1860 - Alessandro Blasetti (1934)

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Salvatore Baccaro
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1860 - Alessandro Blasetti (1934)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: 1860

Produktionsland: Italien 1934

Regie: Alessandro Blasetti

Cast: Giuseppe Gulino, Aida Bellia, Gianfranco Giachetti, Mario Ferrari, María Denis, Ugo Gracci


Ein italienischer Film aus dem Jahre 1934, der sich zum Sujet den Kampf Garibaldis gegen die Bourbonen wählt, und unter der Regie von Alessandro Blasetti entsteht, dessen spätere Werke wie LA CORONA DI FERRO (1941) oder FABIOLA (1949) in ihren historischen Settings (die römische Antike in FABIOLA; eine Art Fantasy-Mittelalter in LA CORONA DI FERRO), um keinen epischen Schauwert verlegen sind…

Im Fokus der Handlung des schlicht 1860 betitelten Films steht der junge Sizilianer Carmeliddu, der mitansehen muss, wie ausländische Heere in sein Heimatland einfallen und ein wahres Terrorregime errichten – jedem, der verdächtig ist, mit den italienischen Nationalisten zu sympathisieren, droht die unverzügliche Erschießung. Angesichts dieser Notlage seines Volkes beschließt Carmeliddu, sich auf eine Himmelfahrtsmission zu begeben: Vom örtlichen Priester mit den entsprechenden Dokumenten ausgestattet, soll er gen Genua reisen, wo Garibaldi derzeit weilt, um ihn davon zu überzeugen, dass nur eine schnelle militärische Intervention großes Blutvergießen von Sizilien abwenden kann. Während Carmeliddu also unter falscher Identität aufs Festland übersetzt, wird die Lage für seine Freunde, Familie und die Verlobte Gesuzza immer brenzliger: Sollten sich die Dörfler nicht dem Regiment der Bourbonen unterwerfen, warten bereits Gewehrkugeln auf sie. Auf seiner Reise begegnet Caremliddu Menschen unterschiedlichster ideologischer Lager, unterschiedlichster Gesellschaftsschichten, unterschiedlichster Meinungen zur Tagespolitik – eine Bandbreite an Stimmen vom einfachen Arbeiter über Papsttreue bis hin zu glühenden Verfechtern einer Einigung Italiens, die den engen Horizont Carmeliddus immens erweitert und ihn gewissermaßen einen inneren Reifeprozess durchlaufen lässt. An dessen Ende steht das Aufeinandertreffen mit Colonel Carini, einem von Garibaldis engsten Vertrauten: Im sogenannten „Zug der Tausend“ machen sich in der Folge eintausend Freiwillige unter Führung Garibaldis nach Sizilien auf, um die Insel vom Joch der Bourbonen zu befreien. In der Schlacht von Calatafimi stehen sich die beiden Heere schließlich auf offenem Felde gegenüber…

Was ich erwartet habe: Ein pompöses Historienepos, bis in den hintersten Winkel durchtränkt von faschistischer Propaganda, die den „Zug der Tausend“ mit Mussolinis „Marsch auf Rom“ gleichsetzt, und Garibaldi als historischen Vorläufer Benitos modelliert; dementsprechend pathetische Dialoge, in denen die Figuren ihre Vaterlandsliebe deklamieren, Szenen von Aufmärschen und Militärparaden zu bombastischen Orchesterklängen, eine klare Schwarzweißzeichnung zwischen Anhängern des Risorgimento und denen, die es lieber mit den Franzosen, mit den konservativen Fürsten, mit dem Papst halten; nicht zuletzt eine zwar visuell überbordende Inszenierung, deren opulente Ausstattung, Kostüme, Schauplätze jedoch zu keinem Zeitpunkt ihre Studio-Provenienz verbergen können oder wollen.

Was ich stattdessen bekommen habe: Einen nahezu introvertierten Historienfilm, teilweise besetzt mit Laiendarstellern, größtenteils an Originalschauplätzen gedreht und frei von einem extradiegetischen Soundtrack; falls 1860 den Mussolini-Faschismus als direkten Ausläufer des Risorgimento darzustellen versucht, dann tut er das derart subtil, dass mir nichts davon wirklich ins Gesicht gesprungen ist; zwar werden die Bourbonen und ihre Verbündeten durchaus als wenig ehrenhafte Gesellen gezeichnet und zuletzt stirbt Carmeliddu den Heldentod in den Armen seiner Liebsten, aber über weite Strecke verzichtet 1860 auf ungebührliche Überdramatisierung, auf plakative politische Marktschreierei, auf plumpe Effekte, und erzählt seine Geschichte sehr zurückhaltend und sehr darum bemüht, ein ausgewogenes Panorama des geistigen Klimas der 1860er Jahre zu entfernen; selbst Garibaldi, bei dem es ja leicht gewesen wäre, ihn zur überirdischen Führerfigur zu überhöhen, taucht nur für Sekundenbruchteile auf; nicht die großen Männer der Weltgeschichte interessieren Blasetti, sondern vielmehr ein Niemand wie Carmeliddu, einen gemeinen Bauer, der in keinem Geschichtsbuch namentlich genannt werden wird.

Gewissermaßen ist 1860 so etwas wie die Antithese zu herkömmlichen Monumentalfilmen mit ihrem Pomp und Pathos, und ich finde es gar nicht verkehrt, Blasettis Streifen als Vorläufer des wenige Jahre später Fahrt aufnehmenden Neorealismus zu bezeichnen: Man stelle sich vor, Vittorio de Sica oder Robert Rossellini hätten Mitte der 30er ihre ersten Gehversuche im Historien-Genre unternommen…
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