bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Go Trabi Go

„Wir Sachsen, wir sind helle, des wees die ganze Welt, und sind wir mal nicht helle, dann ham‘ wir uns verstellt!“

Bereits das Debüt des gebürtigen Ostberliners und später in die BRD emigrierten Regisseurs Peter Timm, die Komödie „Meier“, widmete sich der – damals, 1985, noch existierenden – DDR bzw. den Wechselwirkungen zwischen ihr und der BRD und ist bis heute sträflich unterbewertet. Der darauf gefolgte „Fifty Fifty“ ist mir leider noch unbekannt, doch mit seinem dritten Film gelang Timm der Durchbruch: „Go Trabi Go“ um den Dresdner Theaterschauspieler und Kabarettisten Wolfgang Stumph wurde kurz vor der Auflösung der DDR im Weltmeistersommer 1990 gedreht und kam im Januar 1991 in die Kinos, wo die Roadmovie-Komödie nach einem Drehbuch Reinhard Klooss‘ und Peter Timms zum zweiterfolgreichsten deutschen Kinofilm des Jahres avancierte.

„Wir Trabantfahrer – wir sind doch die Härtesten.“

Jahr 1 nach der Wende, sprich: 1990. Die DDR endet, die ‘80er ebenso. Die Bitterfelder Familie Struutz, bestehend aus Deutschlehrer Udo (Wolfgang Stumph), seiner Frau Rita (Marie Gruber, „Dornröschen“) und der gemeinsamen Tochter Jacqueline (Claudia Schmutzler, „Polizeiruf 110: Eine unruhige Nacht“), plant, frei nach Goethes „italienischer Reise“, im Sommer von Bitterfeld nach Neapel zu reisen – und zwar mit dem Schorsch getauften Familientrabant! Insbesondere Udo liebt die Rennpappe heiß und innig und traut ihr zu, die Familie zuverlässig über Regensburg und München, über die Alpen und den Gardasee zum Ziel zu bringen. Doch die Fahrt verläuft nicht ohne Hürden und entpuppt sich für alle Beteiligten als ein größeres Abenteuer als zunächst angenommen…

„Das ist das Angenehme auf Reisen, dass auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Überraschung das Aussehen eines Abenteuers gewinnt!“

Auch für die Westdeutschen war es seinerzeit noch unüblich, innerhalb Kontinentaleuropas zu fliegen, dafür waren Flugreisen schlicht zu teuer. Stattdessen fuhren etliche Familien in den Sommerferien mit dem Auto übern Brenner nach Italien, eines der Lieblingsziele der Deutschen. Mit der neu gewonnenen Reisefreiheit, nicht mehr nur in sozialistische Bruderstaaten, sondern auch ins kapitalistische Ausland zu Erholungs- und Erkundungszwecken reisen zu dürfen, wollte es die exemplarische ostdeutsche Familie Struutz den Wessis also gleichtun – kurioserweise mit dem im Westen aufgrund seiner technischen Daten verlachten DDR-Kfz „Trabant“, liebevoll zu Trabi verniedlicht, dem einen solchen Trip nicht unbedingt jeder zugetraut hätte.

Soweit zum damaligen Zeitgeist, dem diese deutsch-deutsche Wendekomödie entsprungen ist. In Timms Umsetzung ist die Abenteuerlust und Wendefreude der etwas naiven, aber bauernschlauen sächselnden Familie allgegenwärtig. Der Humor des episodischen Road Movies verulkt Ossis wie Wessis, ohne sich spöttisch gegen Familie Struutz zu richten. Stattdessen bekommt manch westdeutsche respektive kapitalistische Unart ihr Fett weg. Die Regensburger Westverwandtschaft (u.a. Ottfried Fischer, „Superstau“), bei der die Struutzens Halt machen, ist nicht bereit, ihren Wohlstand zu teilen und versteckt sogar die Torte vor Udo, Rita und Jacqueline; in München kann kein Kfz-Mechaniker bei der erste Autopanne helfen, dafür wird die Familie finanziell über Ohr zu hauen versucht, bis mit Dieter Hildebrandt („Man spricht deutsh“) ein ostdeutscher Landsmann einspringt, und schließlich versucht ein Gigolo, sich an Jacqueline, siebzehnjährig und ein scharfes Gerät, mittels seiner Kohle heranzuschmeißen, während Dieter Krebs („Ein Herz und eine Seele“) als Lastwagenfahrer sämtliche Trabiwitze deklamiert. Dafür bringt er die Familie mitsamt Trabi sicher übern Brenner.

Das ist, ein gutes Stück weit Road-Movie-typisch, recht episodisch; der Kitt, der all das zusammenhält, ist die Reise als Abenteuer, der Weg als Ziel, und eben immer dabei der treue Trabant, auf dessen Dach man am Gardasee sogar kampiert – dafür werden ihm dort die Räder gestohlen. So richtig rund geht’s jedoch erst in Rom, dem letzten Zwischenstopp vor Neapel, und Schorsch ist anschließend kaum wiederzuerkennen. Nach zahlreichen kleineren und größeren Konflikten inklusive einer flüggewerdenden Tochter wird Neapel jedenfalls erreicht. Jacqueline bekam eine exaltierte Tanz- sowie eine Gesangs- und Gitarrenspieleinlage ins Drehbuch geschrieben, der Trabi darf einige gelungene Stunts hinlegen (was man wahrlich auch nicht alle Tage sieht) und seine Mundart wurde hier niemandem verboten, fröhlich wird in verschiedenen Dialekten drauflosgesabbelt. Wer wirklich beißend bösartigen Witz erwartet, bekommt ihn hier nicht, „Go Trabi Go“ ist keine Abrechnung mit der Wende oder der Politik, karikiert jedoch frühe Nachwendebefindlichkeiten und inszeniert Italien stil- und respektvoll als Sehnsuchtsort.

Vielleicht muss man damals dabeigewesen sein, um den Film zu verstehen. Vielleicht aber auch nicht und es gelingt ihm generationsübergreifend, komödiantisch aufbereitet das damalige Lebensgefühl zu vermitteln, jetzt mal ein bisschen mit großen Augen die bislang weitestgehend verborgene Welt zu erkunden, mal Fünfe geradesein zu lassen und nicht alles so dermaßen wichtig zu nehmen – schließlich ist Sommer und man hat Urlaub. Und nicht zuletzt, dass jede Italienreise mit dem eigenen Pkw ein Abenteuer war, bei dem man auf vieles gefasst sein musste. Dieses nostalgische Gefühl wird wunderbar vom zeitgenössischen Pop- und Rock-Soundtrack u.a. mit Gianna Nannini („Due ragazze In me“), The Real Milli Vanilli („Keep On Running”) und John Parrs breitbeinig hartrockendem Titelsong „Westward Ho” befeuert. Ja, Kinder, so endeten damals die 1980er…
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Feuerzauber

„Brandstifter sind im Allgemeinen Einzeltäter.“

Im Jahre 1977 war schon wieder Schluss für den Ersten Hauptkommissar Martin Schmidt (Martin Hirthe) aus Berlin: Mit „Feuerzauber“, erstausgestrahlt am 9. Oktober 1977, bestritt er seinen dritten und letzten Fall. Die Regie führte Fritz Umgelter („Der Winter, der ein Sommer war“), der zwischen 1976 und 1981 insgesamt fünf Beiträge zur öffentlichen-rechtlichen Krimireihe inszenierte, das Drehbuch verfassten Karl Heinz Knuth und Joachim Nottke.

„Noch ist Polen nicht verloren!“

Rennbootfahrer Georg Kastrup (Heinz Weiss, „So weit die Füße tragen“) bekommt während eines Rennens eine Schraubzwinge ins Gesicht und muss daher abbrechen. Aus dem nächsten Rennen wird er aufgrund eines technischen Defekts seines Boots geworfen. Sein Bruder KF (Günter Pfitzmann, „Die Brücke“) macht dem in finanziellen Schwierigkeiten steckenden Georg Vorwürfe und kündigt an, ihn monetär nicht mehr unterstützen zu wollen. Auch von seiner Bank erhält Georg Kastrup keinen Kredit mehr. KF plant derweil ein eigenes Konzept für das Grundstück, das er gemeinsam mit Georg geerbt hat: Moderne Appartements sollen auf ihm entstehen, Georgs Haus derweil abgerissen werden. In seiner Geldnot plant Georg einen Versicherungsbetrug, indem er seine Werft auf eben jenem Grundstück abbrennt. Zu diesem Zwecke tüftelt er an einer technischen Kettenreaktion aus ferngesteuertem Miniaturboot, Kippschalter und Brandbeschleuniger, die er während eines Sommerfests auf einem Wannseedampfer auslöst. Doch die Umsetzung kostet ein Menschenleben…

„Mann, ist das ‘ne lahme Mondscheinparty!“

Dieser Fall beginnt mit einem Bootsrennen, wobei der „Tatort“ die Perspektive einer Sportübertragung einnimmt. Fahrer Kastrups Gesichtsverletzung wirft Rätsel auf, anschließend wird er in einem Fernsehstudio interviewt. Im selben Studio steht Kommissar Schmidt Rede und Antwort zu einer Serie von Brandstiftungen, die gerade Polizei und Öffentlichkeit beschäftigt. Ein starker Auftakt, der neugierig macht. Beim an die TV-Interviews anschließenden privaten Plausch miteinander gibt sich Schmidt als Fan Kastrups zu erkennen, was ein wenig an „Columbo“ erinnert. Im weiteren Verlauf jedoch wird Rennen an Rennen aneinandergereiht, dazwischen Unstimmigkeiten zwischen den Kastrup-Brüdern, die nicht ganz leicht zu durchschauen sind. Bis Georg schließlich seine Tat begeht, bei der ungeplant ein Mann ums Leben kommt, ist bereits mehr als die Hälfte dieses dramaturgisch misslungenen „Tatorts“ vergangen. Dafür ist der Tathergang gut inszeniert und erobert noch einmal die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer zurück.

Leider geht es daraufhin jedoch genauso unnötig unkompliziert erzählt und mit zahlreichen Figuren und Zufällen gespickt weiter. Kommissar Schmidt beweist Kombinationsgabe, kann einem aber dafür, wie blass er in diesem zwar sommerlichen, jedoch enttäuschend drögen „Tatort“ bleibt, schon fast leidtun; Pfitzmann und Weiss stehlen ihm das letzte bisschen Show. Die Schraubzwinge vom Beginn sowie die von Schmidt erwähnte Brandstiftungsserie erweisen sich als unnötigerweise geworfene rote Heringe, die mit Fall offenbar gar nichts zu haben. Dieser endet nach einer Verfolgungsjagd per Rennboot und Kfz abrupt. Möglicherweise wirkte das damals aufregend und spektakulär, heute hingegen reichlich einschläfernd. Für die Kombination aus Rennbooten und Kriminalität empfehle ich stattdessen den ungleich unterhaltsameren „Zinksärge für die Goldjungen“!
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jerks. [Stafel 4]

Staffel 4 der deutschen SitCom „jerks.“, bei der mit Christian Ulmen einer der Hauptdarsteller Regie führte und die Drehbücher zusammen mit diversen Koautoren verfasste, startete kurz vor Weihnachten 2020 beim Video-on-Demand-Anbieter Joyn Plus+. Die Ausstrahlung im frei empfangbaren Privatsender Pro7 erfolgte zu Beginn des Jahres 2022, wobei die diese Staffel initiierende Doppelfolge ausgespart wurde. Insgesamt umfasst diese vierte Staffel zwölf Episoden à rund 25 Minuten.

Aufgrund der irritierenden Pro7-Ausstrahlungspolitik war es mir leider nicht möglich, den Staffelauftakt zu sehen, sodass ich zu Beginn der TV-Ausstrahlung zunächst nur Bahnhof verstand: Offenbar ist Pheline von Fahri (Fahri Yardim) schwanger, der jedoch einen Vaterschaftstest fälscht, damit das Kind scheinbar von Christian stammt. Das erklärt die Ehekrise, die Pheline und Fahri im weiteren Verlauf durchmachen. Die Paartherapie, die bizarrerweise zusammen mit Emily und Christian stattfindet, gerät zur Farce, wenn Fahri sich derart in ein Lügenkonstrukt verstrickt, dass er sogar seine eigene Mutter „opfert“. Immerhin erfährt er dadurch von einem Halbbruder, der sich als der Hip-Hopper „Das Bo“ entpuppt. Es kommt zu einem Kennenlernen, doch leider sind sich Fahri und Das Bo nicht sonderlich grün, was sogar in einem überraschenden Vorfall körperlicher Gewalt mündet – der Pheline jedoch nicht daran hindert, freundschaftliche Bande zu Das Bo zu knüpfen.

Das Drehbuch wirkt an diesen Stellen seltsam unmotiviert, die Nachvollziehbarkeit dieser eigenartigen Konstellation bleibt auf der Strecke. Schon runder wird es, wenn Fahri einen Schwarzen, der ihm einen Gefallen tut, zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt, da in diesem Zuge Vorurteile und -verurteilungen auf sehr anschauliche Weise thematisiert werden. Schauspieler Patrick Bach spielt sich in diesem Handlungsstrang in einer Nebenrolle selbst, wie alle anderen in einer unvorteilhaften Alter-Ego-Version. Nicht nur aufgrund seiner notorischen Fremdgeherei ist Fahri in dieser Staffel eindeutig das größte Arschloch; entsprechend fixiert ist die Handlung auf ihn, während Christian deutlich besser wegkommt. Dies hängt auch mit einem Trauerfall zusammen, denn auf äußerst und überraschend radikale Weise verlässt Emily die Serie – womit diese leider ein großes Stück ärmer wird.

In seinem Egoismus fällt Fahri sogar auf einem Friedhof negativ auf und verwickelt seinen besten Freund Christian in unangenehme Situationen, wenn er nicht gerade Obdachlose für ein DJ-Projekt ausnutzt. Einen interessanten Verlauf nimmt die Handlung, als Christian und seine Ex-Frau Collien sich wieder näherkommen. In diesem Kontext wird das Thema Ableismus auf- oder zumindest kurz angerissen. Ein Staffelhöhepunkt ist das Aufeinandertreffen von Christian, Collien, Fahri, Pheline und als Gaststars Emilia Schüle und Simon Verhoeven in einem Waldhotel, bei dem Emilia sich als Nymphomanin gebart und es fast wie in einem Krimi zu einem Todesfall kommt, der aufgeklärt werden muss. Annemarie Carpendale macht das Gastensemble dieser Episode komplett.

Dass Fahri plötzlich unter die Schriftsteller geht und annimmt, die Öffentlichkeit würde sich für seine Autobiografie interessieren, ist seiner permanenten Selbstüberschätzung geschuldet, führt während seiner ersten Lesung aber auch dazu, dass ihn das schlechte Gewissen packt – denn nun ist auch für all seine Affären nachlesbar, dass er sie offenbar Pheline gegenüber verheimlicht. Belastungsbedingt bricht er in vorauseilendem Gehorsam mit einer Lebenslüge, was seine Beziehung zu Pheline nicht verkraftet. Ein wahres Kabinettstückchen ist, wie es innerhalb dieses bedrückenden Sujets gelingt, echte Lacher zu provozieren, wenn Fahri sich seine schauspielerischen Fähigkeiten plötzlich selbst in Abrede stellt und in wenigen Sätzen die Schauspielzunft komplett entzaubert. Ein weiterer humoristischer Höhepunkt findet sich in den Szenen, in denen Collien eine ihrer vermieteten Wohnungen ihren indischen Eltern zur Verfügung stellen möchte, das in ihr seit Jahrzehnten lebende Rentnerpaar von der gemeinsamen Besichtigung jedoch überrumpelt wird.

Ansonsten gibt es in dieser Staffel weit weniger zu lachen als in den vorausgegangenen, in denen aufgrund des auf maximale Fremdscham ausgerichteten, von den Serien „Curb Your Enthusiasm“ und „Klovn“ adaptierten und mit viel schwarzem und bitterem Humor angereicherten Konzepts einem das Lachen schon ohnehin oftmals im Halse steckenblieb. Die häufig sexualisierte Handlung tendiert diesmal noch stärker zur Tragik und die peinlichen Situationen rufen mehr Kopfschütteln hervor als das Zwerchfell zu kitzeln. Die Entwicklungen in Bezug auf die Partnerschaften Christians und Fahris würden einen guten Abschluss der Serie bilden, wenngleich das Staffelfinale, in dem Fahri einer bestens aufgelegten Ulmen-Tochter Kala (Cloé Heinrich, „Lotta & der dicke Brocken“) auf für Christian und Collien sehr irritierende Weise näherkommt, jedoch auch Anknüpfmöglichkeiten für eine weitere Staffel bietet. Insbesondere dieses Finale stimmt in seiner beschwingt jugendlichen Machart, seiner leisen Melancholie und den zahlreichen Indizien dafür, dass sich Fahri geistig auf dem Stand eines Heranwachsenden befindet, dann auch versöhnlich.
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Tatort: Das Mädchen von gegenüber

„Die treiben’s doch heute alle so früh!“

Fall Nummer zwölf der Essener „Tatort“-Kommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) markiert den Einstand des späteren Miterfinders der Ermittlerfigur Horst Schimanski, Regisseurs Hajo Gies, innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Sein Bruder Martin Gies verfasste das Drehbuch dieses Kriminal-/Liebesdramas, das am 4. Dezember 1977 erstausgestrahlt wurde.

„Manchmal les‘ ich sogar Kafka!“

Der 15-jährige Kalle (Gerhard Theisen, „Das fünfte Gebot“) interessiert sich für seine ungefähr gleichaltrige Nachbarin Bärbel (Holle Hörnig), beobachtet sie auf der Kirmes und bietet ihr anschließend an, sie auf seinem Fahrrad nach Hause zu bringen. Bärbel zeigt jedoch keinerlei Interesse an Kalle, lehnt dankend ab und nimmt lieber den Bus. Doch Kalle kann diese Niederlage nicht akzeptieren und fährt ihr hinterher, verfolgt sie bis in ein altes Bahnhofsgebäude, wo sie sich offenbar mit ihrem Freund (Jürgen Prochnow, „Das Boot“) treffen will (von dem Kalle bisher nichts wusste). Als sie Kalle entdeckt, fordert sie ihn abzuhauen auf, doch stattdessen stürzt Kalle sich auf sie. Sie wehrt sich und als ihr Freund am Treffpunkt erscheint, hält Kalle ihr den Mund zu und erstickt sie dabei. Kalle flieht und Bärbels Freund Klaus findet das tote Mädchen. Kommissar Haferkamp nimmt die Ermittlungen auf und sieht sich in Bärbels Zuhause sowie in ihrer Schule um. Sein Hauptverdächtiger ist bald Bärbels Lehrer Klaus Lindner – pikanterweise jener Klaus, mit dem sie sich treffen wollte. Bärbel hatte eine Affäre mit ihrem Lehrer! Damit diese nicht herauskommt, hält sich Klaus mit Angaben gegenüber dem Kommissar sehr bedeckt, wodurch er jedoch nur noch stärker in Mordverdacht gerät. Kalle wiederum plagt sein Gewissen…

„Dann kann ich eben nix…“

Die Kirmesszenen zu Beginn werden von schöner, gleichsam melancholischer Musik kontrastiert und bilden somit eine Analogie zu Kalles Gefühlswelt, der weniger zum unbeschwerten Vergnügen auf der Kirmes weilt, sondern vielmehr, um Bärbel näherzukommen. Die Konfliktsituation, in die er sich mit seiner Nachstellerei manövriert, eskaliert, als er sich einem Vergewaltigungsversuch gleich auf das Mädchen stürzt – was sie nicht überleben wird. Haferkamp trifft seine Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) in einer schummrigen Kneipe, bevor er Bärbels Vater (Hansjoachim Krietsch, „Fluchtversuch“) aufsucht und sich dort einen ersten Eindruck verschafft. Es gibt also kein Whodunit? hier, auch keine klassische Motivsuche. Längere Zeit beschäftigt sich die Handlung mit der Charakterisierung des Lehrers Klaus Lindner, der in einer offenen Beziehung mit seiner attraktiven Frau Jutta (Herlinde Latzko, „Die Affäre Lerouge“) lebt, als besonderen Kick jedoch anscheinend den Missbrauch einer Schutzbefohlenen braucht. Bärbel hielt ihre Schwärmerei für ihren Lehrer für die große Liebe, was er bereitwillig ausnutzte.

Dass Bärbel die gleiche Miles-Davis-LP, dessen Musik Teil der musikalischen Untermalung dieses „Tatorts“ ist, wie Klaus besaß, wird zu einem wichtigen Indiz für Haferkamp, der jedoch die meiste Zeit über irrt und erst spät Kalle als Täter ins Auge fasst. Die Kamera ist nah am verzweifelten Kalle, die Handlung begreift ihn als Täter und Opfer zugleich. Er will Suizid begehen und macht im letzten Moment einen Rückzieher. Dass ihn schließlich sowohl Lindner als auch Haferkamp auf dem Kieker haben, wird er in Kombination mit seinen Schuldgefühlen aber nicht verkraften. Die Empathie, mit der die Gies-Brüder der Figur Kalle begegnen, unterscheidet diesen „Tatort“ von zahlreichen anderen Fernsehkrimis und betont die Tragik und Dramatik, die ihm innewohnen. Bisweilen mag sie indes ein wenig irritieren, denn Kalles Übergriff auf Bärbel ist natürlich absolut verurteilungswürdig, wird hier zwischen den Zeilen aber mit dem jugendlichen Eifer eines Schwerstverliebten erklärt, dem die Sicherungen durchbrannten.

Was eine solche im Affekt geschehene Tat mit dem Täter macht, schildert „Das Mädchen von gegenüber“ indes sehr anschaulich, wenngleich im letzten Drittel ein noch etwas stärkerer Fokus auf Kalle angemessen gewesen wäre. Die traurige Musik, ein wiederkehrendes Klavierstück, unterstreicht die Atmosphäre dieses hervorragend gefilmten Falls, dessen urbane ‘70er-Jahre-Tristesse (inklusive heftig geschmacksverirrter zeitgenössischer Tapeten) sich perfekt in den Neo-noir-Stil einfügt. Die Kirmes wirkt darin wie ein Fremdkörper und wird erneut zum Schauplatz, diesmal des letzten, bedrückenden Kapitels. Auch Haferkamp hat schwer am Geschehenen zu knapsen; die geringe Rolle, die sein Kompagnon Kreutzer einmal mehr spielt, lässt Haferkamp beinahe als völligen Einzelgänger mit zerstörter Ehe und zerknitterter Psyche erscheinen. Trotz Verzichts auf ein Whodunit? gelang Gies eine bemerkenswerte, spannende Inszenierung dieses „Tatorts“, der zu den herausragenden der zweiten Hälfte der 1970er zählen dürfte – wenngleich die im März desselben Jahres ausgestrahlte Inspirationsquelle „Tatort: Reifezeugnis“ allgegenwärtig ist.
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Trouble Every Day

In the dead of night love bites

„Trouble Every Day“ fiel in eine Zeit noch vor den neuen, härteren französischen Horrorfilmen wie „High Tension“ oder „Inside“, greift diesen aber zumindest in Teilbereichen vor. Die Regisseurin Claire Denis („Der Fremdenlegionär“) schrieb zusammen mit Jean-Pol Fargeau und inszenierte in französisch-deutsch-japanischer Koproduktion eine etwas sperrige Melange aus Horrorfilm und Liebes-/Erotikdrama, die seinerzeit manch Kritiker(in) ratlos zurückließ und ein unbedarftes Publikum zu schockieren verstand.

Shane (Vincent Gallo, „GoodFellas“) ist ein frisch verheirateter US-Wissenschaftler, der mit seiner Frau June (Tricia Vessey, „Tiger Kid II“) in die Flitterwochen nach Paris reist, wo sie ein Hotelzimmer beziehen. Vorrangig zog ihn jedoch ein anderer Grund in die „Stadt der Liebe“, den er seiner Frau verschweigt: Er befindet sich auf der Suche nach Léo Sémeneau (Alex Descas, „Boarding Gate – Ein schmutziges Spiel“) und dessen Frau Coré (Béatrice Dalle, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“). Mit ihm betrieb er einst Experimente, in deren Rahmen Coré und Shane sich mit etwas infizierten, was aus ihnen blutrünstige Monster macht, sobald sich die Fleischeslust meldet: Im Blutrausch beißen sie ihre Sexualpartner(innen) tot…

Léo, der, eingeführt als schwarzer Motorradfahrer, nicht unbedingt dem Klischeebild eines Medizinwissenschaftlers entspricht, muss weitestgehend hilflos hinter seiner Frau Coré „her wischen“, wenn er die verstümmelten Opfer ihres Blutdurstes verschwinden lässt. Dass er sie zu Hause einsperrt, hilft auch nur so lange, bis sich zwei arglose Einbrecher Zutritt verschaffen und sich einer von ihr verführen lässt – das bedeutet Überstunden beim Wändeschrubben. Shane wiederum muss sich der Herausforderung stellen, trotz seines fehlgeleiteten Triebs seine geliebte Frau nicht zu gefährden, ihr gegenüber geheim zu halten, was mit ihm nicht stimmt – und wirft ein Auge auf das sexy Zimmermädchen (Florence Loiret Caille, „Love Bandits“) aus dem Hotel. Die Protagonistinnen und Protagonisten in „Trouble Every Day“ geben sich wortkarg, der ganze Film ist äußerst dialogarm. Erklärungen beschränken sich aufs Nötigste; die hier skizzierte Hintergrundgeschichte entblättert sich dem Publikum nur langsam und bleibt diffus, die einzelnen Informationshäppchen muss es sich selbst zusammenreimen.

Aufs Tempo drücken Inszenierung und Schnitt auch nicht gerade, was der ungemütlichen, unheilschwangeren Stimmung des Films Raum zur Entfaltung gibt. Bisweilen übertreibt man es, wenn die Entschleunigung von einer Natur und Interieur in aller Seelenruhe konservierenden Kamera forciert wird, die auch gern mal eher belanglose Alltagssituationen (oder Gehirnsezierungen) genüsslich auskostet. Dieselbe Kamera zeigt sich gegenüber den Figuren äußerst distanzlos, Gesichter und Körperteile werden in Großaufnahmen und darüber hinaus abgetastet, bis jegliche Orientierung verlorengeht. Auch Coré neigt zur Übertreibung, wenn sie nach dem sprichwörtlichen Vernaschen eines jungen Einbrechers eine ganze Innenwand mit dessen Blut dekoriert. Heftiger noch sind die zwei dramaturgisch wohlplatzierten Vergewaltigungsszenen, die sich dank der Art der Inszenierung fast wie mittendrin statt nur dabei anfühlen. Das macht keinen Spaß und soll es auch nicht.

Dem Film geht das Comichafte anderer Horrorfilme komplett ab; dennoch spielt er eindeutig in einem Paralleluniversum, in dem ein Zimmermädchen so viel Zeit hat, dass es sich während seiner Schicht genüsslich eine Zigarette anstecken und es sich auf dem Bett eines der Gäste bequem machen kann. Diese und andere Entrücktheiten nehmen „Trouble Every Day“ etwas von seinem seinen Realismus und damit seine Wucht. Dazu zählt auch, dass sich eine aparte junge Frau wie June ausgerechnet einen Vincent Gallo als Ehemann aussucht, der hier genauso gruselig aussieht, wie es der rassistische Unsympath in der Realität offenbar auch ist. Als Allegorie auf gegenseitige Entfremdung funktioniert der Film dennoch passabel, ebenso als krude Verbildlichung tödlicher Triebhaftigkeit, die Leidenschaft, Lust und Zweisamkeit ins Gegenteil verkehrt.

Die dem innewohnende Tragik ist fester Bestandteil dieses Films, der in seinen emotionalen Momenten mitunter glänzt, mit erotischen Szenen auf eine falsche Fährte lockt, mit seiner unmittelbaren Gewalt verstört und mit einem ‘nen Mega-Cumshot ins Waschbecken wichsenden Gallo unfreiwillig belustigt. Auf sein Tempo muss man sich einlassen können, was wohl am besten im abgedunkelten, ablenkungsfreien Kinosaal gelingt. Das offene Ende lädt zum Reflektieren ein und der eigenwillige Soundtrack der britischen Gruppe Tindersticks klingt in den Ohren nach. Für ein erstes Rendezvous aber ist „Trouble Every Day“ eher nix.
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Licorice Pizza

Die halbtotale Erinnerung

US-Regisseur Paul Thomas Andersons („Inherent Vice – Natürliche Mängel“) jüngster abendfüllender Spielfilm ist die für seine Verhältnisse überraschend unsperrige und leichtfüßige Coming-of-Age-Liebeskomödie „Licorice Pizza“, ein ‘70er-Jahre-Throwback, der im November 2021 in den US-Kinos startete und es im Januar 2022 nach Deutschland schaffte. Er basiert auf den Erinnerung seines Freunds Gary Goetzmans; der Titel ist einer in den 1970ern in den USA verbreiteten Schallplattenladenkette entlehnt (schwarze Vinyl-Schallplatte = „Lakritzpizza“), die im Film allerdings keinerlei Rolle spielt.

Das San Fernando Valley in Los Angeles im Jahre 1973: Gary Valentine (Cooper Hoffman) ist 15 Jahre jung, ein beliebter Kinderdarsteller aus dem Film „Unter einem Dach“ (angelehnt an den Film „Deine, meine, unsere“) um eine kinderreiche Patchwork-Familie und bereits ein geschäftstüchtiger Jungunternehmer, der eine eigene PR-Agentur betreibt, für die auch seine Mutter arbeitet. Entsprechend selbstbewusst tritt er seiner moppeligen und pickligen Erscheinung zum Trotz gegenüber Alana Kane (Alana Haim) auf, als er sie zu einem Rendezvous einzuladen versucht. Alana ist bereits zehn Jahre älter, verdingt sich als Fotoassistentin und fällt ihm auf, als in seiner Schule Jahrbuchfotos geschossen werden. Widerwillig lässt sich die ebenfalls nicht auf den Mund gefallene Alana auf das Treffen ein, wobei man sich miteinander anfreundet. Als Gary zusammen mit dem „Unter einem Dach“-Team zu einer Fernsehaufzeichnung nach New York eingeladen wird, begleitet Alana ihn als Aufpasserin, da seine Mutter unabkömmlich ist. Dort lernt Alana Garys Schauspielkollegen Lance (Skyler Gisondo, „Halloween“ (2007)) kennen, doch das erste gemeinsame Abendessen mit Alanas orthodox-jüdischen Eltern überstehen die geknüpften zarten Bande nicht. Stattdessen laufen sich der unter Liebeskummer leidende Gary und die um ihren eigenen Platz im Leben kämpfende Alana sich wieder über den Weg. Und wieder. Und wieder…

Um eine höchstmögliche Authentizität zu erlangen, hat Anderson seinen Film auf 35-mm-Material und mit Kameralinsen aus dem Analogzeitalter gedreht. Dieser Drang zur Unverfälschtheit spiegelt sich auch in den ungeschminkten Darstellern der Hauptrollen wider, die tatsächlich wie echte Menschen mit ihren Makeln und ihrer „Unvollkommenheit“ aussehen – und nicht wie Hollywood-Schönheiten, die echte Menschen spielen. Das geht so weit, dass Alana auch im wahren Leben Alana heißt, der Nachname ihrer Rolle an den Klang ihres realen Nachnamens angelehnt wurde und ihre Familie größtenteils von ihrer tatsächlichen Familie gespielt wird (wie Philip Seymour Hoffmans Sohn Cooper debütiert auch Haim hier in einem abendfüllenden Spielfilm; bekannter ist sie als Teil des Popmusik-Trios „Haim“, in dem sie zusammen mit ihren Schwestern musiziert und für die Anderson bereits Musikvideos drehte).

Hauptbestandteil der Handlung ist die Entwicklung der Beziehung Alanas und Gary zueinander, vor dem Hintergrund der Selbstfindung Alanas. Diese wundert sich über sich selbst, darüber, dass sie mit dem oftmals noch recht kindischen Gary und dessen Freunden lieber etwas unternimmt als mit Gleichaltrigen, und hadert damit, dass sie weder beruflich noch in Bezug auf eine libidinöse Beziehung bisher so wirklich ein Bein auf die Erde bekommen hat. Die Komik des Films ist frei von Slapstick und Klamauk, setzt stattdessen auf komische Situationen, gepfefferte Dialoge, die Karikatur populärkultureller Persönlichkeiten und die Absurdität zumindest von Teilen des Zeitgeists.

Doch bei allem Humor bleibt der Ernst nicht ausgespart: Neben kleineren zwischenmenschlichen Dramen zwischen Alana und Gary findet sich dieser u.a. in der Ölkrise, die über die USA hereinbricht, und im Wahlkampf des jungen Demokraten Joel Wachs (Benny Safdie, „Pieces of a Woman“), dessen Team sich Alana anschließt. Dieser wird bespitzelt, um etwas Despektierliches über ihn herauszufinden, was indirekt auf die verbreitete Homophobie der damaligen Zeit anspielt. Barbra Streisands Friseur Jon Peters wird von Bradley Cooper („Hangover“) als fieser Kotzbrocken verkörpert, der jedoch sein Fett wegbekommt. Sean Penn („Dead Man Walking – Sein letzter Gang“) mimt Jack Holden, offenbar eine Persiflage auf William Holden, der sich mit Alana und Tom Waits („Rumble Fish“) nur noch in Filmzitaten unterhält und betrunken einen Motorradstunt hinlegt. Dieser wird jedoch von einer irrwitzigen Rückwärtsfahrt durch die Hollywood Hills mit einem Transporter ohne Sprit im Tank getoppt. Zum Zeitgeist wiederum zählt, dass Wasserbetten der letzte Schrei waren und Flipperautomaten legalisiert wurden, beides wurde hier sehr eindringlich filmisch verarbeitet.

Angesichts der grundsätzlichen Schwere von Themen wie Ölkrise, orthodox-religiöses Elternhaus, Wahlkampf mit schmutzigen Methoden, aber auch Gewaltandrohungen und -ausbrüchen, einer Verhaftung Garys und einem offenbar frei herumlaufenden Mörder dürfte es Teile des Publikums irritieren, dass „Licorice Pizza“ sein Gewicht nicht entsprechend verlagert und etwas aus diesem Portfolio des Schreckens eskalieren lässt. Stattdessen bleibt er fokussiert auf Alanas und Garys Gefühlswelt. Beide bleiben nicht untangiert von diesen Ereignissen, allzu großen Einfluss haben sie aber nicht auf sie – denn es gibt da etwas, das für sie viel bedeutender ist. Zudem scheint mir diese Herangehensweise ein bewusstes Spiel Andersons mit der Verklärung der eigenen Phase des Heranwachsens zur „guten, alten Zeit“ zu sein, in der wer weiß was auf der Welt los sein konnte, individuelle positive Erfahrungen wie verrückte, aber erfolgreich gemeisterte Stationen des Erwachsenwerdens die Erinnerung aber dominieren.

Oder anders ausgedrückt: Wird man in dieser persönlichkeitsprägenden Phase durch Ereignisse wie die oben genannten zwar durchaus behindert, wird sie einem aber nicht grundlegend genommen, verhindern sie keine nostalgischen Rückblicke. Wer also meint, es gehe in „Licorice Pizza“ letztlich um nichts, irrt gewaltig: Für Alana und Gary geht es um alles! Haim und Hofman glänzen in ihren Rollen, wie es für Debütant(inn)en alles andere als an der Tagesordnung ist; möglicherweise kommt es ihnen zugute, dass sie sich bereits kannten und Alana, so liest man, als dessen Babysitterin tatsächlich auf ihn achtzugeben hatte. Die Kameraarbeit mit ihren herrlichen Fahrten ist ebenfalls eine Klasse für sich, das Ambiente ist sonnig, die Geschichte zärtlich und herzlich erzählt, die musikalische Untermalung stimmig, hörenswert und zeitgenössisch – mit Ausnahme des von Chris Norman und Suzi Quatro gesungenen Hits „Stumblin' In“, das erst fünf Jahre später veröffentlicht wurde.

„Licorice Pizza” ist ein hintersinniger Herzwärmer, der aufgrund seines Handlungsorts und seines karikierenden Humors hin und wieder an Tarantinos „Once Upon a Time… in Hollywood“ erinnert, sich jedoch nicht auf den Filmbetrieb fokussiert und die reale Historie nicht umschreibt. Welch zumindest in Teilen windiger und dadurch tendenziell unsympathischer Geschäftemacher Gary eigentlich ist, scheint jedoch niemand zu bemerken, weshalb mir nicht ganz klar ist, inwieweit diese Wirkung intendiert ist oder ob nur ich das so empfunden habe. Das hat etwas von einer naiv anmutenden, unreflektierten Darstellung des „amerikanischen Traums“, entspricht womöglich aber auch schlicht dem damaligen Zeitgeist. Nichtsdestotrotz: Ein wunderbares zelluloidgewordenes Stück fremder persönlicher Erinnerung, in der man auch als Spätgeborener gern mitschwelgt, und zugleich die Geschichte einer ungewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehung.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Eolomea – Unheimliche Zeichen aus dem All

Auf zu neuen Ufern!

„Eine ganz gewöhnliche Annihilation.“

Science-Fiction-Filme aus der DDR gibt es nicht viele, „Eolomea – Unheimliche Zeichen aus dem All“ aus dem Jahre 1972 ist einer davon. Regisseur Herrmann Zschoche („Leben zu zweit“) verfilmte eine Geschichte des Bulgaren Angel Wagenstein, die von Willi Brückner in Drehbuchform gebracht wurde. Koproduziert wurde der Film in der Sowjetunion und in Bulgarien.

„Das Bild des Sternenhimmels erregt mich noch immer!“

Irgendwann in der Zukunft: Bereits sieben Raumschiffe sind nicht von ihren Missionen zurückgekehrt. Als ein achtes Raumschiff verschwindet und als die Verbindung zur Raumstation „Margot“ abbricht, beraumt Professorin Maria Scholl (Cox Habbema, „Denn ich sah eine neue Erde“), die Leiterin der Station „Erde-Zentrum“, einen Krisenstab an, der über ein Verbot sämtlicher weiterer Raumflüge abstimmt. Diese wiederum will Professor Oli Tal (Rolf Hoppe, Tödlicher Irrtum“) unbedingt verhindern. Dieser empfing einst Signale aus dem Sternbild Cygnus, die als „Eolomea“ dechiffriert wurden. Heimlich arbeitet Tal an einer Kontaktaufnahme. Zusammen mit Kapitän Daniel Lagny (Ivan Andonov, „Männer auf Dienstreise“) und Prof. Scholl begibt er sich auf eine Reise zur „Margot“, in der Hoffnung, auch mehr Informationen über „Eolomea“ zu erhalten…

„Dieses ganze kosmische Abenteuer der Menschheit ist ein Schwachsinn!“

Ein psychedelischer Vorspann, kühn geschnittene Wechsel zwischen mehreren Handlungsorten und Zeitebenen, Zwischenschnitte, Rückblenden – oder Visionen? Es kann ein wenig dauern, bis man sich in Zschoches auf 70-mm-Material gedrehtem Film zurechtfindet, was die gelungenen, liebevoll mit Details versehenen Kulissen (z.B. ein Bahnfenster im Raumschiff mit Warnhinweis), Miniaturen und zeitgenössischen Spezialeffekte jedoch ebenso angenehm gestalten wie die beschwingte, sphärische und sehnsuchtsvolle Musik Günther Fischers. „Eolomea – Unheimliche Zeichen aus dem All“ ist international besetzt, ein für etwas Komik sorgender Roboter komplettiert das Ensemble.

„Die Toten sind lebendig und die Verrückten ganz normal!“

Daniel „Dan“ Lagny neigt zu kritischen Anmerkungen sowie fatalistischen Sprüchen und ist zwischendurch (oder wann auch immer) zurück auf der Erde von Luna-3. Sein Kollege Pierre (Petar Slabakov, „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“) hat auf einem fremden Planeten schwarze Schattenwesen entdeckt und ist krank geworden, sein Körper ist übersät von schwarzen Flecken. In Richtung Sci-Fi-Horror entwickelt sich „Eolomea“ jedoch nicht, sondern verhandelt die Sehnsüchte und Ideale seiner Figuren, die dem Roboter Gewissensfragen stellen. Eine Silvesterfeier findet im All und zeitgleich auf der Erde statt, wobei selbst da verschleiert wird, in welchem Jahr „Eolomea“ denn nun eigentlich spielen soll. Zeit und Raum verschwimmen, einzig die Orientierung weniger Eingeweihter gen „Eolomea“ bleibt.

Das ist alles letztlich auch gar nicht so wichtig, denn in erster Linie ist Zschoches Kleinod eine Parabel auf den Alltagstrott im Sozialismus, dem junge Menschen notfalls auch ohne Möglichkeit zur Wiederkehr entfliehen wollen. Seltsamerweise scheinen dies die DDR-Zensoren nicht verstanden zu haben, jedenfalls wurde „Eolomea“ mit seiner Etablierung eines fremden Planeten als hoffnungsvollem Sehnsuchtsort und seinem Plädoyer für Ungehorsam durchgewunken.

Das macht „Eolomea“ zu einer sehenswerten, sowohl aus der Reihe üblicher Science-Fiction-Genrekost als auch des DEFA-Programms tanzenden Besonderheit, die insbesondere im Kino sicherlich ein echtes Erlebnis wäre – wenn auch dramaturgisch noch einige Luft nach oben ist. Fürs bundesdeutsche Privatfernsehen drehte Zschoche nach der „Wiedervereinigung“ Schoten wie „Natalie – Endstation Babystrich“. Ob sich damit seine persönliche Sehnsucht erfüllt hat, ist nicht überliefert. Die Ausnahmestellung „Eolomeas“ indes unterstreicht dies nur.
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The Batman

„Ich bin Vergeltung!“

Am Ende einer bewegten Produktionshistorie stand fest, dass der gebürtige New Yorker Matt Reeves („Let Me In“) das Drehbuch des nächsten Batman-Films zusammen mit Peter Craig verfassen und auch die Regie übernehmen würde. Ins Fledermausmannkostüm schlüpfte Robert Pattinson („Twilight – Biss zum Morgengrauen“). Der wie bereits „Joker“ vom DC Extended Universe abgekoppelte Big-Budget-Major-Film startete im März 2022 international in den Kinos.

„Ich ein Tier der Nacht. Die mich fürchten, denken, ich käme aus dem Schatten. Aber ich bin der Schatten.“

Der Millionärswaise Bruce Wayne befindet sich im zweiten Jahr seiner Karriere als maskierter Rächer, der in seiner unter Korruption, Gewaltkriminalität und Drogenhandel ächzenden Heimatmetropole Gotham City antritt, um die Auswüchse der Anomie zu bekämpfen und die schlimmsten Verbrecher das Fürchten zu lehren. Seine Eltern wurden einst umgebracht, doch sein Diener Alfred Pennyworth (Andy Serkis, „Sex & Drugs & Rock & Roll“) kümmert sich aufopferungsvoll um ihn. Die Aktivitäten als Batman betrachtet er mit einem kritischen Auge, denn er ist stets um seinen Schützling besorgt, der psychisch am Zustand der Stadt und am eigenen Werdegang zu zerbrechen droht. Als während des Bürgermeisterwahlkampfs Amtsinhaber Don Mitchell (Rupert Penry-Jones, „The Moth“) ermordet wird, entpuppt sich die Tat als der Auftakt eines maskierten Serienmörders, der es auf die Stadtelite abgesehen hat und angibt, ein Lügendickicht offenlegen zu wollen: des Riddlers (Paul Dano, „Little Miss Sunshine“). Dieser hinterlässt stets kleine Rätsel für Batman, mit dem er sich ein Katz-und-Maus-Spiel liefert, in ihm aber auch eine Art Vorbild und Verbündeten sieht. Einen wahren Verbündeten hat Batman in Polizeichef James Gordon (Jeffrey Wright, „Keine Zeit zu sterben“), der gegen alle Kritik mit Batman zusammenarbeitet, ohne dessen wahre Identität zu kennen. Beim Versuch, der Situation Herr zu werden und nicht nur dem Riddler, sondern auch dessen nächsten Opfern auf die Spur zu kommen, führen Batmans Wege zum Clubbesitzer und Mafioso Oswald „Der Pinguin“ Cobblepot (Colin Farrell, „Minority Report“) und dessen Geschäftspartner Carmine Falcone (John Turturro, „The Big Lebowski“). Und in der akrobatischen Diebin Selina Kyle alias Catwoman (Zoë Kravitz, „Mad Max: Fury Road“) lernt Batman eine weitere ambivalente Person kennen, für die er sich auch auf zwischenmenschlicher Ebene zu interessieren beginnt…

„Er lügt still.“ (Wie bitte?!)

Die Batman-Comics waren stets auch ein Kommentar zum jeweiligen Zeitgeist sowie zur politischen und gesellschaftlichen Realität. Die Verfilmungen waren es mal mehr, mal weniger. „The Batman“ wiederum ist dies nun ganz bewusst. Keine andere Batman-Verfilmung orientiert sich derart stark am in den 1970ern und ‘80ern in den Comics etablierten Neo-noir-Stil mit seiner düsteren Atmosphäre und den entsprechenden Inhalten der Handlung. Damit einher geht eine Art Neustart, wie ihn das DC-Universum alle paar Jahre erlebt (und der möglicherweise, so wird gemunkelt, Startschuss für die Kreation eines neuen DC-Multiversums ist, in der mehrere Erzählstränge zeitgleich in Paralleluniversen stattfinden können). Dies bedeutet, dass Batman in der Gegenwart der 2020er ein junger Mann ist. Seine Batman-Werdung wird nicht gezeigt, es handelt sich um keine Origin-Story. Sie wird weitestgehend als bekannt vorausgesetzt bzw. bruchstückhaft in Dialoge eingeflochten. So kann Batman über aktuelle Technik-Gadgets verfügen, existiert das Internet, dessen soziale Netzwerke Wechselwirkungen mit klassischen Massenmedien eingehen, und existieren somit auch mit diesen technischen Entwicklungen einhergehende Probleme und Herausforderungen.

Diese macht sich der Riddler zunutze, der einer radikalen Modernisierung anheimfiel: Grüner Strampelanzug adé, dieser Riddler ist ein Techniknerd und zugleich beunruhigend gewiefter Fallensteller wie brutaler Soziopath in gruseliger Maske, gefährlich und genial. Seine Vorgeschichte ist gut durchdacht und offenbart sich einem in vorsichtigen Dosen nach und nach. Erstmals bekommt man es in einem Batman-Kinofilm nun auch mit einem Pinguin zu tun, der seiner Comichaftigkeit komplett beraubt wurde und das exakte Gegenteil der fabelhaften Karikatur, die Danny DeVito 1992 in „Batmans Rückkehr“ spielte, darstellt: Ein hässlicher, adipöser Gangster, durch Narben zusätzlich verunstaltet – der ansonsten aber genauso aussieht, wie man ihn sich als realen Menschen vorstellen würde. Dass sich dahinter ein bis zur Unkenntlichkeit geschminkter Colin Farrell verbirgt, spricht für eine großartige Maskenarbeit. Falcone verkörpert den Gegenpart zum Pinguin: Zwar sogar noch krimineller, aber wesentlich abgebrühter, kontrollierter, aalglatt und selbstsicher. Während der Pinguin impulsiv ist und schnell vulgär wird, scheint Falcone als kühler Stratege über den Dingen zu stehen. Ein ebenso abstoßendes wie faszinierendes Gangstergespann, dessen ganze Abgründe sich erst im Laufe der Zeit auftun. Generell verrät „The Batman“ nie zu viel auf einmal, sodass trotz diverser Tempowechsel die knapp drei Stunden Laufzeit stets interessant und spannend bleiben.

Seine Verstrickungen, Abläufe und Kettenreaktionen sind erstklassig konstruiert; Batmans detektivischem Spürsinn wird relativ viel Raum gegeben, er darf sogar Fehler machen und auch mal die Nerven verlieren. Actionfans kommen bei feurigen Verfolgungsjagden im Straßenverkehr, entfesselten Schießereien sowie im großangelegten Finale auf ihre Kosten. Batman ist hier kein Muskelmann, sondern ein reaktionsschneller Akrobat, was er mit Catwoman gemein hat. Diese lernt er innerhalb dieser Geschichte erst kennen, woraufhin sich eine zwischen Nähe und Unnahbarkeit pendelnde Beziehung zwischen beiden Figuren entwickelt, die mit Sehnsucht und Melancholie einhergeht und somit ebenfalls den Comics entspricht. Zoë Kravitz ist eine würdige Seline Kyle, die ihre Figur bodenständig und kämpferisch auslegt und dabei dennoch über einen nicht ungefähren Sex-Appeal verfügt.

Das verregnete Gotham als urbaner Moloch und Sündenpfuhl ist in seinem Erscheinungsbild verdammt nah dran an realen westlichen Metropolen. Seine Korruption zieht sich bis in die Polizei hinein, „The Batman“ taugt somit nicht als Werbefilm für eine hart durchgreifende Exekutive. Und auch nicht für Vigilantentum, deren Vorbildfunktion und Selbstjustiz der Film ebenso diskutiert wie die Korrumpierung von und durch Macht, die schwerwiegenden Folgen des damit einhergehenden Vertrauensverlusts und die Hoffnung auf Verbesserungen, die angesichts dieser Umstände ein nur allzu zartes Pflänzchen ist. In diesem Zuge werden auch Batmans Eltern ein Stück weit entzaubert. Parallelen zwischen Batman und dem Riddler werden aufgezeigt und die Unterschiede in der jeweiligen Sozialisation herausgearbeitet, die möglicherweise dazu geführt haben, dass beide dann doch irgendwann in verschiedene Richtungen abgebogen sind.

Für Humor ist hier kaum Platz und so wird man dankenswerterweise auch von keinen pseudolässigen Einzeilern oder ähnlich deplatziertem Unfug genervt. Stattdessen darf man sich über die eine oder andere Gänsehautszene freuen, über allegorische Bilder, Versatzstücke des urbanen Neo-noir-Thrillers und einen wunderbaren Soundtrack inklusive Nirvanas zerbrechlicher Ballade „Something in the Way“, der lediglich den „Ave Maria“-Einsatz etwas überstrapaziert. Auf eine mögliche Enttarnung Batmans gegen Ende, deren Ausgang eigentlich bereits einen guten Schlusspunkt gesetzt, folgt eine weitere Wendung, die das überraschende, actionlastige Finale einläutet, Batman eine charakterliche Weiterentwicklung gewährt und einige Aspekte des Subtextes noch einmal eindrucksvoll veranschaulicht.

Überraschend sind auch die deutschen Inserts bei intradiegetischen Texten, die jedoch nicht konsequent Anwendung finden. Schwer tat sich die deutsche Bearbeitung auch bei der Übersetzung des ersten Riddler-Rätsels „What does a liar do when he’s dead? – He lies still.“ Aus der Wortspielantwort wurde „Er lügt still“. Nun ja. Und Pattinson? Der changiert durchaus überzeugend zwischen dem maskierten Rächer, der es deftig krachen lässt, und dessen realer Identität als Bruce Wayne, die jedoch vielmehr wie das eigentliche Alter Ego wirkt: blass, trübsinnig und krank, ohne echten Platz im Leben. Damit geht einher, dass Pattinson mimisch in den maskenlosen Szenen nicht übermäßig viel zu tun bekommt und in erster Linie seine Gruftie-Leichenbittermiene zu bemühen braucht.

Alles in allem ist „The Batman“ vielleicht der bis jetzt vollständigste Batman-Film. Jedenfalls stellt er hohe Ansprüche an sich selbst, die er auch erfüllt. Dass auch nach dem x-ten erfolglosen Schuss auf Batmans kugelsicheren Panzer kein Angreifer auf die Idee kommt, einmal auf eine andere Körperstelle zu zielen, Batman auch ohne Superkräfte die spektakulärsten Stunts ohne nennenswerte Blessuren übersteht und es stets scheinbar mühelos mit zig Gegnern auf einmal aufnimmt, während er Nehmerqualitäten wie kein Zweiter besitzt, ist indes durch die meisten Comicvorlagen vorgegeben und muss auch hier akzeptiert werden, wenn auch manchmal etwas zähneknirschend. In allen anderen Belangen ist „The Batman“, von Fantasy-Elementen komplett befreit, einem Realismus verpflichtet, der zumindest Teilen des typischen Superhelden-Blockbuster-Publikums zu viel sein könnte.

8,5 von 10 Rätsellösungen für „The Batman“. Ich freue mich auf die Fortsetzung.
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Tatort: Tyrannenmord

„Gewalt ist eine Lösung!“

Die fünfte „Tatort“-Inszenierung des Regisseurs Christoph Stark („Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“) basiert auf einem Drehbuch Jochen Bitzers. Es handelt sich um „Tyrannenmord“, den 16. Einsatz für Bundespolizist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring), zugleich der zehnte zusammen mit Bundespolizistin Julia Grosz (Franziska Weisz). Uraufgeführt wurde diese Episode der öffentlich-rechtlichen Krimireihe im September 2021 auf dem 28. Internationalen Filmfest Oldenburg, die TV-Erstausstrahlung folgte am 20. März 2022.

„Du hast nichts getan und trotzdem hast du lebenslänglich!“

Der 17-jährige vermeintliche Diplomatensohn Juan Mendez (Riccardo Campione, „Gladbeck“), Schüler eines südniedersächsischen Elite-Internats, entpuppt sich nach seinem plötzlichen Verschwinden als Lendenspross des Diktators des südamerikanischen Staats Orenaka. Dass dies ausgerechnet passiert, als Juans Eltern (Alexandra von Schwerin, „Helen Dorn“ und Bernhard Leute, „Herbstkind“) auf Staatsbesuch kommen, um über ein Handelsabkommen im Gegenzug für mehr Pressefreiheit zu verhandeln, verleiht der nicht nur für Juans Lehrerehepaar Bergson (Katarina Gaub, „Harter Brocken“ und Christian Erdmann, „Nächste Ausfahrt Glück“) unangenehmen Angelegenheit zusätzliche Brisanz. Bundesbulle Falke soll in diesem Fall ermitteln und wird zu höchster Diskretion verdonnert, an seine Seite stellt man ihm jedoch anstelle seiner eigentlichen Kollegin Julia Grosz den unerfahrenen Jungspund Felix Wacker (Arash Marandi, „Die defekte Katze“). Wer hat Juans bulligen Leibwächter Carlos (José Barros, „Goliath“) ein Getränk mit K.O.-Tropfen verabreicht? Versteckt sich Juan schlicht vor seinen Eltern, wie sein Schulfreund August (Anselm Bresgott, „Windstill“) vermutet, oder haben Regimegegner ihn auf dem Gewissen, wie Juans Freundin Hanna (Valerie Stoll, „Trübe Wolken“) befürchtet? Tatsächlich taucht ein Erpresserschreiben auf, das für eine Entführung spricht…

„…wie in so’ner Bananenrepublik!“

Im Internatsunterricht wird gerade verhandelt, inwieweit Gewalt für politische Lösungen taugt, während die Sicherheitschefin des Diktators eine Demo gegen die Diktatur untersagen will. Falke beweist dabei Haltung; bei manch Zuschauer(in) dürften Erinnerungen an die ungeheuerlichen Vorgänge während der Demonstrationen gegen den Schah von Persien wachwerden. Ein ebenso interessanter wie politischer Auftakt, dazu gesellt sich eine zarte Romanze zwischen Hanna und Juan, der stets seinen Leibwächter an den Hacken hängen hat. Die erste große Frage lautet kurz darauf, wer Carlos aus welchen Gründen derart sediert hat, dass ihm Juan entfleuchen konnte. Die zweite Frage: Wo steckt Juan und weshalb ist er verschwunden? Das klassische Whodunit?-Prinzip wird also nicht nur um die Motivsuche erweitert, sondern auch um das Rätsel, was überhaupt passiert ist.

„Herzinfarkt wär‘ jetzt nicht schlecht – dann wär‘ mein Tag gerettet!“

Das ist reizvoll und spannend, zumal gleich mehrere Figuren sich eigenartig verhalten und sich verdächtig machen – oder zumindest offenbar mehr wissen als die Polizei und das „Tatort“-Publikum. Als sich Juan als Diktatorensohn herausstellt, wird klar, dass reale Fälle wie der des aktuellen nordkoreanischen Machthabers, der eine Schweizer Lehranstalt besuchte, offenbar zu dieser Idee inspirierten. Wird nun also ein spannender Polit-Thriller daraus, in dem die Politik, durch Handelsbeziehungen zu einer Diktatur mehr Freiheiten für deren Volk zu erreichen, nicht nur diskutiert, sondern durch einen gewaltsamen Übergriff radikaler Regimegegner auch torpediert wird – und mittendrin ein mitteleuropäisch sozialisierter Junge, der einfach nur ein normales Leben führen und mit seiner Freundin glücklich werden möchte, aber nun um sein Leben bangen muss?

Leider nein. Stattdessen sehen wir, wie Falke mal mit und mal gegen Carlos ermittelt, der bei seinen eigenen Nachforschungen mit wesentlich rabiateren Methoden vorgeht. Wie ein Todesfall die Spannung eher herausnimmt, statt sie zu erhöhen. Wie ein offenbar fingiertes Geständnis breit ausgewalzt wird, Falke aber trotzdem den richtigen Riecher hat. Und wie eine überkonstruierte, höchst unwahrscheinliche Auflösung den Fall fast aller politischer Brisanz beraubt und den Großteil des Potenzials dieses „Tatorts“ verschenkt. Das ist enttäuschend. Immerhin involviert Falke seine Kollegin Grosz dann doch in die Ermittlungen, sodass Franziska Weisz zumindest zu etwas Bildschirmpräsenz kommt. Internate wie das hier dargestellte kommen nicht gut weg, sie bilden die Basis für ein wenig Sozialkritik – die angesichts der verpassten Chancen dieses Falls eher Alibicharakter hat.

Möhring gibt seinen Falke routiniert raubeinig und mürrisch, inklusive Punk-Soundtrack und dem obligatorischen Glas Milch. Schön und gut. Aber ein wirklicher runder, plausibler und trotzdem gern auch provokativer, harter, vor allem relevanter Fall für diese Figur dürfte es dann schon gern mal wieder sein.
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Together – Die Lust zu zweit

„Liebe macht Sex poetisch!“

Die US-Regisseure Sean S. Cunningham („Freitag der 13.“) und Wes Craven („A Nightmare on Elm Street“), die später einige der ikonischsten Horrorfilme drehen sollten, standen zu Beginn der 1970er-Jahre noch ganz am Anfang ihrer Karrieren: Cunningham hatte gerade den Dokumentarfilm „The Art Of Marriage“ abgedreht, Craven hatte noch keine Regiearbeit vorzuweisen. Im Jahre 1971 erschien „Together – Die Lust zu zweit“, eine mit stilistischen Anleihen beim Sexualreport und dem Mondofilm von beiden in Kooperation gedrehte Pseudoreportage. Eigenartigerweise nennt die IMDb nur noch Cunningham als Regisseur, Craven wird hingegen lediglich als associate producer aufgeführt.

„Wie nennen Sie das, was Sie zwischen den Beinen haben?“ – „Das ist meine Fotze.“

Der US-amerikanische Sexualforscher Dr. Curry möchte mehr Würze ins Sexualleben der Menschen bringen und lehrt daher in seinem Institut auf dem Lande die ideale Verquickung von Liebe und Sexualität, basierend auf dem Kamasutra. So kommen bei ihm junge Erwachsene in ungezwungener Atmosphäre zusammen, um sich unter seiner Anleitung fallenzulassen und sich spirituell wie körperlich einander zu öffnen. Ein Kamerateam begleitet einen der Kurse.

Nach Art einer Reportage inklusive pseudowissenschaftlichem Off-Erzähler werden dem urbanen, Leidenschaftslosigkeit kritisierenden Prolog kontrastierende paradiesische Bilder eines sich in der grünen, sonnigen Natur splitternackt liebenden Paars gegenüberstellt. Pfaffen und Psychodoktoren äußern sich vor der Kamera zu Zweisamkeit und Sex und die sexuelle Revolution wird reflektiert. Von hier aus spannt man den Bogen zu Dr. Currys Liebeskurs, eine Mary Greenwood berichtet von ihren Erfahrungen. Der Film wagt einen Exkurs zu den Hindus und ihrem Kamasutra, nun eingeordnet von einer Off-Sprecherin und garniert mit Softsex-Bildern dunkelhäutiger Darstellerinnen und Darsteller. Das Off-Ensemble komplett macht schließlich der Curry-Doc.

Menschen werden am Strand interviewt, Begrifflichkeiten diskutiert, über Sex gequatscht. Dr. Curry führt Übungen zur Körperlichkeit durch, wir sehen sich gegenseitig massierende und einreibende Paare. Auf ein Plädoyer für weibliche Masturbation folgen ästhetisierte Zeitlupenaufnahmen nacktbadender, aus dem Off kommentierender Frauen. Nächster Themenstopp: Oralverkehr, inklusive der explizitesten Szene des Films: der Großaufnahme eines erigierenden Glieds. Als ein Pärchen – Alicia und John – mit seinem tollen, direkt am Meer gelegenen Hotelzimmer prahlt und sich zu schönen Urlaubsbildern für all die gewonnenen Erkenntnisse bedankt, wirkt das bereits wie ein Epilog, doch es geht noch weiter: Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Liebe und Freundschaft werden erörtert, dazu weitere Urlaubsbilder gezeigt, Off-Weisheiten verkündet und Liebesgesäusel eingefangen. Nach einer guten Stunde ist wirklich Schluss, oder vielmehr: geht es an den ellenlangen Abspann, musikalisch unterlegt mit einer noch längeren schwelgerischen Schnulze.

Was Cunningham und Craven mit „Together – Die Lust zu zweit“ kreierten, ist ein irgendwie langweiliger, zugleich irgendwie netter, unaufgeregter Beitrag zur zeitgenössischen Pseudo-Aufklärungsfilmwelle, der in Urlaubs- und Strandstimmung versetzt, ohne jedoch übermäßig anzuregen. Einen besonderen Stellenwert erlangt er in erster Linie durch den Umstand, dass Cunningham und Craven nur kurz darauf das Genre wechselten und bereits ein Jahr später mit „The Last House on the Left“ Filmgeschichte schrieben. Dagegen ist der weitestgehende unspektakuläre „Together“ nur eine Randnotiz. Bemerkenswert darüber hinaus ist es, dass Marilyn Chambers, die hier als Marilyn Briggs mitwirkte, durch diesen Film von den Mitchell-Brüdern für ihren kommerziell äußerst einträglichen Kunstporno „Behind the Green Door“ entdeckt wurde.
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