Under the Fig Trees - Erige Sehiri (2021)

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Salvatore Baccaro
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Under the Fig Trees - Erige Sehiri (2021)

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Originaltitel: Taht El Karmouss

Produktionsland: Tunesien/Frankreich/Schweiz/Katar 2021

Regie: Erige Sehiri

Cast: Fedi Ben Achour, Firas Amri, Ameni Fdhili, Feten Fdhili, Fide Fdhili, Gaith Mendassi, Abdelhak Mrabti, Leila Ouhebi


Ich freue mich ja immer, wenn Konzept und Inszenierung bei einem Film eine zusammengeschweißte Einheit bilden, sich sozusagen Stil und Substanz derart ineinander verzahnen, dass das eine nicht mehr vom andern getrennt werden kann. Bei TAHT EL KARMOUSS, dem ersten Langfilm der tunesisch-französischen Regisseurin Erige Sehiri, ist genau das der Fall: Ein einziger Tag, ein einziger Schauplatz; eine Gruppe Landarbeiter und Landarbeiterinnen, unterschiedlich alt, manche politisch progressiv, manche religiös konservativ, manche irgendwo dazwischen, allesamt dazu angeheuert, manuell die Früchte einer Feigenplantage zu ernten, um ihren Familien daheim etwas Geld mit nach Hause zu bringen. Ich muss an Giuseppe De Santis‘ RISO AMARO denken, an Hans H. Königs HEISSE ERNSTE, vielleicht sogar an Julian Radlmaiers SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES, - nur kommt TAHT EL KARMOUSS völlig ohne einen Spannungsbogen aus, wie er RISO AMARO durchzieht, ohne den Heimatkitsch von HEISSE ERNSTE, ohne die Meta-Ironie Radlmiaiers.

Vielmehr zeigt sich TAHT EL KARMOUSS semi-dokumentarisch, sprich, ohne extradiegetische Musik, ohne große Gesten, ohne eine zusammenhängende Geschichte. Stattdessen: Etliche Splitter, die uns weniger etwas erzählen, sondern eher zurückhaltend etwas zeigen über die Beziehungen einzelner Personen zueinander, über Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse im zeitgenössischen Tunesien, über das Aufbegehren einer jungen Generation gegen das Patriarchat, über den einstigen Kolonialkrieg gegen Frankreich, über soziale Not, über Liebe, Lust und Leiden. Es wird in den Pausen gespeist, gesungen, gelacht, sich über die neusten Instagram-Posts irgendwelcher Stars ausgetauscht; es wird geeifersüchtelt und Intrigen gesponnen und sich nicht getraut, dem oder der Angebeteten die eigenen Gefühle offenzulegen; es wird gestritten, rebelliert, schließlich resigniert - und jedes Gespräch, dem wir beiwohnen wie ein ungebetener Zaungast, beendet der Plantagenbesitzer, rufend: Schluss jetzt! Ran an der Arbeit!, fast wie ein Running Gag.

Im Fokus freilich stehen definitiv vier Teenagerinnen, erst danach kommen die gleichaltrigen jungen Männer an die Reihe, und die ältere Generation findet eher an der Peripherie statt, wenn sie auch in mancher Szene unterschiedlich in den Kosmos unserer jugendlichen Heldinnen eingreifen: Mal, um die vorlaute, aufmüpfige Fide wegen ihrer feministischen Parolen zu ermahnen: mal um beispielweise Sana moralische Unterstützung zu leisten, die sich längst in den Kopf gesetzt hat, welchen Jungen sie heiraten möchte, jedoch zunächst alles daran setzt, ihn in ihrem Sinne zu einem treuen, gottfürchtigen, verantwortungsbewussten Mulsim zu erziehen. Empowerment, Trost im Fundamentalismus, unterdrücktes Begehren, ausagiertes Begehren verhandelt der Film in seinen vignettenartigen Dialogszenen, bei denen meist Personen gemeinsam an einem Feigenbaum beschäftigt sind. Jemand wird vom Boss bezichtigt, ein paar Feigen stibitzt zu haben; einem andern jungen Mann bindet der Boss irgendwelche Macho-Geschichten auf die Nase, mit welch freizügigen Frauen er schon das Bett geteilt habe; ein Mädchen, Melek, trifft nach vielen Jahren einen einstigen Crush wieder, dem sie seitdem hinterhertrauert und fasst sich endlich ein Herz, ihm ihre Liebe zu gestehen. Die schönen, sonnendurchfluteten Bilder dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, was für tiefschürfende Dramen hier knapp unterhalb der Oberfläche lauern. Eine weitere Assoziation: Eric Rohmer unterm Feigenbaum, nur alles andere als allein auf männliche Befindlichkeiten ausgerichtet, im Gegenteil...
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