The Hill Where Lionesses Roar - Luàna Bajrami (2021)

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Salvatore Baccaro
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The Hill Where Lionesses Roar - Luàna Bajrami (2021)

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Originaltitel: La colline où rugissent les lionnes / Luaneshat e kodrës

Produktionsland: Frankreich/Kosovo 2021

Regie: Luána Bajirami

Cast: Flaka Latifi, Urate Shabani, Era Balaj, Luána Bajirami


Gesichtet auf dem diesjährigen Braunschweiger International Filmfest:

Einem breiteren Publikum bekanntgeworden ist Luàna Bajrami 2019 in der Rolle der Magd in Céline Sciammas feministischem Kostümfilm PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE DE FEU. Sciamma soll es auch gewesen sein, die die Jungschauspielerin dazu animierte, ein eigenes Drehbuch zu schreiben. Zwei Jahre später ist Bajarami dieser Anregung nicht nur nachgekommen, sondern legt mit LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES auch gleich ihr Regie-Debüt vor. Dass der von Preisen überhäufte Film im Kosovo spielt, wo er die Alltagsrealität dreier desillusionierter Teenagerinnen nachzeichnet, die die Perspektivlosigkeit ihrer tristen Leben im südosteuropäischen Hinterland dadurch zu brechen versuchen, dass sie eine Gang gründen, hat mit Bajramis eigener Herkunft zu tun: Geboren im Kosovo ist Bajarami sowohl in ihrem Geburtsland wie auch in Frankreich aufgewachsen, kennt beide Kulturen und vor allem die Diskrepanzen zwischen ihnen. Sie selbst tritt in LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES in einer bezeichnenden Nebenrolle als Lena auf, eine junge Frau, die eigentlich in Paris lebt, mit ihren Eltern aber jeden Sommer in das Dörfchen reist, wo ihre Wurzeln liegen. Mit einer Mischung aus Faszination und Neid beäugen unsere Heldinnen Qe, Li und Jeta die Besucherin, werfen ihr vor, nur Stippvisite in ihrem Elend zu machen, bevor sie zurück in die Stadt der Liebe und der Träume reist, saugen sich an dem Exotismus fest, den Lena zwangsläufig in die graue Ortschaft bringt, wenn sie beispielweise in Zola-Romanen versunken lesend in der Sonne badet.

Qe, Li und Jeta selbst winkt demgegenüber keine rosige Zukunft: Mehrfache Versuche, sich an der Uni der nächstgrößeren Stadt einzuschreiben, scheitern an den Aufnahmebedingungen. Dabei hat jedes der Mädchen sein eigenes Bündel zu tragen: Lis Freund Zem ist in kriminelle Geschäfte der örtlichen Halbstarken verstrickt, die ihm schon mal ein blaues Auge und Rippenbrüche verpassen, wenn er nicht nach ihrer Pfeife tanzt; Qe leidet unter der Aussicht, den Friseursalon ihrer Mutter übernehmen zu müssen, und unter ihrem herrischen Vater, dem öfter mal die Hand ausrutscht; Jeta ist Vollwaise und sieht sich in der Obhut ihres Onkels zunehmend dessen sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Ihre Tage verbringen die Freundinnen an selbstgewählten Refugien, in denen sie über Gott und die Welt quatschen, sich in wolkenkratzerhohe Tagträume flüchten, meist einfach nur der Zeit beim Verrinnen zuschauen – Häuserruinen, von denen es in der Gegend zahllose gibt; das Becken eines ehemaligem Swimming Pools, in dem heute nur noch staubtrockenes Unkraut wuchert; ein Hügel außerhalb des Dorfes, von wo man die umliegende Landschaft überschauen kann, als sei man eine Löwin, die Königin der Tiere, ach was, die Königin der Welt.

Eins steht fest, nachdem ihre Namen erneut nicht auf den Listen derer aufgetaucht sind, denen ein Studium den Absprung in die Großstadt ermöglicht: Qe, Li und Jeta wollen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen, und vor allem raus aus dem Mief des Dorfes, raus aus ihren dysfunktionalen Familien, raus aus dem monotonen Strang sich wie ein Ei dem andern ähnelnder Tage, die problemlos so weiterlaufen könnten, bis an ihre Lebensenden. Das Wichtigste ist zunächst Geld, - und das beschafft man sich, indem man nachts ins örtliche Juweliergeschäft einbricht und blindlinks Ketten, Armbänder, Ringe mitnimmt. Einmal Blut geleckt, finden die Drei Gefallen am Outlaw-Dasein: Jede Nacht steht ein anderes Etablissement auf dem Programm, dass die Mädchen um seine Schätze erleichtern. Schließlich kaufen sich die Freundinnen einen Jaguar und machen sich zusammen mit Zem ins Ungewisse auf. Das heißt: Viel weiter bis zu einem malerischen See schaffen sie es erstmal nicht. Man schmiedet Pläne, man baut sich ein eigenes Utopia, man schwimmt, man liegt in der Sonne, man tauscht Zärtlichkeiten aus, - und irgendwann wird der Wunsch immer stärker, aufs Ausland zu pfeifen und ins verhasste Dorf zurückzukehren…

Man merkt LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES an, wie sehr Bajirami in ihrem Debüt eigene Erfahrungen, eigene Jugenderinnerungen, Nachtseiten der eigenen Biographie verarbeitet. Ganz dicht ist der Film bei seinen Figuren, zeigt ihre Verletzlichkeit, ihre Sehnsüchte, ihren sich entladenden Zorn, ohne dabei großartig aus den Spuren dessen auszuscheren, was seit vielen Jahren inszenatorischer Standard bei Arthouse-Dramen zu sein scheint: Eine per Hand geführte Kamera, die auf semi-dokumentarische Alltagsmomente gerichtet wird; Schauspieler, die zu wenig statt zu viel sagen, es bei kleinen Gesten belassen, ihre Gefühle oftmals hinter stoischen Mienen verschanzen; ein Plot, der im Grunde nichts erzählt, sondern vor allem einen Zusammenschluss isolierter Szenen darstellt. Es ist durchaus beeindruckend, wie sicher sich eine derart junge Regisseurin bei ihrem Erstlingswerk bewegt; dass LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES nun sonderlich originell wäre, kann ich indes nicht unterschreiben. Perfekt reiht sich der Film ein in eine endlose Reihe zurückhaltender, intimer, sich über Anspielungen und Leerstellen definierender Exponenten des zeitgenössischen Kinos, deren spezifischen Anstrich man in letzter Konsequenz vielleicht auf den Minimalismus eines Robert Bressons zurückführen könnte, und die mich selten überraschen, - weder negativ noch positiv. Wie ein Freund, der während des Screenings im Sessel neben mir selig entschlummerte, sagte: Als ich eingenickt bin, haben die Mädels irgendwo rumgehangen und sich angeschwiegen; als ich aufgewacht bin, haben die Mädels immer noch irgendwo rumgehangen und sich angeschwiegen.

Schwerer als die betont distanzierte Mise en Scene wiegt für mich bei LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES allerdings manche etwas abrupte Plot-Volte: Dass drei Mädchen es vielleicht beim ersten Mal fertigbringen, in einen Schmuckladen einzusteigen und die Auslage leerzuräumen, ohne dabei von irgendwem gesehen zu werden oder geradewegs der Polizei in die Arme zu laufen, halte ich ja noch nicht unbedingt für unwahrscheinlich, - doch wenn unsere Heldinnen in der Folge zu Meisterdiebinnen werden, die sich zum Beispiel über einen längeren Zeitraum unbehelligt nachts im Supermarkt aufhalten, und die, nachdem sie sich von ihren Elternhäusern losgesagt haben, in einer Baracke am Dorfrand leben, vor der zeitgleich eine nagelneue Protzkarosse parkt, dann ist selbst meine Suspension of Disbelief reichlich überstrapaziert, - zumal sich die Verwandlung der drei verzweifelten Teenagerinnen zu hedonistischen Ganovinnen quasi von einer Szene zur nächsten vollzieht. Auch der Umstand, dass sich zwei unserer Heldinnen im letzten Filmdrittel augenscheinlich zueinander hingezogen fühlen und eine körperliche Beziehung miteinander zu knüpfen beginnen, kommt für mich aus relativ heiterem Himmel, so, als ob da erneut ein, zwei Szenen, die diese Entwicklung vorausgedeutet hätten, der Schere zum Opfer gefallen wären.

Insgesamt betrachtet sind die Landschaftsaufnahmen zum Niederknien, (was aber natürlich zuallererst auch an den wunderschönen Ensembles aus Seen, Wäldern, Gebirgen liegt); die Szenen, in denen Bajirami selbst auftritt, stellen recht luzide das mondäne Paris-Leben Lenas dem Alltag unserer Löwinnen gegenüber; auch die zwischenmenschliche Trostlosigkeit des Dorflebens wurde ebenso pointiert eingefangen wie ihr Gegenstück, eine traditionelle Hochzeitsfeier, die als Fest dargestellt wird, bei dem das unterkühlte Dorfklima für eine genau bemessene Zeitspanne auftaut. Demgegenüber beinhaltet der Film aber auch vieles, was auf der Stelle tritt, vieles, bei dem mir der Biss fehlt, vieles, das mich gespannt auf die Folgewerke Bajiramis sein lässt, das mich aber zugleich noch nicht ganz davon überzeugt, dass LA COLLINE OÙ RUGISSENT LES LIONNES aus dem zeitgenössischen Coming-of-Age-Kino besonders aufsehenerregend heraussticht.
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