Killing the Eunuch Khan - Abed Abest (2021)

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Salvatore Baccaro
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Killing the Eunuch Khan - Abed Abest (2021)

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MV5BNjA5NzQ5MDktODZjZi00OThlLTk4NTEtNDVhMmYxYmZjNjAwXkEyXkFqcGdeQXVyMTE3MzgxNzIz._V1_.jpg (2.03 MiB) 199 mal betrachtet

Originaltitel: Koshtan-E Khajeh

Produktionsland: Iran 2021

Regie: Abed Abest

Cast: Ebrahim Azizi, Vahid Rad, Sara Mohammadi, Mah-Sima Kabari, Iman Basim, Missagh Zareh


Am Tag vor meinem fünfunddreißigsten Geburtstag wandere ich mit zwei Freunden in der nachmittäglichen Gluthitze quer durch Braunschweig bis in den Mitte der 70er eingemeindeten ehemaligen Vorort Stöckheim, von dem seit Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem Herzog Rudolf August seine Residenz von Wolfenbüttel nach Braunschweig verlegt hatte, eine Prachtstraße schnurgerade durchs Waldgebiet „Lechlumer Holz“ vom einen Ort zum andern führte. Ebenfalls im „Lechlumer Holz“, - und zwar etwa in der Mitte zwischen Stöckheim und dem circa 9km entfernten Wolfenbüttel -, zu finden gewesen ist das sogenannte „Hohe Gericht“, ein Galgenberg, wo bis 1759 zahllose Räuber, Mörder, Zauberer, Hexen und sonstige Tunichtgute hingerichtet wurden. Genau dieses „Hohe Gericht“ ist Ziel unseres Spaziergangs: Mit etwas Phantasie kann man die Kuppe noch erkennen, wo einst gut sichtbar für alle, die den "Alten Weg" zwischen Wolfenbüttel und Braunschweig passierten, zur Abschreckung die Leichen baumelten und ein Opfer der Witterung wurden. Ein Stein, den man irgendwann in den letzten Jahren, nachdem die Richtstätte von einem Lokalhistoriker wiederentdeckt worden ist, ins Dickicht gepflanzt hat, um an die drakonischen Hinrichtungspraktiken und vor allem die vielen unschuldig wegen angeblicher teuflischer Umtriebe Ermordeten zu erinnern, ist das Motiv des allerersten Photos gewesen, das ich jemals meiner heutigen Freundin und damals Noch-Nicht-Freundin geschickt hatte, irgendwann letzten Sommer, ein paar Wochen nach meinem vierunddreißigsten Geburtstag.

Am Abend meines fünfunddreißigsten Geburtstags geschieht etwas, das ich in letzter Zeit viel zu selten erlebe: Ich schaue mir ohne Erwartungen, ohne Vorwissen einen aktuellen Film an, und bin derart sprachlos, dass ich bloß noch „Welch Meisterwerk!“ ausrufen kann. Die „Inhaltsangabe“ auf der IMDB ist freilich ziemlich irreführend und hätte mich auch auf eine völlige falsche Fährte gelockt, wenn ich sie im Vorfeld gelesen hätte. „The serial killer intends slaughter so much that the blood spills over the ditches of the city”, ist dort zu lessen. “To reach this target, he designs a plan in which victims kill victims. The plan carried out and the stream of blood gradually fills the ditches of the city by the people who kill each other.” Tja, und wer aufgrund dieser Taglinge einen blutrünstigen Serienkiller-Thriller erwartet, kann im Grunde nur derb enttäuscht werden. Vielmehr handelt es sich bei dem Text um ein Motto, das dem iranischen Experimentalfilm KOSHTAN-E KHAJEH vorangestellt ist, ein Sinnspruch, der höchstens auf abstrakte Weise mit der nachfolgenden „Handlung“ in Zusammenhang steht...

Statt von seriellen Metzeleien in Teheran zu berichten, folgt KOSHTAN-E KHAJEH, dessen englischer Titel KILLING THE EUNUCH KHAN genauso kryptisch daherkommt wie der Filminhalt, im Prinzip (zumindest im ersten Drittel) dem Alltag einer Familie bestehend aus Vater und zwei Töchtern im Herzen der iranischen Hauptstadt. Zeitgeschichtlich befinden wir uns mitten im Ersten Golfkrieg: Ein irakisches Bombardement, das eigentlich einer iranischen Militäreinrichtung hatte gelten sollten, verfehlt wegen eines unerwartet aufkommenden Gewitters sein Ziel; stattdessen wird das Wohnhaus unserer Protagonisten-Familie dem Erdboden gleichgemacht, - und da sich der Vater gerade außerhaus aufhält, findet er bei der Rückkehr seine beiden Kinder nur noch mausetot vor und einen gigantischen Krater dort, wo sich wenige Stunden zuvor noch sein unaufgeregtes Leben abgespielt hat. Damit endet die Phase aber auch schon, in der dieser unglaubliche Film so etwas Ähnliches wie eine kohärente, logisch nachvollziehbare, chronologisch sich entrollende Geschichte erzählt, - was allerdings nicht heißen soll, dass sich nicht bereits diese erste halbe Stunde in außerordentlich eleganten, selten plotgetriebenen Kamerafahrten, in einer außerordentlich idiosynkratischen Ästhetik voller tarkowskij-esquer Plansequenzen, in einer außerordentlich fragmentarischer Narration, die wenig erklärt, vielmehr vorzugsweise mit elliptischen Leerstellen arbeitet, ergangen hätte.

Was jedoch während der letzten beiden Drittel folgt, ist ein halluzinierender Trip tief hinein in die Psyche eines von Kriegstraumata erschütterten Mannes, - um nicht zu sagen: tief hinein in die paranoide Atmoshäre einer von ständigen Kriegsgräueln bedrohten Nation -, der beleuchtungstechnisch gleichermaßen Argentos SUSPIRIA wie symbolistisch Kubricks SHINING seine Reverenz erweist, in dem totgeglaubte Figuren als ihre eigenen Doppelgänger umhergeistern, wo sinistre Geheimagenten-Schemen ihr Unwesen treiben, - und wo nahezu jede einzelne Szene eine audiovisuelle Idee transportiert, die gar keine großen Worte braucht – (denn tatsächlich fällt KOSHTAN-E KHAJEH nahezu vollständig dialogfrei aus) -, um sowohl semantische Bedeutung wie starke Emotionen zu evozieren. Anders gesagt. Jede einzelne Kamerafahrt, jede einzelne Bildkomposition, jeder einzelne Zoom dient in seiner Präzision dem Ansatz, uns etwas über den politischen Ist-Zustand, über Geschichte, über Gesellschaft des modernen Irans zu vermitteln, ohne das Kind (möglicherweise auch aus Zensurgründen?) explizit beim Namen zu nennen. Das kann man gut und gerne prätentiös finden, Jungregisseur Abed Abest verkopften Kunstwillen vorwerfen, sich darüber mokieren, dass über weite Laufzeitstrecken allegorische Tendenzen vorherrschen, die sich die Uneindeutigkeit auf die Fahne geschrieben haben, - oder aber man fällt, wie ich, auf die Knie angesichts all der großartigen Momenten, die sich Abed Abest quasi im Minutentakt aus dem Ärmel schüttelt.

Zu den Höhepunkten zählten für mich: Die vielen Szenen, in denen der nervenaufreiende Streicherscore das Kommando über die ruhigen, beinahe meditativen, stets elegischen Bilder zu erringen scheint, und selbst eine völlig banale Straßenansicht auf einmal wirkt wie eine Szene aus einem Horrorfilm; dass wir während des Anfangs-Bombardements zwar irakische Funksprüche vernehmen, trotzdem aber definitiv keine Kriegsflugzeuge vor unsren Augen erscheinen, sondern sich vielmehr eine ordinäre Passagiermaschine in die Lüfte erhebt, so, als wolle sich der Film trotz aller Schwarzmalerei nicht eines grotesken Humors enthalten; eine genre-affine Geldübergabe, bei denen wir lediglich eine einzige Person zu sehen und zu hören bekommen, obwohl die Mise en Scène suggeriert, dass da noch viel mehr involviert sein müssten, so, als würde unser Held mit bloßen Gespenstern interagieren; diese eigenartigen Gebilde, die der Vater zu Beginn in seinem Vorhof sammelt, und die sich später als Silos in einer weiten Landschaft entpuppen; die bereits angedeutete Referenz an Kubricks SHINING – literweise Blut, das ein komplettes Wohnhaus überschwemmt! -, bei dem ich gar nicht glauben konnte, was da sturmflutartig auf mich an visueller Grandesse einprasselt; all die langen Einstellungen, in denen wir Hauptdarsteller Ebrahim Azizi (alias "the Eunuch Khan") durch die Stadt folgen, während die Kamera direkt an seinem Körper befestigt ist und bei jedem seiner Schritte erschüttert wird.

Am Tag nach meinem fünfunddreißigsten Geburtstag fahre ich mit meiner Freundin zunächst nach Destedt, wo wir uns den Schlosspark besehen – immerhin einer der ersten planmäßig angelegten Landschaftsgärten Deutschlands, der bis Mitte des 18. Jahrhunderts datiert –, in der sogenannten „Liebesgrotte“ knutschen, so wie ich mir das seit meines ersten Besuchs in besagtem Park immer gewünscht habe, darin überkommen, dass das zugehörige Herrschaftshaus ausschaut wie der Schauplatz einer Öffentlich-Rechtlichen Vorabendserie à la ROSAMUND PILCHER. Anschließend spazieren wir den Höhenzug Elm hinauf, wo sich ein ehemaliger Steinbruch versteckt, der wiederum förmlich darum buhlt, als Kulisse für eine Neuauflage irgendwelcher Karl-May-Western zu dienen: Im Talkessel stehen verschimmelte Sofas herum, die irgendwer irgendwann dort hingeschleppt hat; verrostete Grillutensilien wurden längst vom Gebüsch überwuchert; der Wind, der in den Baumkronen rauscht, klingt, als würde sich irgendwo ein Wasserfall in die Tiefe ergießen. Unser Weg führt tiefer hinein in den Wald, schließlich ins pittoreske Reitlingstal, von wo es bloß noch ein Katzensprung ist bis zum Dörfchen Evessen, dessen Wahrzeichen ein Grabhügel in der Ortsmitte bildet: Eine Linde prangt als Kopfschmuck auf seiner Kuppel; vermutlich diente dieser Tumulus einem bronzezeitlichen oder jungsteinzeitlichen Fürsten als Begräbnisstätte; archäologisch untersucht wurde der denkmalgeschützte Hügel bis heute tatsächlich noch nicht systematisch. Klebrig vor Schweiß bringt uns der Linienbus zurück in die Löwenstadt, die sich an diesem Abend im Ausnahmezustand befindet, da der örtliche Fußballverein es ein paar Tage zuvor, soweit ich das verstanden habe, nach jahrelangem Verbleib in der Drittliga endlich fertiggebracht hat, sich in Liga Nummer Zwei zurückzukatapultieren: Betrunkene torkeln durch die Altstadt: Eintracht!, Eintracht!, schreiend, oder Reime rezitieren von "Suff" und "Puff", und währenddessen bin ich erfüllt von einer Liebe, die sich anfühlt, als würde ich sie immer wieder permanent ausströmen, und ich denke mir: Welch Meisterwerk!, und meine den gesamten großen Rest.
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