADRI DI BICICLETTE, RISO AMARO oder OSSESSIONE, in deren Brüste gleichfalls zwei Herzen schlagen: Ein laut pulsierendes, das die Welt befreit von den Konventionen des bisherigen Kinos zeigen möchte; und ein leise pochendes, das einige dieser Konventionen dann doch wieder durch die Hintertür hereinbittet.
Antworten