Deseos - Rafael Corkidi (1977)

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Salvatore Baccaro
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Deseos - Rafael Corkidi (1977)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Deseos

Produktionsland: Mexiko 1977

Regie: Rafael Corkidi

Cast: Ernesto Gómez Cruz, Gina Morett, Ana Luisa Peluffo, Jorge Humberto Robles, Aurora Clavel, Martin LaSalle, Elpidia Carrillo


Nachdem ich seit vielen Jahren um die Filme des mexikanischen Regisseurs Rafael Corkidi herumschleiche wie jemand, der sich nicht traut, die Bar zu betreten, in der ein Online-Date auf ihn wartet, aus Angst davor, dass das, was er sich im Vorfeld an Wunderbarem ausgemalt hat, eine harte Kollision mit der Realität erleben könnte, habe ich mir kürzlich nun endlich einmal seinen DESEOS aus dem Jahre 1977 besehen, den manche Quelle als Corkidis Hauptwerk handelt.

Corkidi kennt man ja vor allen Dingen als Kameramann der drei wichtigsten Filme Alejandro Jodorowskys – FANDO Y LIS; EL TOPO; MONTANA SACRA. Doch auch in anderen experimentellen Projekten des mexikanischen Kinos kann man seinen Namen im Vorspann finden: So dreht er beispielsweise ebenfalls die Kurbel bei Juan López Moctezumas 1973er Poe-Adaption LA MANSIÓN DE LA LOCURA, bei Gelsen Gas‘ 1970er gegenkultureller Vignettensammlung ANTICLMAX, (in der Jodorowsky auch als Schauspieler in Erscheinung tritt), sowie bei Alberto Isaacs 1965er Verfilmung einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez EN ESTE PUBELO NO HAY LADRONES, in der man wiederum, unter anderem, in Schauspielrollen die surrealistische Malerin Leonora Carringten und Luis Bunuel als Priester bewundern kann. Corkidis eigenes Feature-Length-Debüt fällt mit ÁNGELES Y QUERUBINES ins Jahr 1972 – etwa zu jener Zeit also, als er sich mit seinem ehemaligen Weggefährten Jodorowsky überwirft. Letzterer berichtet in einem späteren Interview, dass sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden schon bei MONTANA SACRA außerordentlich schwierig gestaltet habe, beschuldigt seinen Ex-Kameramann gar, dass er seine gesamte weitere Regiekarriere auf stilistischen, motivischen, inszenatorischen Idiosynkrasien aufbaute, die er unverhohlen von Jodorowsky geklaut hätte. Tatsächlich kann man zumindest in Bezug auf DESEOS konstatieren: Von der Bildgestaltung her, von der generellen Stimmung her, von dem, was an Bizarrerien und Tabubrüchen verhandelt wird, siedelt der Film tatsächlich in unmittelbarer Nähe des ganz ähnlich ausschauenden und funktionierenden Jodorowsky-Kosmos. Einen Unterschied gibt es freilich doch: Während Jodorowsky es fertigbringt, trotz aller Avantgardismen, nicht den Anschluss an die Populärkultur zu verlieren, sprich, seine Filme unterhaltsam sind, spannend, komisch, haben wir es bei DESEOS mit etwas zu tun, das selbst ich, den hunderte Streifen weit jenseits des Mainstreams über die Jahre eigentlich geeicht haben müssten, nur als ganz, ganz anstrengende „Unterhaltung“ bezeichnen kann.

Die Handlung von DESEOS, (sofern man die erheblich zerfaserte, fragmentierte, oftmals willkürlich anmutende Sammlung von narrativen und non-narrativen Bruchstückchen denn überhaupt so nennen möchte), basiert offenbar auf einem Roman des mexikanischen Schriftstellers Agustin Yanez aus dem Jahre 1947 namens „Al filo del agua“, der, zumindest laut der spanischsprachigen Wikipedia, zum literarischen Kanon Mexikos zählt, und eine komplexe Familiengeschichte am Vorabend der Revolution 1910 auffächert. Wie weit die Werktreue Corkidis geht, ob er den Text lediglich als Steinbruch für die eigenen überbordenden Phantasmen benutzt, oder ob auch Yanez‘ Roman bereits ein inkohärentes Füllbecken wahlweise alberner, verstörender oder befremdlicher Szenarien und Situationen ist, kann ich nicht sagen, vermute aber, dass mir die Lektüre von „Al filo del agua“, (dessen Buchausgabe wir im Verlauf von DESEOS immer wieder aufgeschlagen im Close-Up zu sehen bekommen, wobei rote Ameisen über die Seiten krabbeln), möglicherweise nicht viel dabei helfen würde, mich in DESEOS mit seinen zahllosen Figuren, seinen unmotiviert scheinenden Plot-Volten, seiner verbissen komplett gegen den Publikumsgeschmack gebürsteten Mise en Scene auch nur ansatzweise zurechtzufinden.

Ästhetisch freilich ist DESEOS ein Genuss – und man merkt Corkidi an, dass er nicht zum ersten Mal Settings entwirft, die auf keinem surrealistischen Gemälde von, sagen wir, Carrington, Magritte oder Dalí deplatziert wären. Vor allem angetan haben es ihm offenbar Häuserruinen, an deren verfallenden Wänden vergilbte Heiligenbilchen oder mottenzerfressene Vorhänge kleben; die Kamera fährt geschmeidig choreographiert durch diese artifiziell wirkenden Settings, was den einzelnen Szenen, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer künstlichen Beleuchtung und der offensichtlichen Drapiertheit all der wie von Flohmarktständen zusammengesammelt wirkenden Requisitenobjekten, einen ungemein theatralischen Anstrich verleiht; die Darsteller wiederum deklamieren ihre Zeilen, als würden sie auf Bühnenbretter stehen, murmeln pathetische Monologe, oder singen auch regelmäßig, das heißt: sie bewegen ihre Lippen zu Opern- und Folkloreklängen aus dem Off, wobei die Regie alles daran setzt, die Illusion dadurch zu entlarven, dass die Synchronizität zwischen den Mundbewegungen der Darsteller und der extradiegetischen Musik nicht immer gegeben ist – es scheint mir aufgrund dieser häufigen Gesangseinlagen durchaus probat, in DESEO so etwas wie eine Art Anti-Musical zu sehen.

Neben den zuweilen an Fellini-Filmen wie SATYRICON oder AMARCORD erinnernden Kulissen bleiben vor allem die Momente im Gedächtnis, bei denen sich Corkidi die Provokation auf die Fahne schreibt: Religiöse Tabubrüche zum Beispiel gibt es en masse – inklusive masturbierender Nonnen, sündiger Priester, einem nackten Christus nach der Kreuzigung, der von einer Gruppe Frauen unter freiem Himmel penibel gewaschen wird. Deren Effekt gleicht jedoch dem, den auch Corkidis Regiestil nach kurzer Zeit auf mich ausübt: Da sich im Grunde dieselbe Inszenierungspraxis fortwährend wiederholt, der Film keinerlei Überraschungen birgt, die Figuren viel zu abstrakt bleiben, als dass man sich mit ihnen identifizieren könnte, das Ganze überhaupt so hermetisch ausfällt, dass ich gar nicht nacherzählen kann, wovon weite Strecken des Films selbst rudimentär gehandelt haben, wird’s indes spätestens nach einer halben Stunde furchtbar monoton, und der Blick schweift immer wieder zur Uhr, um zu checken, wie viele Minuten der insgesamt mehr als eineinhalb Stunden Laufzeit noch übrig sind.

Als Standbilder, als Stillleben, als performative Installationen oder installative Performances würde DESEOS möglicherweise wesentlich besser funktionieren, denn, wie gesagt, jedes der Bilder, die Corkidi sich aus dem Ärmel schüttelt, schreit förmlich nach einem Rahmen, in dem man es stecken sollte, um es in eine Kunstgalerie zu hängen; als Film jedoch, der berührt, schockiert, in irgendeiner Weise emotional affiziert, hat mich DESEOS enttäuschend kaltgelassen – ein Urteil, über das ich selbst am unzufriedensten bin, denn wie sehr hätte ich mir gewünscht, einen verkannten Meister für mich zu entdecken, dem ich einen Platz in meinem persönlichen Olymp seelenverwandter Filmschaffender hätte einräumen können. Der Jodorowsky-Vergleich bietet sich einmal mehr förmlich an: Man stelle sich ein Remake von MONTANA SACRA vor, bei der die generellen religiösen, gesellschaftskritischen, ikonoklastischen Ingredienzien weitgehend unangetastet geblieben sind, das aber ungleich prosaischer umgesetzt wurde – und zwar so prosaisch, dass ich meinem fiktiven Online-Date, nachdem wir beide unsere Kaffees ausgetrunken haben, gestehen muss: Nein, eigentlich möchte ich Dich so schnell nicht wiedersehen.
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