Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Koyaanisqatsi

Produktionsland: USA 1983

Regie: Godfrey Reggio
Minutenlang schiebt sich die Schnauze des Flugzeugs der Kamera entgegen, fast wie ein Insekt, das seinen Rüssel ausfährt. Die Luft rundherum flirrt heiß, umgibt es mit einem irgendwie trügerischen Schein, so, als könne es sich auch als Fata Morgana entpuppen, wenn es nahe genug heran ist. Jedoch, je näher es kommt desto abstrakter wird es. Rund um seinen Körper verlaufen drei aufeinander aufbauende, klar voneinander geschiedene Farblinien wie ein Gürtel: Unten schwarz, in der Mitte rot, oben gelb. Mitten im Rot sitzt ein heller Fleck, der für mich immer mehr zu einer Sonne wird, so wie das ihn umgebende Rot zu dem eines Sonnenaufgang oder Sonnenuntergangs, das Schwarz zum Schwarz der Erde, und das Gelb zu den höhergelegenen Luftschichten, wo das Rot nicht hingelangt und die Wolken beginnen. In dieser Flugzeugschnauze spiegelt sich etwas, das zu dem Zeitpunkt, als die Maschine über das Rollfeld auf die Kamera zusteuert, längst verloren ist: Eine Welt ohne Menschen, eine Sonne ohne Technik, eine Landschaft so archaisch, dass wir Mühe haben, überhaupt noch von ihr zu träumen.

„ko.yaa.nis.qatsi (from the Hopi language), n. 1. crazy life, 2. life in turmoil, 3. life out of balance, 4. life disintegrating, 5. a state of life that calls for another way of living.”

Acht Jahre dauert die Produktion des US-amerikanischen Experimentalfilms KOYAANISQATSI. Zwischen den allerersten Dreharbeiten, die Regisseur Godfrey Regio und Kameramann Ron Fricke für ihr zu diesem Zeitpunkt noch diffus umrissenes Projekt anstellen – sie filmen 1975 die kolossale Sprengung des kolossal gescheiterten Sozialbaukomplexes Pruitt-Igoe in Missouri -, bis hin zum offiziellen Kinostart im Jahre 1983 – inzwischen hat man in Francis Ford Coppola einen Mentor gefunden, der über den ansonsten von Geldern des Instituts for Regional Education finanzierten Film seine prestigeträchtigen Hände hält -, sind verschiedene Konzept ent- und verworfen worden, und KOYAANISQATSI hat sich von einer reinen Portraitstudien New Yorker Alltagsmenschen hin zu einer dezidiert kritischen Gesamtschau der modernen Gesellschaft entwickelt, die vor allem aufgrund ihrer technischen Aspekte Anfang der 80er ihr Publikum regelrecht überwältigt haben muss. Gigantische Teleobjektive helfen Regio und Fricke, Objekte wie einen hinter einem Hochhaus verschwindenden Nachtmond oder eine Flugzeugschnauze derart nahe an uns heranzuholen, dass uns das Oft-Gesehene kaum noch vertraut vorkommt. Außerdem haben sie – was für ein Aufwand im analogen Zeitalter! – die Zauberkünste von Zeitraffer und Zeitlupe für sich entdeckt. Kaum eine Aufnahme in KOYAANISQATSI birgt nicht entweder dadurch, dass sie die in ihr dargestellten Bewegungen entweder stark verlangsamt oder stark beschleunigt, das Potential, dass wir selbst Ereignisse, mit denen wir in unserem Alltag andauernd konfrontiert sind, in einer bisher unbekannten Weise neu kennenlernen. Einen Kommentar gibt es in KOYAANISQATSI nicht, dafür ist der Film regelrecht erfüllt von der seriellen, meist elektronischen, manchmal auch mit Streichern, Bläsern, Chorgesängen verschnörkelten Musik Philip Glass‘, manchmal so frenetisch, manchmal so ungestüm, dass die Bilder fast unter ihr verschwinden.

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In Wim Wenders‘ Dokumentation über seinen liebsten Filmemacher, den Japaner Yasojiru Ozu, TOKYO-GA (1985), kommt auch Werner Herzog zu Wort. Er beklagt sich darüber, dass in Tokyo, oder jeder beliebigen anderen Weltmetropole, inzwischen alles zugebaut sei, die Wolken, die Landschaft verstellt von Wolkenkratzern, Flugzeugen, Menschenmassen. Aber auch auf Bilder kann man diese Klage anwenden. Sobald das Kino – meist das abseitige – eine bestimmte Form gefunden hat, einen bestimmten Gedanken prägnant und pointiert visuell zu veranschaulichen, ist der Moment nicht weit, in dem diese Form Eingang findet in eine Werbeästhetik, die ihn instrumentalisiert, um mir mit ihm und durch ihn etwas zu verkaufen, das ich oft weder brauche noch überhaupt haben will. Ein solches verbrauchtes Bild wäre: Ein Wolkenkratzer, gefilmt von schräg unten, und wie die Wolkenwellen sich in seinen zahllosen quadratischen Glasscheiben spiegelnd im Zeitraffer vorbeiziehen. Oder: Der Sand in der Wüste, fein verwoben mit Windzügen, die die Dünen passieren und ihre anmutigen Silhouetten sowohl modellieren als auch sie entlangstreichen. Oder: Nächtlicher Verkehr, im Zeitraffer abgespielt, sodass die vielen Fahrzeuge zu bunten Lichtern werden, die wie an einer Kette entlangrasseln, hoch, runter, von links nach rechts, und umgekehrt, je nach Ampelführung. In KOYAANISQATSI sind solche Bilder noch die reinste Unschuld, unbeackert von Botschaften, die sie in den Dienst einer anderen Sache stellen würde als der erklärten Absicht Reggios und Frickes, uns, quasi von außen, aus der Perspektive eines Aliens oder eines Gottes, vorzuführen, in was für einem seltsamen, eigentlich unmenschlichem, unnatürlichem Trott wir Tag für Tag gefangen stecken – eine Unschuld, die man erst wiederfinden muss, nun, dreißig Jahre später, wo jedes zweite Musikvideo und jeder zweite Werbefilm auf gleiche Techniken, gleiche Bilder, gleiche ästhetischen Praktiken zurückgreift, um die Sinne zu fluten.

Die Canyons schlafen, menschenleer und majestätisch. Ein Fluss windet sich schlangengleich durch subtropische Waldteppiche. Mitten aus dem Ozean erheben sich zerklüftete Felsen, die nicht aussehen, als sei Leben dort möglich. Dazwischen wohnen wir per Archiv-Footage dem Start von Weltraumschiffen bei. Heftige Explosionen befördern die Raketen ins All, heftig wie die Geysire und Vulkanausbrüche, mit denen Reggio und Fricke diese Aufnahmen parallelisieren, heftig vor allem wie die Sprengungen nutzlos gewordener Wohnhäuser und Wolkenkratzer, die elegisch in sich zusammensacken, nachdem die Sprengkörper gezündet sind, und ertrinken in einem sich um sie herum aufbauschenden Kleid aus Rauch, das manchmal selbst die Kamera mitverschlingt. Solche Eruptionen stehen aber ziemlich vereinzelt im Fluss des Großstadtlebens, das KOYAANISQATSI am Beispiel New York vorführt: Fußgängervölker, Spielhallen-Pacmen, noch in den Kinderschuhen der Digitalisierung steckend, industriell verfertigte Autoteile, Schweinewürste, Jeansbeine, das alles verschmilzt zu einer Gesamtkomposition aus monotonen Sounds, monotonen Rhythmen, monotonen Bildern, die Reggios und Frickes Film fast bis zum Kollaps durchexerzieren. Nicht nur mir fällt es irgendwann schwer, weiter die Leinwand anzustarren – nein, nicht noch eine Runde, noch rasanter als die vorherige! -, auch der Film gleicht immer mehr einer Achterbahn, die ächzt und krächzt unter der sie entlangsausenden Wagen, dass es nur eine Frage der Zeit ist bis alles in den Abgrund stürzt. Immer schneller werden die Schnitte, in immer heftigere Ekstasen steigert sich der Glass-Score, immer ermüdender werden die immer gleichen Abläufe, und immer konkreter schält sich der Kern dessen heraus, was nicht beschrieben, sondern nur gezeigt werden kann.

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„Translation of the Hopi Prophecies sung in the film. ‘If we dig precious things from the land, we will invite disaster.’ – ‘Near the Day of Purification, there will be cobwebs spun back and forth in the sky.’ – ‘A container of ashes might one day be thrown from the sky, which could burn the land and boil the oceans.’"

Das Kuleschow-Experiment: Man nehme ein Lehrvideo für angehende Schlachter. Informell, nüchtern, ganz auf praktische Anwendung ausgerichtet wird uns gezeigt, wie das denn nun eigentlich funktioniert, das Zerlegen einer Kuh oder eines Schweins, ganz pragmatisch, ganz handfest. Das sieht zwar nicht angenehm aus, aber der sachliche Kommentar, die sachliche Kameraarbeit, das Fehlen eines noch so geringen exploitativen Voyeurismus halten das Filmchen davon ab, einem ärgere Magenschmerzen zu verursachen. Man nehme das gleiche Lehrvideo für angehende Schlachter, eliminiere die Tonspur und ersetze sie durch Ausschnitte einer beliebigen Wagner-Oper. Plötzlich scheinen sich die Bilder um hundertachtzig Grad gedreht zu haben. Was man eben noch mit dem Gedanken, so geht es eben zu in einem Schlachthaus, und das ist nötig, damit ich morgenfrüh meine Knoblauchwurst zum Frühstück essen kann, gewissermaßen wegkonsumieren und abnicken konnte, das erreicht und übersteigt jetzt auf einmal die Grenzen des Erträglichen. Es sind immer noch die gleichen Schweine, die da sterben, und die gleichen Hände, die da ausweiden, und die gleiche vermeintlich objektive Kamera, die dem Treiben zuschaut, als ginge sie das gar nichts an, und doch, allein durch die neue Tonspur, ist der Film nicht mehr auszuhalten, muss ausgemacht werden, sofort. Ohne die unglaublich suggestive, fiebrige Musik von Philip Glass – wie würde der Bilder-Rausch von KOYAANISQATSI dann auf mich wirken?

Dazu: Portraits von ganz normalen Menschen. Vier Casino-Damen posieren vor ihrem Arbeitsplatz im Neonlicht. Ein Obdachloser, scheinbar sturztrunken, wird von Polizeibeamten auf eine Bahre gehievt. Ein junger Mann beäugt grinsend das Treiben um sich herum auf der Straße. Ein Airforce-Pilot lehnt an seiner Maschine. Dazu: Noch mehr Archiv-Aufnahmen, von Panzern, hunderte, tausende, die in Formationen Ballett tanzen, und von Atombomben-Explosionen in der Wüste – wie der Pilz wächst, wird er wirklich zu einem organischen Lebewesen, zu einem Baum ganz ähnlich dem, den wir im Bildvordergrund sehen – und von einem gescheiterten Raketenstart, bei dem eine Atlas-Centaur in hunderte, tausende Stücke zerrissen wird, und die Kamera lange, unermüdlich dem Sinkflug ihres vorderen Abschnitts folgt, der sich um sich selbst dreht, graziös beinahe, schwache Funken und Flammen ausspuckt, einfach nicht den Erdboden erreichen will. Dazu hören wir von der Tonspur die von einem Bariton gesungenen Worte KOYAANISQATSI, die das Raketenfragment in einen Vorboten der bald anstehenden Apokalypse verwandeln.

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Jeder Film hat seine Vorgänger hat – selbst die frühen Szenen der Lumière-Brüder sind aus dem Mutterleib der Photographie gekrochen -, und auch für KOOYANITSQATSI lassen sich welche finden, und zwar in den 20ern, in filmhistorisch ungemein wichtigen Werken wie Dziga Vertovs CHELOVEK S KINOAPPARATOM (1929), wo das Pulsieren russischer Großstädte zum assoziativen Querschnitt durch das Leben in der jungen Sowjetunion aneinandermontiert wird, oder, noch früher, Walter Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), wo die Deutsche Hauptstadt selbst zum lebenden Organismus stilisiert wird, in dessen Fluss die Menschen selbst zu bloßen bedeutungslosen Blutkörperchen werden. John Grierson, der Vater des didaktischen Dokumentarfilms, schreibt 1932 über letzteren Film kritisch: „Soweit der Film sich grundsätzlich mit Bewegungen und dem Aufbau von Einzelbildern zu Bewegungen befaßte, konnte ihn Ruttmann mit Recht eine Symphonie nennen. Es bedeutete einen Bruch mit der der Literatur entnommenen Geschichte und mit dem der Bühne entnommenen Schauspiel. In BERLIN wanderte die Kamera entsprechend ihren mehr natürlichen Kräften umher und schuf einen dramatischen Effekt aus der schnellen Folge von unzähligen Einzelbeobachtungen. […] Trotz allen Lärms um Arbeit und Fabriken und dem Saus und Braus der Großstadt sagt uns BERLIN nichts Wesentliches. […] Fünf Millionen Großstädter standen glänzend auf, stürzten sich in eindrucksvoller Weise in ihren ewig gleichen Tageslauf und gingen wieder zu Bett, aber kein andres göttliches oder menschliches Ergebnis kam zustande als das plötzliche Ausgießen von beschmutzendem Regenwasser über Leute und Pflastersteine.“ Was hätte Grierson wohl von KOYAANISQATSI gehalten, der sein Material, auf den ersten Blick, doch genauso rein auf sensualistische Überwältigung bedacht aneinanderreiht? Hätte Grierson die beiden Schlusstafeln, in denen Reggio und Fricke ihren Filmtitel erklären, schon als moralisch-ethischen Wert gelten lassen, oder hätte er denen auch den Vorwurf der Oberflächlichkeit gemacht?

Die Zeit jedenfalls hat es, mein Empfinden sagt mir das, gut mit KOYAANISQATSI gemeint. Klar, der Film operiert an einer pikanten Stelle. Ist das noch Kunst, ist das schon Kommerz? Ist die Botschaft zu plakativ, sind die Bilder teilweise derart überästhetisiert, dass sie schon mit einem Fuß im Kitsch stehen? Trotzdem, bewahrt hat sich dieser Film, den ich nur jedem, wie ich es erleben durfte, auf einer besonders großen Leinwand empfehlen kann, eine emotional packende Qualität, der zumindest ich mich schwer entziehen konnte - genauso wie einige seiner Bilder noch immer an mir haften wie Kletten: Das Flugzeug, das sich wie ein Insekt der Kamera entgegenschiebt. Die in sich zusammenknickenden Häuser wie von Narkosepfeilen getroffene Elefanten, die in Rauch aufgehen. Der vordere Teil der explodierten Rakete, der ein Tänzchen am Firmament aufführt, zur Einleitung des Weltuntergangs.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Für alle, die es noch nicht wissen sollten: Ich mag meine peplums ja gerne garniert mit dem einen oder anderen phantastischen Element, knuffigen Monster, Versatzstück aus dem Horror-Genre. Wenn bitterböse Usurpatoren, reizende Königstöchterchen und die Brustmuskeln zucken lassende Bodybuilder einander gegenseitig die aus klischeehaften Dialogzeilen, schmachtendem Liebesschmalz und handfesten Fausthieben bestehende Klinke in die Hand drücken, dann kann das freilich per se schon unter-haltsam, kurzweilig und delirierend sein. Für mich gewinnen solche Filme gerade dann aber noch einen zusätzlichen Wert, wenn die Verantwortlichen in ihnen irgendwelche billigen Gruselkostüme, altbackenen Hexenspuk oder altbekannte Ungeheuer aus dem Fundus der griechischen oder römischen Mythologie unterzubringen versuchen. Wenig überraschend wird daher sein, dass meine liebsten Filmen dieses Genres genau die sind, die sich ein wenig über die übliche Formel hinauslehnen, und in gespenstischere Gefilde abtauchen. Zu meinen Favoriten zählen, unter anderem, Giuseppe Varis ROMA CONTRO ROMA(1964) mit seiner Armee aus Zombie-Legionären, Alberto de Martinos PERSEUS L’INVINCIBLE (1963), der für seine steifen Dialogszenen mühelos durch die großartigen Auftritte der von Rambaldi konstruierten Ungetüme wie Medusa und einem gigantischen Drachen entschädigt, Riccardo Fredas im abergläubischen 17.Jahrhundert angesiedelter MACISTE ALL’INFERNO (1962), oder – natürlich! – Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA (1961), sozusagen der Urvater jener speziellen peplum-Seitenlinie, und zugleich wohl einer der visuell kreativsten italienischen Sandalenfilme, die jemals gedreht wurden. Umso erstaunter bin ich nun, dass mir jetzt erst ein Film vor die Flinte gehoppelt ist, der auf den ersten Blick all die Kriterien erfüllt, die auch die übrigen oben aufgezählten Werke zu meinem Amüsement besitzen, und zeitlich ebenfalls genau in den von mir abgesteckten Rahmen fällt, den ich aber trotzdem bislang – wohl aufgrund seiner mangelnden Verfügbarkeit – überhaupt nicht auf dem Radar gehabt habe. In URSUS, IL TERRORE DEI KIRGHISI von 1964 darf diesmal nicht, wie sonst, Ed Fury in der bärenstarken Titelrolle die Muskeln spielen lassen, sondern der aus Bavas Geniestreich bestens bekannte Reg Park, und es ist auch nicht, wie es im Vorspann heißt, Antonio Margheriti – wie immer versteckt unter seinem Lieblingspseudonym Anthony M. Dawson -, der den Großteil des Films über auf dem Regiestuhl gesessen hat, sondern vielmehr sein damaliger Assistent, ein zarter Knabe von knapp Mitte Zwanzig namens Ruggero Deodato. Wenn auf der imdb dann noch zum Inhalt zu lesen ist: „Hercules battles an evil sorceress who turns men into werewolves“, dann bin ich sowas von bereit für vorliegendes Schauerstück, dem ich im Folgenden ein paar flüchtige Zeilen widmen möchte.

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Abb.1: Man beachte den Jüngling auf dem Regie(assistenten)-Stuhl.

URSUS, IL TERRORE DEI KIRGHISI beginnt wie ein waschechter Horrorschocker, nämlich mitten in der Nacht und mitten im Wald, wo eine Gruppe reisender Händler sich rund ums einsame Feuer lagern. Die Frauen bringen die Tiere zu Bett, die Männer genießen Hochprozentiges aus Trinkhörnern – und die Hunde schlagen verdächtig an. Kein Wunder, denn ein äußerst hässliches Wesen mit übermenschlichen Kräften und eingehüllt in einen schwarzen Dracula-Umhang stürmt auf einmal die Idylle und lässt das gesamte Lager mitsamt sämtlicher Menschen, Karren und Gütern in hellen Flammen aufgehen. Die Opfer gehören zum Volk der Tscherkessen, das wiederum unter der Führung ihres Häuptlings Ursus ein Nomadenleben in der Wildnis führt. Der ist wenig begeistert, als er und seine Getreuen die Überreste ihrer Freunde finden. Auch dies, schließt er aus dem Stöhnen eines einzigen Überlebenden des Massakers, muss ein Werk des Monsters sein, das seit kurzer Zeit die gesamte Gegend terrorisiert – das Wort Werwolf fällt im mir vorliegenden italienischen Original kein einziges Mal -, und empfiehlt die Aufrüstung in jedweder Hinsicht, um dem teuflischen Treiben endlich Herr zu werden. Konstatieren kann man nach diesen ersten fünf Minuten bereits: URSUS, IL TERRORE DEI KIRGHISI ist allein deshalb schon kein handelsüblicher peplum, weil er offenkundig gar nicht in der griechisch-römischen Antike oder irgendwo im Vorderen Orient angesiedelt ist, sondern offenbar irgendwann zur Zeit der Völkerwanderung auf dem Territorium der heutigen Türkei spielt, wobei der kaukasische Stamm der Tscherkessen, unsere nominellen Sympathieträger, dem sesshaften, zivilisatorisch augenscheinlich wesentlich fortgeschritteneren Turkvolk der Kirgisen gegenübergestellt wird. Die bewohnen in unmittelbarer Nähe von Ursus‘ derzeitigem Waldlager eine herrschaftliche Stadt, und verfügen, anders als die Tscherkessen, die der Film von ihrer Organisationsform her schon eher wie eine halbe Hippie-Kommune zeichnet, über ein starres, dogmatisches Staatssystem, an dessen Spitze der Tyrann Zereteli steht, zwischen dem und Ursus wohl seitjeher offene Antipathien herrschen, deren Gründe der Film uns aber gar nicht erst weiter herleiten möchte. Dafür macht er relativ deutlich, was für Thronstreitigkeiten und Intrigen im Hause der Kirgisen gerade an der Tagesordnung sind: Prinzessin Amiko, Zeretelis Nichte und rechtmäßige Thronerbin, soll gegen ihren Willen mit diesem verheiratet werden, damit sie beide unisono in Zukunft das Zepter über ihren Untertanen schwingen können. Amiko allerdings hat längst jemand anderes als Herzbuben auserkoren, niemand Geringeres nämlich als Ursus, mit dem sie sich regelmäßig zu heimlichen Stelldicheins in einer nur ihr bekannten Grotte trifft, deren Eingang durch einen verborgenen Hebelmechanismus sowie einen Pappmaché-Felsen geschützt ist, und in der wenigstens zaghaft ein paar Pfützen von dem grünen und roten Licht schimmern, in die Mario Bava solche Höhlenkomplexe seinerzeit gerne getaucht hat. Gar nicht gern sieht Amiko aber sowohl Ursus herzerwärmenden Umgang mit Kato, die als Findelkind einst zum Stamm der Tscherkessen kam und nun zur blühenden jungen Frau herangereift ist, als auch, dass Ursus‘ Bruder Ilo, der sich eine halbe Ewigkeit auf Weltreise befunden hat, eines Tages plötzlich auftaucht, und nun ebenfalls kostbare Zeit von seinem Bruder fordert, die Amiko lieber gerne in leidenschaftlichen Sex investiert gewusst hätte. Ido ist übrigens nicht auf den Kopf gefallen, und besonders wachsam, nachdem er eines Nacht, als Ursus mal wieder bei Amiko weilte, beinahe einem Anschlag des Monsters zum Opfer gefallen ist, das sich diesmal mitten ins Dorf hinein gewagt hat. So entgehen seinem Luchsblick nicht die Nachrichten, die Amiko ihrem Liebsten über einen Palastboten regelmäßig überbringen lässt, und aus Angst, da könne ein Komplott gegen seinen Bruder im Hintergrund schwelen, fängt er einen dieser Liebesbriefe ab, und sucht Amiko in ihrer Höhle auf, um von ihr in Erfahrung zu bringen, was sie denn für ein Verhältnis mit Ursus unterhalte…

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Abb.2: Der Schrecken mit dem Affengesicht oder: Was die imdb sich unter einem "Werwolf" vorstellt.

Bei einem Film wie dem vorliegenden, der so wenig Wert darauf legt, eine möglicherweise überraschende Pointe weiter als bis zum ersten Drittel einigermaßen in der Hinterhand zu halten, ist die Warnung vor Spoilern, denke ich, obsolet. Jedem Zuschauer, der halbwegs bei der Sache ist, dürften die Antworten nicht schwerfallen, die regelrecht forciert werden von Fragen wie: Weshalb lässt das Monster, von Kato auf frischer Tat bei dem Mordversuch an Ido erwischt, auf der anschließenden Flucht ausgerechnet Ursus‘ Schwert fallen? Wieso überzieht die Bestie die Kirgisen ausgerechnet in jener Nacht mit seinem bis dato heftigsten Terror, als Ido in Amikos Höhle nach dem Genuss eines auffällig roten Weins selig auf der Pritsche entschlummert ist, wo sonst Ursus mit der Prinzessin balzt? Weshalb kann Ido, nachdem er am Folgetag wieder im Dorf aufkreuzt, keine wirkliche Angaben darüber machen, wo und wie er die Nacht verbracht, und weshalb er nichts von dem Lärm gehört hat, der bei der erfolglosen Jagd auf das Untier zwangsläufig den Wald zum Beben gebracht hat? Klar, Amiko selbst ist die Urheberin des Ungeheuers, in das sie Männer zu verwandeln versteht, indem sie ihnen etwas von einem speziellen Zauberwein zu trinken gibt. Woher sie den eigentümlichen Trank hat, und was genau sie eigentlich die meiste Zeit damit bezweckt, ihren Liebsten oder dessen Bruder der Metamorphose in einen wütenden Satan zu unterziehen, damit er dann haufenweise unschuldige Leute tötet, das zu erklären fühlt sich URSUS, IL TERRORE DEI KIRGHISI genauso wenig befähigt wie den ausgeleierten Topos von der vertauschten Königstochter – es ist nämlich nicht Amiko, der das Recht auf den Kirgisenthron zusteht, sondern Findelkind Kato! – auch nur ansatzweise verständ-lich in die sowieso schon recht holprige Geschichte zu integrieren. Witzig ist ebenfalls, dass der Film zwar auf den Namen Ursus hört, in Wirklichkeit aber spätestens ab Mitte der Laufzeit Ursus‘ weltgewandtes Brüderchen, das eher auf Verstand denn auf Muskeln setzt, zum eigentlichen Helden hochstilisiert wird. Immerhin ist er es, der die Verschwörung Amikos durchschaut, und der schließlich hauptsächlich daran beteiligt ist, der Hexe das Handwerk zu legen. Während Ursus sich, wie gewohnt, darauf konzentriert, zahllose Feinde mit purer Körperkraft zu zerlegen, ist es letztlich Ido, der über den Dingen steht und die Fäden in Händen hält, die sie einem guten Ausgang entgegenführen. Bezeichnend auch, dass Ido letztlich sein Geheimnis für sich behält, und Ursus nicht anvertraut, dass es nie ein Monster gegeben habe, das nicht sie selbst in verwandelter Gestalt gewesen sind. Die neue Herrschaft von Ursus und Kato über die nunmehr vereinten Stämme der Kirgisen und Tscherkessen ist demnach auf einer, wenn auch liebgemeinten, Lüge begründet.

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Abb.3: Tanz & Sang wird auch in diesem peplum großgeschrieben, und zwar diesmal in Lettern, die sich fast wie die Choreographie eines Tschaikowsky-Balletts bewegen.

Aber ich lese wahrscheinlich schon wieder viel zu viel hinein in einen Film, der sich selbst um Plausibilität oftmals keinen Deut schert. Die eigentliche Qualität von URSUS, IL TERRORE DEI KIRIGHIS ist für mich dann auch nicht sein verzwickter Plot, nicht mal die Integration von Horror-Elementen in sein Schwert-und-Sandalen-Setting, sondern seine gerade im Vergleich zu anderen Genre-Filmen der gleichen Zeitspanne außerordentlich limitierten Produktionsmittel. Das mag sich zunächst seltsam anhören. Ich lobe einen Film dafür, dass seine finanziellen Möglichkeiten beschränkt gewesen sind? Man muss sich aber nur die vielleicht großartigste Szene etwa in der Mitte des Films anschauen, um zu verstehen, dass auch hier ein beschränktes Budget die Verantwortlichen regelrecht dazu gezwungen hat, kreative Mittel und Wege finden zu müssen, mit denen die Umsetzung dessen, was ihnen vorschwebte, wenigstens ansatzweise gewährleistet wurde. Die Ausgangssituation lautet wie folgt: Ido ist bei Amiko angelangt, hat sich von ihr umschmeicheln und zum Weintrinken verleiten lassen, schläft ein, und wird sich – das ahnt zu dem Zeitpunkt schon jeder, der den Film nicht im Halbschlaf goutiert – gleich in das behaarte Scheusal verwandeln, das übrigens, ob nun Ursus, Ido oder einer von Ursus‘ Weggefährten als physische Grundlage des Monstrums herhalten muss, immer exakt gleich ausschaut - und bei dem sich sein Bela-Lugosi-Cape, gleichsam aus dem Nichts, stets mitmaterialisiert. In dieser Gestalt nun stelzt Ido durchs Gestrüpp und sucht nach Menschenmaterial, an dem er seinen Zorn abreagieren kann. Just sind gerade Ursus und einige Waffenbrüder ebenfalls auf Ungeheuerhatz. Wie Margheriti bzw. wohl eher Deodato ihr Zusammentreffen – oder besser: die Art und Weise wie ihre Wege sich ständig kreuzen, ohne sich wirklich zu treffen – inszeniert, kann man eigentlich nur als besten Wald-&-Wiesen-Trash bezeichnen. Es ist wie in einem Comic: Ursus und seine Freunde laufen in einer Reihe an der Kamera vorbei, das Monstrum guckt hinter einem Busch hervor, und zieht das letzte Glied der Kette zu sich ins Unterholz. Oder es schwingt sich von einem Baum, packt einen von Ursus‘ Getreuen am Hals und zerrt ihn hoch zu sich ins Blätterwerk. Dauernd bemerken unsere Helden, dass da einer von ihnen fehlt, viel zu spät – und das, obwohl das Monster nie seine Klappe halten kann, und sich in schöner Regelmäßigkeit durch Lautäußerungen bemerkbar macht, die sich wahlweise anhören wie ein heiserer Gockel oder ein heiseres Äffchen. Dass der Score von Franco Mannino dabei so tut, als seien wir gerade mindestens Zeuge des Untergang Roms oder Karthagos, macht dieses elaborierte Fangenspiel unter freiem Himmel nur umso erfreulicher. Überhaupt adelt URSUS, IL TERRORE DIE KIRGHISI seine Affinität zu Freilichtkulissen. Zum größten Teil spielt vorliegender Film in Höhlen, auf Wiesen, auf Waldlichtungen, oder in Ursus‘ Dorf, das ein bisschen was hat von einer reduzierten Variante dessen, in dem Asterix und Obelix zu Hause sind, sprich: Ein paar notdürftig zusammengehämmerte Hütten, und mehr an Schauwerten gibt es eigentlich nicht. Obwohl wenigstens Zeretelis Palast einigermaßen beeindruckend ausschaut – von dem wir allerdings auch nicht viel mehr zu Gesicht kriegen als die Zeremonienhalle, die Folterkammer und ein paar nichtssagende Flure -, antizipiert Deodato da zwangsweise ästhetisch schon ziemlich viel von späteren Independent-Genre-Filmen – ich denke vor allem an den berühmt-berüchtigten bundesdeutschen Wald-&-Wiesen-Splatter der 90er Jahre -, und bringt eine subversive DIY-Note mit ins Spiel, die vielen anderen, besser produzierten Sandalenfilmen der frühen 60er nicht unbedingt in dieser herzerfrischend unbedarften Form eingeschrieben ist.

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Abb.4: Das schröcklichste Monster des gesamten Films: Eine fiese Statue im Hintergrund von Ursus und dem Druiden, der ihm gemeinsam mit Kato gerade das Leben gerettet hat - und zwar auf rein homöopathischer Basis!

Unbedarft mag vielleicht auch das Wort sein, das URSUS, IL TERRORE DEI KIRGHISI in seiner Essenz am besten fasst. Wenn der Film technisch nichts Beeindruckendes reißt, wenn sein Schauspielerensemble oft nicht zu unterscheiden ist von den zahllosen Baumstämmen, zwischen denen es herumschleicht, wenn das Monstrum wirkt wie ein ausrangiertes Geisterbahnschreckge-spenst, und wenn die Story solche Eigenschaften wie Stringenz und Logik höchsten vom Hörensagen kennt, dann münzen diese Anti-Aspekte sich, wie von Zauberhand bzw. Zauberrebensaft, schließlich doch um in Qualitäten, von denen ich nicht genug bekommen kann, und die Szenen gebären wie folgende: Zereteli und seine Handlanger haben Ursus‘ Dorf bis auf die Grundfesten niedergefackelt. Es soll aber aussehen, als stecke das Monstrum dahinter. Um Ursus das zu verkaufen, beordert Zereteli einen aus seiner Mannschaft, er habe in den Trümmern zu bleiben und den Tscherkessen bei ihrer Rückkehr als vermeintlicher Augenzeuge ebendiese Lüge aufzutischen. Damit es authentischer aussieht, zieht Zereteli seinem Untergebenen noch eins mit dem Schwert über den Kopf. Als Ursus in seinem zerstörten Dorf eintrifft und als einzigen Überlebenden einen Mann Zeretelis vorfindet, ist selbst sein bisschen Grips in der Lage sich zu fragen, wieso ausgerechnet ein Bediensteter seines Erzfeinds zum Zeitpunkt des Überfalls im Tscherkessen-Dorf gewesen sein soll, und zu schlussfolgern, dass es wohl Zereteli selbst und nicht das Untier war, das seinen halben Stamm auslöschte. Ganz bis zum Olymp meiner liebsten peplums schafft es Deodatos frühes Gesellenstück mit solchen wahrlich raffiniert ausgeheckten Plänen zwar nicht, doch, immerhin, das Monsterkrächzen, wie gesagt eine Mischung aus irgendwas Geflügeltem und irgendwas Affenartigem, dürfte wohl mit das Eigenartigste ein, das jemals in einem italienischen Sandalenfilm aus der Kehle eines Ungeheuers oder überhaupt von einer Tonspur gekommen ist.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

We are the Flesh

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Originaltitel: Tenemos la carne

Herstellungsland: Mexiko, Frankreich / 2016

Regie: Emiliano Rocha Minter

Darsteller: María Evoli, Diego Gamaliel, Noé Hernández, Gabino Rodriguez
Urin. Menstruationsblut. Ejakulat. Erigierte Penisse. Gespreizte Vaginen. Realer Geschlechtsverkehr. Inzest. Blutige Kehlen-schnitte. Nekrophilie. Kannibalistische Orgien. Die meisten mir bekannten (und zumeist verhalten bis negativen) Kritiken zu dem mexikanischen Experimentalfilm TENEMOS LA CARNE von 2016 richten ihren Fokus auf solche Reihungen all jener Tabubrüche, die Emiliano Rocha Minter in seinem Regie-Debut wie selbstverständlich nicht nur verhandelt, sondern offen ausagiert. Das ist wenig verwunderlich, gehört doch jedes der Dinge, die ich oben aufgezählt habe, in den meisten vergangenen und/oder gegenwärtigen Kulturen zum kollektiven Bestand dessen, an was man nicht denken, was man nicht aussprechen, was man schon gar nicht fixiert im Bild sehen möchte. Allzu viel scheint sich über die Zeit nicht an der Grundkonstitution des menschlichen Tabubefindens geändert zu haben, wenn man bedenkt, dass, beispielweise auf die Monatsblutung bezogen, in archaischen Stammesgemeinschaften die menstruierende Frau genauso den gesellschaftlichen Raum verlassen muss wie sie vom jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus zumindest als unrein gebrandmarkt wird, und wie an diesen im Prinzip völlig normalen biologische Vorgang, der zudem in Zusammenhang mit dem Erhalt unserer Rasse steht, noch im Säkularismus der westlichen Welt derart ungern erinnert wird, dass er selbst im Kunstkontext noch auf brüskierte Blicke und murrende Mägen stößt. Gerade solche Phänomene des Wandels von organischer in anorganischer Materie, die bei der breiten Bevölkerungsschicht Angst und Scham verbreiten, haben mich indes schon immer unter dem Gesichtspunkt fasziniert, wie der Mensch ihre Tabuisierung und die damit verbundenen nahezu physischen Reaktionen beim Übertreten eines solchen Tabus theoretisch oder ästhetisch zu fassen versucht – und natürlich ist ein besonders ergiebiges Forschungsfeld hierfür das Kino der gerade der 60er und 70er Jahre, das auf einen ja oft so wirkt, als sei da eine ganze Epoche völlig darauf ausgerichtet gewesen, herauszufinden, welche Bilder ethisch, moralisch noch geduldet werden können und für welche nun wirklich bei kaum jemandem noch eine Unze Toleranz übrigbleibt.

Genausooft wie ich über die (durchaus korrekte) Bemerkung gestolpert bin, dass Minters Film teilweise wirke wie eine Check-Liste all der (im Abendland) verpönten und verbotenen Sexualpraktiken, auf der sich fast nur Haken befinden, genausooft wird TENEMOS LA CARNE (ebenso folgerichtig) in genau die Tradition eingeordnet, die ich oben zu skizzieren versucht habe: Das im wahrsten Wortsinne transgressive Kino kurz vor und kurz nach der sogenannten 68er Revolte, als auf einmal alles, und darunter sehr vieles möglich schien, womit zurzeit kaum noch Regisseure oder Produzente durchkommen würden – und schon gar nicht in die großen Lichtspielhäuser, wo – heute undenkbar! - Werke wie MALADOLESCENZA oder FACES OF DEATH tatsächlich vor zahlendem Publikum aufgeführt worden sind. Es fällt leicht, wenn man, wie ich, scheinbar sein halbes Leben lang nichts anderes gemacht hat als sich schlimme Filme anzuschauen, eine Check-Liste wie die oben zu erstellen, und TENEMOS LA CARNE damit Wurzeln anzuheften, die ihn in einem ganz bestimmten Humus verorten – und das tue ich hiermit, bewusst stichpunkartig.

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Der Film beginnt wie Thierry Zénos VASE DE NOCES mit einem Einsiedler, der möglicherweise der letzte Mensch auf Erden nach dem nuklearen Holocaust ist. Dieser Einsiedler benimmt sich wie der Höhlenmensch, in den Michel Piccoli sich in Claude Faraldos THEMROC verwandelt: Er grunzt zumeist, braut sich irgendwelche narkotischen Substanzen zusammen, mit denen er sich regelmäßig ins Nirwana abschießt, und schlägt wie von Sinnen auf einer schweren Trommel herum. Zugleich aber ist er Baumeister, und zwar damit beschäftigt, den unterirdischen Kellerkomplex, den er bewohnt, stückweise in eine Art Gebärmutter zu verwandeln, voller Geburtskanäle, in denen bunte Lichter schimmern, und mit von Gaffertape aneinander geketteten Holzbalken, die wohl so etwas wie Nervenstränge sein sollen. Monoton, primitiv ist sein Alltag, nur unterbrochen von den Rauschzuständen, in die er sich nach getanem Tageswerk versetzt, und in denen er sich auch aufhält, als sich doch plötzlich eine der Bodenplatten hebt und zwei junge Menschenköpfe unter ihr hervorkommen, ein weiblicher und ein männlicher. Die beiden sind Geschwister, und scheinbar, könnte man denken, ziellos Umherirrende in der draußen herrschenden entvölkerten Welt, so wie die Frauengruppe in KONEC SRPNA V HOTELU OZON von Jan Schmidt, die ja ebenfalls auf einen, wenn auch ungleich harmloseren, Eremiten stoßen. Dass sie bei ihm bleiben könne, bietet der Einsiedler, wieder bei Bewusstsein, der Schwester und dem Bruder an. Sie bekämen einen Schlafplatz, Essen, Trinken, das ihm – wie seltsam! – über eine Luke offenbar von einem Kontakt in der Außenwelt zugespielt wird, dafür müssen sie ihm aber bei der Konstruktion seines Uterus helfen. Mehr als jetzt wird TENEMOS LA CARNE übrigens nicht erklären, stattdessen zunehmend ins hypnotische Lallen verfallen. Hysterisch hüpfend und wirre Reden schwingend taumelt der Einsiedler durch sein in blaues Licht getauchtes Höhlenlabyrinth, dass ich unweigerlich an Andrzej Zulawskis NA SREBRNYM GLOBIE denken muss. Es kommt zu Machtspielen, Machtbeweisen, wie in der unübersichtlichen Enge des Hauses von Alberto Cavallones BLUE MOVIE. Der Bruder stiehlt dem Einsiedler eine Ampulle mit Rauschgift, der Einsiedler vergiftet daraufhin die Schwester, und verlangt vom streng vegetarisch lebenden Bruder, ein ganzes Steak zu essen, vorher verabreiche er der Schwester nicht das Gegengift. Trotzdem herrscht ein Vertrauen zwischen Schwester und Einsiedler, das den Bruder misstrauisch stimmt. Was soll die Geste, mit der sie sich manchmal begrüßen, das Rausstrecken der Zunge und dann einmal mit dem Zeigefinger über die Spitze streichen? Eine Antwort bekommt er – und wir - nicht, dafür sexuelle Avancen von Seiten der Schwester, die ihn nachts in dem Zelt, in dem sie schlafen, zu verführen versucht. In einer Szene wie in Pasolinis SALÓ ist es aber schließlich der Einsiedler, der ihre Körper vereinigt, indem er sie wie Marionetten voreinander aufstellt, sie sich entkleiden und aufeinanderlegen lässt. Er onaniert dazu, ejakuliert, stirbt. Wenn die Schwester, deren sexueller Appetit nun einmal geweckt worden ist, sich bald darauf am zu wesen beginnenden Leichnam ihres Gastgebers vergeht, dann sind wir gedanklich schnell bei Jörg Buttgereits NEKROMANTIK, und wenn der Einsiedler (dadurch?) unter Babygekreisch aus einem der Höhlenschlunde wiedergeboren wird, nicht weit entfernt von der Zäsur mitten in Alejandro Jodorowskys EL TOPO. Angekündigt wird seine Reinkarnation übrigens durch ein Gewitter, das weit oben, am Höhlenausgang, den Himmel zerreißt, und vor dem der Bruder in seiner Rockerjacke steht wie ein wandelndes Kenneth-Anger-Zitat. Von jetzt überstürzen sich die Ereignisse: Neue Leute gesellen sich zu unseren Freunden, ein gefangener Soldat zum Beispiel, hingerichtet wie in einem IS-Video, und eine junge Frau, an der nun der Bruder seine Gelüste abreagiert, während die Schwester schreiend und masturbierend sich neben ihm hin und her wälzt, schließlich sogar, wie in Zulawskis SZAMANKA oder POSSESSION, die Kamera selbst in ihrer Hysterie attackiert. Alles endet, übrigens ebenfalls wie in SZAMANKA oder auch wie in Silvano Agostis NEL PIÙ ALTO DEI CIELI, mit einer Kannibalismusorgie, bei der sich unser Einsiedler, wie der alternde Dichter in Fellinis SATYRICON, von seinen Jüngern bei lebendigem Leibe verspeisen lässt, und aus der in der finalen Szene, wie am Ende von Bunuels L’AGE D’OR, eine Christusfigur hervorgeht, die die Ruinen des Gemetzels verlässt, um mitten hinein in eine mexikanische Großstadt zu torkeln – oder ist das alles auch nur wieder ein Traum?

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Wenn ich sage, dass ich die Liste an Referenzen noch eine Weile so hätte weiterführen können, ist das weder Prahlerei meinerseits noch der Versuch, Minter zum Plagiator zu stempeln. Minter plagiiert keineswegs, er zitiert all die oben aufgeführten Filme nicht mal wirklich, stattdessen bleibt nahezu jeder Verweis genau dort in der Schwebe, wo es schwerfällt zu entscheiden, ob Minter all diese Werke tatsächlich gesehen hat und deshalb bewusst mit ihnen arbeitet, oder ob die zuweilen ja auch nur sehr feinen Ähnlichkeiten nicht doch reiner Zufall oder Wunschdenken sein könnten. Während mir so ziemlich jeder Neo-Giallo deutlich ins Gesicht ruft, dass er sich alles für das Genre Relevante von Bava oder Argento mit der Lupe angeschaut hat, macht TENEMOS LA CARNE seine Bezugspunkte demgegenüber wesentlich weniger deutlich – und das ist eine der zahlreichen Stärken des Films, die ich nun noch kurz benennen möchte: Dass er für einen Freund des abseitigen Kinos mit vertrauten Situationen, Szenen, Motiven operiert, jedoch nie in einer Weise, die sie allzu eng mit ihrer ursprünglichen Quelle verknüpfen würde. Anders gesagt: Minter übernimmt keine wörtlichen Sätze aus seinen Vorlagen, sondern Stimmungen, Redensarten, ein bestimmtes Vokabular, integriert dieses aber voll und ganz in seinen eigenen Sprachstil – zumal man allein bei der Fülle an vermeintlich rezipierten Filmen schon davon sprechen müsste, dass TENEMOS LA CARNE, wenn schon, fast ein Jahrhundert transgressives Kino amalgiert, und – bei dem denkbar minimalistischen Setting, und mit gerade mal drei Hauptdarstellern! – so etwas bildet wie eine enzyklopädische Collage kinematographischer Grenzübertrittübungen vom Anbeginn der Zeit bis heute.

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Ähnliches könnte man vielleicht auch über ein Werk wie Marian Doras MELANCHOLIE DER ENGEL sagen. Warum kommt der bei mir aber so schlecht weg, wo man ihn doch ebenfalls als eine Abfolge von Szenen bezeichnen muss, die hauptsächlich schockieren und verwirren sollen? Sicher, Dora hat in jedem seiner Filme die eine oder andere schöne Melodie, schöne Bild-komposition, vielleicht sogar mal einen Moment, der fast poetisch wirkt, unterm Strich schafft es der Regisseur aber kaum, aus seinem subversivem Material mehr herauszuholen als die Subversion selbst, sprich: aus technischer Sicht wirken seine Filme oft uninspiriert, regelkonform, lediglich dazu ausgerichtet, in Großaufnahme einzufangen wie die Exkremente purzeln und die Tierschädel eingedrückt werden. Minter spielt für mich in einer ganz anderen Liga, nämlich in einer, die wohl noch nicht die der meisten weiter oben erwähnten Filmemacher erreicht, aber doch – immerhin ist der gute Mann gerade mal zarte siebenund-zwanzig! – Hoffnung lässt, dass da noch einige Großtaten zu erwarten sein dürfen, wenn er nicht vorzeitig vom rechten Weg ausschert. Ich meine, mein Gott, wie großartig ist TENEMOS LA CARNE denn bitteschön montiert! Mit zunehmender Laufzeit wird der Film immer elliptischer, weiten sich die Leerstellen, wo wichtige Informationen zu fehlen scheinen, werden Bilder auf äußerst befremdliche Weise kombiniert. Wie er beispielweise eine Figur einführt, die ich einmal den Priester nennen möchte, ist so schlicht wie genial. Minter hätte auch eine Serie fürs mexikanische Vorabendprogramm drehen können – mit dieser völlig durchdachten, jedoch kein bisschen verkopften, sondern vielmehr spielerischen Montage würde ich wohl eine Seifenoper noch abfeiern. Und wie wundervoll ist die Beleuchtung in TENEMOS LA CARNE eingesetzt! Da beginnt der Film noch regelrecht schmucklos, monoton, trist, höchstens mal durchbrochen von einer farbenfrohen Vision des Einsiedlers, in denen bunt beleuchtete Gliedmaßen aus einem Meer aus Schwarz tauchen, und steigert sich dann immer mehr hin zu Momenten, die ausschauen, als habe Gaspar Noe Sexszenen neu verfilmt, die ursprünglich auf Walerian Borowczyks Konto gingen, und wenn die Höhle schließlich von verschiedenfarbigen Leuchten erhellt wird, sind Refn und Argento nicht allzu weit. Minters vielleicht hübscheste ästhetische Entscheidung jedoch ist der Einsatz einer Wärmekamera bei der Inzestszene, durch die die sowieso schon sehr fragmentarisch, sehr dicht gefilmten kopulierende Körper rein visuell weit über den Rand der Abstraktion hinausgetragen werden. Sind das ihre Haare, ist das ihre Scham, ist das sein sich hebender und senkender Hintern? Dazu erklingt – das soll einmal als Beweis dafür dienen, wie versiert Minter zuweilen auch mit der Tonspur spielt – ein irgendwie deplatzierter, irgendwie genau richtiger kitschiger love song auf Spanisch. Das ist anrührend wie die Sexszene zwischen Alan Yates und Faye Daniels im niedergebrannten Eingeborenendorf von CANNIBAL HOLOCAUST – und irgendwie fast genauso mulmig. Überhaupt hat Minter die Poesie auf seiner Seite. Um was es ihm geht, das ist das exakte Gegenteil der Subversion wie sie zum Beispiel Spasojevics SRPSKI FILM. Während dieser sich in das Gewand einer völlig überzeichneten Satire kleidet, um mich mit gesellschafts- und medienkritischen Obertönen wachzurütteln, verliert sich TENEMOS LA CARNE in religiösen Allegorien, in zarten Stimmungsbildern, in einem Willen zur Transzendenz, der mich mit hinauf in Höhen nimmt, wo Tabus sowieso nicht mehr gebrochen werden können, weil es schlicht keine mehr gibt.

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Ich ziehe mich an den Fußknöcheln von meiner Schwärmerei zurück auf den Boden der Tatsachen. Natürlich kann man TENEMOS LA CARNE für einen schlechten Film halten, vollgestopft mit prätentiösen Symbolen und religiösen Metaphern, inkohärent, ohne richtige Story, ohne Figuren, deren Handlungen psychologisch irgendwie ansatzweise glaubwürdig sind, dafür mit literweise Explosionen echten Spermas, das zu Schauwerten eingesetzt wird wie die reihenweisen Explosionen echter Autos in einem Michael-Bay-Vehikel, nur dass Minter eben auf das Kunstkopfkissen pocht, und dadurch von pseudo-intellektuellen Hipstern goutiert wird, während Bay für die normal denkende Masse bleibt, die Filme dafür feiert, wenn sie ihre fehlende Substanz gar nicht erst hinter leeren Worthülsen zu verstecken versuchen. Aber, scheiße, was ich rede da, schon lange hat zumindest mich kein aktueller Film derart in seinen Bann gezogen, fasziniert, verstört, schlicht glücklich gemacht wie TENEMOS LA CARNE, und mag die Nische, in die er gehört und wo er sich wohlfühlt und aus der er wie ein gärender Pilz herausgewachsen ist, noch so klein sein, das ist dann trotzdem wohl der Platz, an dem ich mich noch öfter zum Schlafen zusammenrollen mag.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Deported Women of the SS Special Section

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Originaltitel: Le Deportate della sezione speciale SS

Alternativitel: Special SS Women

Herstellungsland: Italien / 1976

Regie: Rino Di Silvestro

Darsteller: John Steiner, Lina Polito, Stefania D'Amario, Erna Schürer, Sara Sperati
Ratternd und schaukelnd fährt ein Zug durch die stockfinstere Nacht. In ihm wartet eine Gruppe verängstigter junger Frauen im Dämmerlicht einer einzigen Glühbirne darauf, an ihrem Bestimmungsort einzutreffen. Endlich scheint der Zielbahnhof erreicht. Nebelschwaden wabern in der Luft, und rohe Männer, von denen unsere Heldinnen in Empfang genommen werden. Per Auto-Konvoi geht es weiter durch die noch immer stockfinstere Nacht bis im Kegel der Wagenscheinwerfer das Gemäuer einer Burg zu erkennen ist. Schatten spielen auf den bedrohlichen Zinnen, und Frauen schälen sich aus der Dunkelheit, von denen unsere Heldinnen in Empfang genommen werden. Enge Treppenhäuser voller unebener Steinstufen geht es hinab zu den Kammern, die man für die Gäste bereits hergerichtet hat. Bevor sie einschlafen, wirft manche unserer Heldinnen noch einen verstohlenen Blick zu den vergitterten Fenstern, die kaum genug Mondlicht hereinlassen, dass man mehr als diffus erahnen kann wie unheimlich der Ort wirklich ist, an den es die wehrlosen Mädchen und uns als ihre ebenso wehrlosen Zuschauer verschlagen hat. Nein, damit habe ich nicht etwa den Auftakt eines beliebigen Gothic-Horrorfilms beschrieben, sondern stattdessen die ersten knapp zehn Minuten von Rino di Silvestros Naziploitation-Klassiker LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE SS aus dem Jahre 1976. Dass der aber tatsächlich nichts anderes ist als ein Gothic-Horrorfilm, der sich in einer Nazi-Uniform versteckt hat, möchte ich im Folgenden kurz beweisen.

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Natürlich, Rino di Silvestro kehrt für seinen Film einmal mehr alle Ingredienzien des Naziexploitationismus zusammen, das sich Mitte der 70er auf seinem kurzen, aber delirierenden Höhepunkt befindet. LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE SS ist weniger ein Spielfilm mit psychologisch ausgefeilten Figuren und einer klaren Handlung, die sich von einem Punkt A über einen Punkt B zu einem Punkt C bewegt, sondern ähnelt mehr einer Sammlung von Momentaufnahmen und Fragmenten, die letztlich lediglich schildern, was eine bestimmte Gruppe von Frauen in einem zum NS-Arbeitslager umfunktionierten Burg so alles erlebt und erduldet – und das wiederum hält sich, wie gesagt, streng an die einmal etablierten Grundparameter des Genres. Ausnahmslos handelt es sich bei unseren austauschbaren, gesichts- und geschichtslosen Heldinnen um politische Gefangene – schön zu erkennen an den roten Dreiecken ihrer Arbeitskleidung -, irgendwelche konkrete Hinweise auf den Nationalsozialistischen Umgang mit Anhängern einer bestimmten monotheistischen Religion sucht man, bis auf eine kleine Ausnahme, vergebens. Auch entsprechen unsere Heldinnen nahezu ausnahmslos dem gängigen westlichen Schönheitsideal für Frauen, und geizen nicht mit ihren Reizen, sondern bekommen vom Drehbuch mehr als genügend Gelegenheiten, sich bis auf die Haut auszuziehen, sei es nun, weil sie vom sadistischen Burgherrn gedemütigt, von lesbischen Wärterinnen zwischen deren Schenkel gedrängt oder zur Initiation einer ausgiebigen Schamrasur unterzogen werden. Während unsere Heldinnen wahlweise Martern ausgesetzt sind, romantische Liebesbeziehungen zu den wenigen männlichen Wachmännern knüpfen oder Pläne für den Ausbruch schmieden, verhalten sich auch die Figuren am andern Ende der Skala genauso wie man es von ihnen erwarten darf: Die Wärterinnen sind wandelnde Stiefel- und Uniform-Fetische, haben stets einen phallischen Knüppel in der Hand, und geilen genauso nach Lustseufzern wie nach Schmerzensschreien ihrer Opfer. Angeführt wird die Meute von einem gewissen Herr Erner, kongenial verkörpert von einem John Steiner, der es sich beim Dreh zur Selbstaufgabe gemacht zu haben scheint, einen der groteskesten SS-Offiziere der Filmgeschichte zu geben. In heißer Leidenschaft zu Häftling Tania entbrannt, die er schon zu Friedenszeiten umworben hat, weiß er nicht recht, soll er die Angebetete mit Gewalt in sein Bett zwingen oder mit Schmeichelworten, und tut schließlich abwechselnd beides. Zugleich aber verfolgt der effeminiert auftretende Erner homoerotische Praktiken mit seinem treuen Diener Dobermann, und ergötzt sich, in Nachfolge der Libertins von Pasolinis SALÓ, an solchen Spektakeln wie dem öffentlichen Geschlechtsverkehr zwischen einer Gefangenen und einem SS-Mann, mit dem sie unerlaubterweise in Liebesträumen geschwelgt hat. Im Grunde erschöpft sich die Handlung von LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE bereits in diesen wenigen skizzenhaft hingeworfenen Zeilen. Man sieht unsere Heldinnen so gut wie nie bei der Arbeit, dafür interessiert sich di Silvestro viel zu sehr dafür, ihre rasierten oder unrasierten Schambereich inflationär in Großaufnahmen zu zeigen, und sich an den zahllosen Nazi-Symbolen zu berauschen, die selbstzweckhaft beinahe jede Szene ausstaffieren.

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Bis hierhin könnte man LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE abhaken als recht typischen Naziploitation-Vertreter, der für den, der dieser Art von Frauenlagerfilmen etwas abgewinnen kann, genau die standardisierten Szenarien offeriert, die sein Publikum von ihm verlangt. Rino di Silvestro entscheidet sich jedoch für eine subversivere Taktik: Während er, was die Narration betrifft, eine Zutat nach der andern abspult, die ein Nazi-Exploiter besitzen muss, um als solcher zu gelten, verpackt er das Ganze in eine Ästhetik, die, wie gesagt, vollkommen dem gotischen Schauerfilm abgeguckt ist. Bläulich-violettes Licht versieht die Bilder mit Tupfer, die direkt aus der Zauberwerkstatt Mario Bavas herübergespritzt zu sein scheinen. An den Steinmauern vertreiben sich die Schatten die Zeit mit ausgelassenen Chiaroscuro-Spielen. Das Setting entspringt sowieso voll und ganz der Schauerromantik: Nicht das übliche schmutzige, vornehmlich aus Holzbarracken und Wachtürmen bestehende Lager irgendwo in Feld und Flur ist es, in dem di Silvestro seine deportierten Frauen unterbringt, sondern die Burg von Orsini-Odescalchi in Bracciano nahe Rom, deren Verliese, Festsäle und Geheimgänge freilich eine ganz andere Atmosphäre transportieren als die unterkühlten, nahezu klinisch nackten Räumlichkeiten in vergleichbaren Werken wie Bruno Matteis KZ9 – LAGER DI STERMINO (1977) oder Sergio Garrones SS LAGER 5 – L’INFERNO DELLE DONNE (1977). Gerade in Anbetracht des überbordenden NS-Inventars an Flaggen, Uniformen und Hitler-Gemälden kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, Silvestro habe das spirituelle Zentrum der SS, die Wewelsburg nahe Paderborn, im Auge gehabt, als er das Drehbuch vorliegenden Films verfasste – mit Herr Erner als Heinrich Himmler, der sich als okkulter Ordensgroßmeister auf Stühlen mit eingravierten Pentagrammen räkelt. Wie von selbst ergeben sich aus der Kulisse heraus übrigens auch die eine oder andere Szene, die problemlos in einen Gruselfilm integriert werden könnte, ohne dort negativ aufzufallen. Wenn Erners Dobermann zu bedrohlichen Paukenschlägen geschundene Frauenleichen durch die dunklen Burgflure schleppt, oder wenn während der Zugfahrt zu Beginn das Innere des Waggons, wo unsere Heldinnen sich ängstlich zusammenkauern, nur von der Glühbirne an der Decke spärlich und unruhig beleuchtet wird, oder wenn die Deportierten von den Herren und Herrinnen der Burg empfangen werden, als seien sie bei Christopher Lees Dracula persönlich geladen, dann sind das Momente, in denen die erwähnten Nazi-Insignien, die in schlechtem Deutsch gebrüllten Befehle des Wachpersonals (z.B. „Absitzen!“) und die ab und zu fallengelassenen Anspielungen darauf, dass die Russen schon ganz nahe seien, und das Reich bald einknicken würde, sich alle Mühe geben müssen, mich zu erinnern, dass ich mich nicht in den Katakomben von Bava, Margheriti oder Freda aufhalte, sondern in den Menschenmühlen bis zur Karikatur überzeichneter SS-Schergen.

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Interessanterweise agieren unsere Protagonisten und Antagonisten jedoch so, als seien sie sich des gotischen Ambientes um sie herum gar nicht bewusst. Nur einmal wird der Umstand, dass man sich in einer Burg befindet, thematisiert, und zwar von Dr. Schubert, einem unfreiwillig unter Erner praktizierenden Arzt, der eine wohl frei erfundene Anekdote aus der bewegenden Burggeschichte zum Besten gibt, als Tania bei ihm zur Behandlung vorbeischaut. Während die Kamera in einer dieser hübschen Fahrten, die man in LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE immer wieder findet, auf Rik Battaglias ernstes Gesicht zufährt, erzählt dieser zu sentimentaler Klaviermusik davon, dass vor etwa fünfhundert Jahren die Gegend von einem fürchterlichen Baron beherrscht worden sei. Dieser Wallenstein, der mit seinem Namensvetter aus dem Dreißigjährigen Krieg nicht identisch sein dürfte, habe die Bevölkerung so sehr tyrannisiert, dass sie schließlich Zuflucht in der Burg gesucht habe, die damals dem Geschlecht derer von Schulenberg gehört habe. Deshalb sei die Burg von Wallenstein belagert worden, doch dann, als er zum finalen Ansturm blies, habe man die Pforten offen vorgefunden, und das gesamte Gemäuer menschenleer. Schulenberg und seine Gäste seien, sagt Schubert, durch einen Geheimgang entwischt, der nach wie vor darauf warte, von Menschen, die ihr Leben retten wollen, benutzt zu werden, und damit sei sie, Tania, neben ihm die Einzige, die von seiner Existenz wisse. Dadurch wird das Gothic-Ambiente letztlich sogar zum architektonischen Rettungsanker unserer Heldinnen, die es allesamt, bis auf Tania, die zurückbleibt, um ein Hühnchen mit Herr Erner zu rupfen, das man gesehen haben sollte, um es zu glauben – nur so viel: Freuds vagina dentata wurde selten wohl derart wörtlich genommen wie hier -, am Ende in die ersehnte Freiheit schaffen.

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Was bleibt noch zu sagen über diesen eigentümlichen, irgendwie bezaubernden Film, der es schafft – ähnlich vielleicht wie Bavas I COLTELLI DEL VENDICATORE (1966), der ein Wikingerabenteuer im Stil eines Italo-Western erzählt -, zwei Genres zu vermählen, von denen man nicht mal in Erwägung gezogen hat, dass eine Hochzeit zwischen ihnen überhaupt möglich sein könnte. LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE ist, aus formaler Sicht, Nazi-Exploitation reinsten Fahrwassers – nicht ansatzweise so trashig wie Garrones LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR (1976) und nicht ansatzweise so eklig wie Canevaris L’ULTIMA ORGIA DEL III REICH (1977) -, aus ästhetischer Sicht jedoch ein visuelles Fest für jeden, der auch nur eine leichte Affinität für quietschende Türen, spinnwebenverhangene Flure oder sich im Sonnenuntergang vor einem finsteren Himmel abzeichnende Burgzinnen hat. Die bizarre Mischung aus, auf der einen Seite, tuntigem over-acting Steiners, Frauen, die man, da diese öfter gezeigt werden, eher an ihren Intimbereichen erkennt als an ihren Gesichtern und einer Überdosis an Bannern und Wimpeln des Dritten Reichs, und, auf der andern Seite, einer Ausleuchtung zum Niederknien, vorzüglichen Kamerafahrten und zwei weichzeichnerischen Flashback-Szenen, in denen unter ebenso superbem Handkamera-Einsatz locker die Grenze zum Irrealen überschritten wird, macht LE DEPORTATE DELLA SEZIONE SPECIALE für mich aus künstlerischer Perspektive zu einer der gelungensten Geschichtsstunden über die Sex-Geheimnisse des Nationalsozialismus made in Italy.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: The Rites of Uranus

Produktionsland: USA 1975

Darsteller: Dory Devon, Vivian Parks, Lucy Dulac, Frank Rowney, Angel Ducharme

Ich glaube, ich muss den (intendierten) Wortwitz nicht noch großartig erklären, oder? THE RITES OF URANUS = THE RITES OF YOUR ANUS = DIE RITUALE DEINES/EURES ANUS. Genauso überflüssig ist wohl auch die Anmerkung, dass es sich bei unserem heutigen corpus delicti um reinrassiges Pornomaterial handelt, und zwar welches, das in den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1975 offensichtlich in irgendwelchen Sexclubhinterzimmern und –kellern produziert, und dann einem zahlenmäßig sicherlich überschaubaren Publikum in irgendeinem Hinterhofkino oder Sexclubkeller zum Fraß vorgeworfen wurde. Der Film ist dermaßen Untergrund, dass die oder der Hauptverantwortliche(n) nicht mal ihren oder seinen Namen im Vorspann hinterlegt hat/haben, und lediglich die – für einen Film mit einer Laufzeit von einer knappen Stunde vergleichsweise zahlreichen und jemandem, der sich mit US-Pornos des Goldenen Zeitalters besser auskennt als ich es tue, wohl nicht unbekannten – Darsteller genannt werden. Mir soll es recht sein: Umso kürzer wird die Einleitung und umso vorbehaltloser der Sprung ins kalte Wasser.

THE RITES OF URANUS trägt seinen Titel nicht nur, um uns mit einem mehr oder minder heiteren Wortspiel anzuheizen, sondern hat, im weitesten Sinne, tatsächlich etwas mit dem siebten Planeten des uns bekannten Sonnensystem zu tun – bzw. haben die Verantwortlichen zumindest versucht, besagten Planeten doch irgendwie im wahrsten Sinne über die Hintertür in ihren Film einzuführen. Gleich die erste Szene zeigt zwei Gestalten - die linke in einer weißen, die rechte in einer roten Robe - wie sie vor einer Darstellung der Tierkreiszeichen aus Messing oder Blech stehen, – (es könnte natürlich in Anbetracht des Budgets auch bloß bemalte Pappe sein) - aus der wiederum ein phallisches Rohr sich ihnen entgegenreckt. Eine körperlose Männerstimme gibt den andächtig lauschenden Damen, denn um solche handelt es sich bei den Vermummten, folgenden Befehl und damit uns folgendes Plot-Bruchstück: „I, the high priest, command that this novice, Sarah, be allowed to enter the temple of love. Take her and instruct her in the rites of Uranus. I am always with you and henceforth I shall speak to you through this horn.”

Einen Schnitt später wird klar, dass THE RITES OF URANUS wohl so etwas darstellen möchte wie eine mit Science-Fiction-Elementen aufgemotzte Neuverfilmung klassischer Satanisten-Porno-Ware wie beispielweise dem unlängst von mir besprochenen Franzosen MESSE NOIRE von 1928: Eine Gruppe von Anhängern des Sexkults, der scheinbar auf dem Planeten Uranus zelebriert wird – in vorliegendem Film werden die Kultisten der Einfachheit halber kurz Uranusiten genannt, wobei zumindest mir jedoch nie ganz klar geworden ist, ob wir es bei ihnen nun mit Erdenmenschen zu tun haben, die sich dieser lasterhaften extraterrestrischer Religion angeschlossen haben, oder um tatsächliche Außerirdischen, die es, weshalb auch immer, von ihrem Heimatplaneten auf den unsrigen verschlagen hat – bringt seine Zeit in den oben erwähnten Hinterzimmern oder Kellern hauptsächlich damit zu, junge Frauen – in unserem Fall: die Novizin Sarah – in ihre Glaubensgemeinschaft einzuweisen. Der Initiationsritus besteht, wen wundert’s?, in einer ausgiebigen Gruppensexorgie. Angeleitet wird diese von einer weiblichen Hohepriesterin, die man gleich an ihrem putzigen Krönchen als solche erkennt. Nachdem man Sarahs After mit einer brennenden Kerze – natürlich zum Glück falsch herum! – penetriert hat, muss sie sich auf einen Tisch legen, unter dem eine Nebelmaschine eifrig Schwaden in die Luft pumpt, und eine Gruppe sie umstellender Uranusiten-Mönche oral befriedigen, während diese eifrig auf sie ejakulieren und dabei (asynchron und monoton) gregorianische Gesänge anstimmen, bei denen vor allem die Zeile „Enter the dark passage!“ als Wurm in den Gehörgang sticht.

Das wird übrigens nicht die einzige musikalische Passage des Films sein, die meine Ohren haben spitz werden lassen: Der gesamte Soundtrack von THE RITES OF URANUS stellt ein wildes, völlig heterogenes Potpourri aus, nehme ich einmal frecherweise an, so ziemlich allem dar, was die geheimen Hintermänner des Machwerks in anderen Filmen gehört und von dort in ihre eigene Produktion entführt haben – denn ich kann mir kaum vorstellen, dass all diese jazzigen Gitarrensoli, Heimorgelklänge wie aus einer Zirkusmanege, übersteuerten Orchester-Stücke, Funk-Bassläufe und fiepsende Synthie-Sounds tatsächlich für einen Film dieser Güteklasse komponiert und aufgenommen worden sein sollen.

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Abb.1: Candle Penetration.

Ähnlich zusammenhanglos wie der Score gestalten sich auch die kompletten ersten zwanzig Minuten, in denen im Prinzip nichts weiter passiert, als dass unsere Heldin Sarah von einem männlichen Mitstreiter hand- und schwanzfeste Unterweisungen in die sexuellen Kulthandlungen der satanisch-spacigen Sekte erhält. In zumindest ansprechend okkult ausstaffierten Kammern dürfen wir ihr, bestrahlt von einer knalligen Rotleuchte, gefühlte Stunden bei einem extrem elegischen Blow Job zuschauen, bekommen wir – einer der Fetische des Films – in Großaufnahme das Innere ihrer pulsierenden Vagina zu sehen, und hören die tatenlos dabeistehenden Mönche, wenn, wen wundert’s?, auch Sarahs Hinterpforte verwöhnt wird, einfach nicht auf mit ihren enervierenden Gregorianik-Litaneien. Schon jetzt schicke ich voraus, dass die Kopulationsszenen von THE RITES OF URANUS, gerade eingedenk der Tatsache, dass es sich bei den Kopulierenden um Mitglieder einer Arkangesellschaft handelt, die „the mighty cock of Uranus“ anbeten, unterm Strich dann doch eher harmlos, träge und vor allem wenig erotisch ausgefallen sind. Möglicherweise wirken viele der Zusammenkünfte zwischen männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen aber auch deshalb so einschläfernd, weil auch die Lider der meisten Beteiligten auf Halbmast stehen. Gerade Sarah und der Hohepriesterin glaube ich deutlich anzusehen und anzumerken, dass sie während der Dreharbeiten hoch wie ein Drache auf mindestens Acid geschwebt haben müssen. Das verleiht dem Film aber immerhin gerade in den Dialogszenen eine gewisse (unfreiwillig?) komische camp-Ästhetik – zumindest so lange bis man sich an die altbekannten Horrorszenarien erinnert, die beispielweise Linda Lovelace in ihren späteren Erfahrungsberichten über ihre Zeit im Porno-Geschäft erzählt hat, und in denen Waffengewalt und Drogenrauch nicht selten als Mittel genannt werden, noch die widerspenstigste Actrice für bestimmte Szenen gefügig zu machen.

Aber weiter im Text und Sex: Nach etwa zwanzig Minuten schält sich letztlich doch so etwas wie eine Handlung heraus – und was für eine! Sarah, die ihre erste Prüfung bestanden hat, darf nun den Hohepriester höchstpersönlich besteigen, setzt sich dabei aber derart ungünstig mit ihrem Unterleib auf sein Gesicht, dass dieser dabei erstickt. Obwohl der Raum zu dem Zeitpunkt voller Sektenmitglieder ist, die sehen, dass es ihrem Anführer schlecht zwischen Sarahs Schenkeln ergeht, und er schon krampfhaft mit den Armen zuckt, rühren sie sich erst, als Sarah selbst innehält und feststellt, eine Leiche unter sich zu haben. Die Novizin wird daraufhin in ein unterirdisches Verließ gebracht, und soll dort auf die ihr zustehende Strafe warten. Dabei sind ihre Gedanken aber nach wie vor nur beim Einen. „I want keys and a hard on!“, schreit sie, und meint mit ersterem den Schlüssel zu ihren Handschellen, und mit zweiterem etwas, das ich unübersetzt lassen werde. Immer wieder sind nun übrigens storyfremde, teilweise bloß sekundenlange Szenen eingefügt, die andere Uranusiten bei der Rekrutierung neuen Novizenmaterials zeigen. An Stränden und in (New Yorker?) Straßen irren die (in Bettlaken gehüllten!) Gestalten umher, und drücken Passanten, Männern wie Frauen, Flugzettel in die Hand: „Lost? Find yourself in Uranus!“

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Abb.2: Gnothi seauton.

An dieser Stelle einmal noch eine kurze Anmerkung zum Verhältnis der Geschlechter in vorliegendem Film. Hat man bei der Initiation Sarahs noch den Eindruck, sie als Frau würde dort vor allem zum Objekt degradiert werden – die Männer onanieren im wahrsten Sinne des Wortes auf sie, und sie muss ihnen allen gleichermaßen zur Verfügung stehen -, verwässert der spätestens, wenn wir erfahren, dass auf Uranus sowohl Frauen wie Männer das Hohepriesteramt be- bzw. entkleiden dürfen, und allerspätestens während der Einkerkungsszene, in der Sarah unermüdlich – und „spread out on acid“ – ihren „hard on“ fordert. Offenbar sind die Gesangsmönche Kastraten und können ihre Begierde nicht stillen, doch dafür gibt es sowieso eine Extraklasse Mann – eben die sogenannten „hard ons“ -, die immer und überall, wie lebende Gebrauchsgegenstände, mit erigiertem Penis im Bereitschaftsdienst stehen. Schön zeigt das auch eine weitere Füllszene, in der zwei weibliche Uranusiten in einem großen Wandspiegel ihre Vaginen bestaunen, und dann einem der Mönche befehligen: „Uranusite, go and get a hard on!“, worauf der eben nicht selbst erigiert, sondern einen bereits nackten Jüngling herbeiführt. Ich habe keine Ahnung, ob die Verantwortlichen damit so etwas wie ein utopisches Sexualsystem des fernen Planeten als satirisch-gesellschaftskritisches Zerrbild des konventionellen Geschlechterschemas unserer Erde hatten entwerfen wollen – quasi eine Art Thomas Morus oder Tommasso Campanella in der Horizontalen -, ich weiß nur, falls sie das wirklich vorgehabt haben sollten, ist es ihnen nicht so gelungen, dass ich aus den hingeworfenen Andeutungen zum hierarchischen Aufbau und den geschlechtsspezifischen Aspekten ihrer vermeintlichen Gegengesellschaft besonders schlau geworden wäre.

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Abb.3: Ein Kommentar zur Medienmanipulation auf selbstreflexiver Meta-Ebene, oder einfach nur Edgar Wallaces Mönch mit der Peitsche im Aufnahmestudio eines winzigen Universitäts-Senders? Decerne ipse!

Kommen wir deshalb lieber zu leichter decodierbarem Material, nämlich den beiden wohl mit Abstand kontroversesten Szenen des Films, die dann auch gleich entweder noch einmal untermauern wie wenig subversiv das Gesamtspektakel ausgefallen ist oder wie abgebrüht ich nach jahrzehntelangem Konsum abseitigster Filme inzwischen schon bin. Die erste Grenzüberschreitung besteht in einem Akt, den der italienische Industrial- und Power-Electronics-Pionier Pierpaolo Zappo wohl als Necrofellatio bezeichnet hätte: Die weibliche Hohepriesterin des Uranus-Orden macht sich über den erstickten Leichnam ihres männlichen Gegenstücks her bzw. um genau zu sein: über sein im Tode noch immer blutvolles Geschlechtsteil, und erweckt ihn damit, wenn ich die Szene denn richtig verstanden habe, wieder zum Leben. Das ist nur halb so schockierend wie die kathartisch zusammengestammelten Dialoge der Darsteller, die sicherlich durch die Bank weg vor Ort improvisiert worden sind, und hat mich noch weniger überrascht als der Umstand, dass im Finale – die zweite „subversive“ Szene - tatsächlich doch noch ein männlicher Anus von einem Dildo durchstoßen wird, der auf den feierlichen Namen „sword of Uranus“ hört. Mit so viel „Mut“ hätte ich in diesem zurückhaltenden Filmchen da schon gar nicht mehr gerechnet.

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Abb.4: Das Schwert von Uranus, stolz erhoben zum Erschlagen von Lindwürmern und Jungfräulichkeiten.

Tja, und nachdem man noch eine weitere Novizin geködert hat – und zwar, wie gesagt, mit albernen Flyern -, und man sich Sarahs entledigt hat, indem man ihr vorgaukelte, alles, was sie in den Fängen der Uranusiten erlebt habe, sei reines Drogenfieber gewesen, endet der Film dann auf einer Note so konfus, dass ich gar nicht wiedergeben könnte, wo genau die Story denn nun eigentlich hingeführt hat. Immerhin, beim Abspann wissen wir, dass die Stimme aus dem tönenden Horn zu einem Kapuzenträger in einem Raum gehört, von wo aus dieser sämtliche Vorgänge in den Kellern und Hinterstuben per Kamera überwachen kann, was zumindest die Vermutung nahelegt, der ganze Uranus-Hokuspokus sei blanker Humbug, mit dem eine Gruppe desorientierter Elemente als stimulierendes Opium versorgt wird, und daher zumindest die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, man habe mit THE RITES OF URANUS einen Film darüber drehen wollen, wie leicht es religiöse oder politische Ideologie haben, wenn sie die richtige Saite zum Erklingen bringen, ihre Anhänger zu einer tumben Herde blindgläubiger Schafe zu machen. Andererseits: Vielleicht hat man auch einfach nur einen Porno drehen wollen, der irgendwie auf der noch immer noch nicht abgeklungenen Charles-Manson-Welle mitschwimmt, und dabei Versatzstücke des Horror-Genres mit welchen des Science-Fiction-Genres verbindet, und die hauchdünne und hautenge Story später einfach alibihaft und voller Nahtstellen und Flicken um das schnell und billig heruntergekurbelte Gebalze gestrickt. Was mache ich mir aber eigentlich noch weiter Gedanken über dieses historisch sicherlich interessante, ansonsten aber, von der einen oder andern hübschen Einstellung/Bildkomposition einmal abgesehen, nun wirklich keine kostbare Lebenszeit werte Dokument einer Zeit, als bei einem Porno offenbar das bekloppte Drumherum wichtig gewesen ist als die eigentlichen Sexszenen? „Give me a hard on“, rufe ich, „immeditately!“

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Alien Abduction: Incident in Lake County

Produktionsland: USA 1998

Regie: Dean Alioto

Darsteller: Kristian Ayre, Benz Antoine, Gillian Barber, Julian Bond, Dean Alioto

Dean Alioto, das ist erneut ein Name, der wohl den wenigsten Filmenthusiasten etwas sagen wird. Tatsächlich scheint Alioto seit den 90ern vorrangig fürs US-amerikanische Fernsehen zu arbeiten – und zwar an mir als Serienmuffel völlig unbekannten Programmen mit Titeln wie WATCH OVER ME oder THE GENESIS FILES -, und daneben immer mal wieder den einen oder anderen Spielfilm zu realisieren, wobei Werke mit Titeln wie L.A. DICKS oder CRASHING EDEN ebenfalls niemals im für mich relevanten Sektor Wellen geschlagen haben, die hoch genug wären, um mich zu erreichen. Was aber, meine ich, Alioto zumindest einen Fußnoteneintrag in der Filmgeschichte einbringen sollte, das sind zwei seiner frühesten Filme, die nicht nur ähnlich klingen, sondern auch inhaltlich zwei Eier aus demselben Nest sind – zum einen U.F.O. ABDUCTION von 1989, sowie das innovativ betitelte Remake knapp zehn Jahre später, ALIEN ABDUCTION von 1998. Wie ich auf die Idee komme, dass diese beiden Werke, von denen das eine in den späten 80ern in Kleinstauflage direkt auf Video veröffentlicht wurde, und von denen das andere eine Produktion direkt fürs US-Fernsehen gewesen ist, welche sein sollen, in die Freunde und Freundinnen des eher abseitigen Kinos durchaus die eine oder andere Zeiteinheit investieren können, das möchte ich im Folgenden kurz aufdröseln.

U.F.O. ABDUCTION beginnt mit zwei Texttafeln, die das dem Film zugrundeliegende formale Konzept pointiert umschreiben. „From 1949 to 1969 the United States Government conducted investigations into reports of U.F.O. and extraterrestrial sightings. The code name for these investigations was ,Project Blue Book’. Since the termination of ,Project Blue Book’, all data from these investigations and reports thereafter have been made available to the public under the Freedom of Information Act. The uncut video footage you are about to see contains the most important evidence yet made public regarding this phenomenon. This evidence is from the Northwoods, Connecticut, U.F.O. Case 77. On the evening of October 8, 1983, a young man was videotaping his niece’s fifth birthday party. As the night’s strange occurrences took place, he kept his video camera running, recording the entire event.” Halten wir den Film an dieser Stelle bereits einmal an und lassen uns diese Einleitung auf der Zunge zergehen. Was wissen wir jetzt schon über die gleich folgenden knapp sechzig Minuten von Aliotos Debut? Es sind vor allem zwei Dinge: 1. Es wird um Außerirdische gehen, und 2. Es wird so getan werden, als würden wir authentisches found-footage-Material sehen, auf dem zufällig irgendwelche wahrscheinlich unheimlichen Dinge eingefangen worden sind, die mit eben diesen Außerirdischen zu tun haben. Wie aber wird Alioto seinen Ansatz wohl umsetzen? Wüssten wir es nicht besser, würden wir folgenden Schluss ziehen: Wenn der Film, wie anfangs behauptet wird, hauptsächlich oder komplett aus Videoaufnahmen eines jungen Mannes besteht, der eigentlich den Geburtstag seiner Nichte hat dokumentieren wollen, dann aber Aliens vor die Linse bekommen hat, dann könnte uns doch durchaus so etwas erwarten wie THE BLAIR WITCH PROJECT, nur mit Besuchern aus dem Kosmos statt mit welchen aus dem Hexenwald, oder nicht? Dass U.F.O. ABDUCTION im positiven wie im negativen Sinne diesen Verdacht vollauf bestätigt, spricht entweder für unsere Intelligenz oder dafür, dass das Konzept, mit dem die Herren Sánchez und Myrick der Genre-Film-Welt den Atem raubten, strenggenommen vor Innovation nicht wirklich gesprüht hat.

U.F.O. ABDUCTION ist dann auch ein found-footage-Horrorfilm reinsten Wassers. Alioto selbst führt als der in den Einleitungstafeln genannte junge Onkel die Kamera, und bebildert in bekannter Manier, d.h. in der Ästhetik der Wackelbilder, zunächst den etwas langweiligen Kindergeburtstag, führt unsere Protagonisten ein – neben der kleinen Jamie und deren Großmutter noch zwei Brüder des Kameramanns sowie deren Gattinnen, die aber allesamt derart austauschbar sind, dass ich mir nicht mal ihre Namen nicht habe merken können -, und wirft uns dann schon gleich in medias res: Seltsame Lichter durchbrechen die nächtliche Einsamkeit, in der das Landhaus der Familie Van Heese liegt, die drei Brüder gehen nachschauen, was da draußen den Frieden stört, stoßen auf ein waschechtes UFO und waschechte Roswell-Aliens, die offenbar gerade dabei sind, die ihnen fremde Fauna und Flora der Erde zu inspizieren, werden von ihnen entdeckt, bis zurück zum Haus verfolgt, und müssen sich dann dort, zusammen mit den weiblichen Familienmitgliedern, gegen die Gefahr wehren, von den weitgereisten Gästen als Studienobjekte ins Weltall verschleppt zu werden. Während er stilistisch solche found-footage-Filme wie THE BLAIR WITCH PROJECT, THE LAST BROADCAST oder, um einmal ein neueres Beispiel zu nennen, UFO – ES IST HIER antizipiert – inklusive ständig herumschreiende, sich streitende und umherrennende Laiendarsteller, Nachtaufnahmen, bei denen man minutenlang meint, der Bildschirm des heimischen Abspielgeräts sei ausgegangen, und Bildstörungen genau in den Momenten, in denen es etwas Interessantes, wie zum Beispiel einen Außerirdischen aus allernächster Nähe, zu sehen gibt -, rekurriert U.F.O. ABDUCTION vor allem aber auch auf eine wesentlich ältere Tradition, die ich einmal als Belagerungs-Horror bezeichnen möchte: Wie in THE BIRDS oder NIGHT OF THE LIVING DEAD sind auch bei Alioto unsere Helden in einem Haus gefangen, von wo sie sich gegen die von außen anstürmende Bedrohung verteidigen müssen – wobei aber U.F.O. ABDUCTION freilich niemals weder den zentnerschweren psychoanalytischen Überbau eines Hitchcock zu stemmen versteht noch in irgendeiner Szene die klaust-rophobische Intensität erreicht, die der junge Romero zu evozieren imstande gewesen ist.

Stattdessen wirkt U.F.O. ABDUCTION wie ein Film, dessen Erscheinungstermin ich mir auch gut und gerne zwanzig Jahre später vorstellen könnte. Einfach alles exerziert Alioto bereits Ende der 80er durch, von dem found-footage-Streifen heutzutage noch immer leben: Da die Produktionskosten niedrig sind – scheinbar hat Alioto den Film aus der eigenen Portokasse finanziert, wobei das Budget auf der imdb mit immerhin 6.500 US-Dollar veranschlagt wird -, dürfen Raumschiff und Besatzung nie in Nahaufnahme zu sehen sein, damit wir die Masken aus dem örtlichen Kostümverleih nicht erkennen, und da alles so authentisch wie möglich wirken soll, dürfen die Schauspieler am laufenden Band improvisieren, und da das Grauen allein suggeriert und so gut wie nie gezeigt wird, kann das für den Zuschauer entweder nervenzerreißend spannend sein oder eben todlangweilig. Etwas verwundert mich indes, dass, wie man mancherorts im Netz lesen kann, einige UFO-Gläubige seinerzeit auf Aliotos fadenscheinigen Versuch hereingefallen sein und das vermeintliche home video tatsächlich für bare Münze genommen haben sollen. Es mag sein, dass ein Betrachter des Jahres 1989 noch nicht so versiert im Umgang mit Medien und ihren Manipulationen gewesen ist wie es einer fünfundzwanzig Jahre später ist, trotzdem gibt es da so einige Dinge an U.F.O. ABDUCTION, die einem regelrecht ins Gesicht schreien, dass Alioto nicht über so viel Leim verfügt wie beispielweise Ruggero Deodato oder das Team Myrick/Sánchez. Schon der Vorspann, gleich nach den oben zitierten Texttafeln, erinnert an einen eher missglückten Versuch, etwas STAR-WARS-Stimmung aufkommen zu lassen. Vor einem Sternenhimmel saust der Titel des Films auf den Zuschauer zu. Die Buchstaben wölben sich uns regelrecht entgegen, wozu eine New-Age-Musik erklingt, die besser zu einer Dokumentation über die wundersame Welt des Kosmos passen würde. Danach tun die Schauspieler – allesamt Leute aus dem näheren oder ferneren Umfeld Aliotos – zwar alles, um so normal wie möglich zu erscheinen – man bläst Geburtstagskuchenkerzen aus, führt am Küchentisch Parallelgespräche, plaudert über absolute Belanglosigkeiten -, einige Dialogzeilen vereiteln den Versuch aber dann doch, U.F.O. ABDUCTION zu Beginn wirken zu lassen wie den Schlüssellochblick in eine typische US-Familie. Meine liebste Szene in dieser Hinsicht ist das Gespräch zwischen den drei Brüdern, während die dem Geheimnis der komischen Lichtblitze auf den Grund gehen, und das sich um die mutmaßliche Alkoholsucht der verwitweten Mutter dreht. Sätze wie „Drinking causes problems but can not solve anything“ hören sich für mich wie Binsenweisheiten an, die zumindest kein mir bekannter Mensch jemals außerhalb von Büchern oder Filmen äußern würde. Aber man braucht gar nicht nach solchen Details zu fahndend: Da U.F.O. ABDUCTION über einen (mit furchtbarer Musik unterlegten) Abspann verfügt, in dem sogar die Statisten unter den Alien-Masken namentlich genannt werden, kann ich mir eigentlich kein höheres Maß an Transparenz von Alioto wünschen.

Trotzdem scheint der Film, wie gesagt, in gewissen Kreisen dieselben gezogen haben, und entwickelte sich, natürlich nur unter den überschaubaren Mitgliedern besagter Kreise, zu einem Kultgegenstand. Grund genug für Alioto, den gleichen Film im Jahre 1998 einfach noch einmal zu drehen, und zwar diesmal für einen US-Fernsehsender. ALIEN ABDUCTION – INCIDENT AT LAKE CITY erhöht die Laufzeit von sechzig auf neunzig Minuten, vermehrt das Personenarsenal, die Gefahrenszenarien und wirkt überhaupt in allen Belangen, obwohl freilich immer noch einzig und allein mit einer ruhelosen Videokamera aufgezeichnet, beachtlich polierter als der ungleich grobschlächtigere Vorgänger. In U.F.O. ABDUCTION besteht die Handlung im Grunde aus drei simplen Stationen: 1. Die Familie Van Heese merkt, dass was nicht stimmt, werden mit den Aliens konfrontiert. 2. Sie fangen eines dieser Aliens bzw. töten es, und sitzen danach wieder völlig unbekümmert am Küchentisch, um Karten spielend zu warten bis der Morgen anbricht. 3. Das kleine Mädchen gerät unter (telekinetischen?) Einfluss der Außerirdischen, öffnet ihnen Haus und Hof, und unsere Familie wird hypnotisiert und abtransportiert. Großartig gezeichnet werden die Charaktere nicht, die Figuren sind eher grobe Farbkleckse, und es fällt auf, dass Alioto bemüht ist, nicht allzu sehr gängige Genre-Klischees zu bedienen, und dem Ganzen einen eher naturalistischen Anstrich zu belassen. Letzteres kann man bestens an der Bild-Qualität des Films ablesen: Gerade in den Szenen absoluter Dunkelheit ist exakt rein gar nichts mehr zu erkennen, und auch sonst verhindern grobkörnige Pixel nicht nur, dass wir das UFO richtig sehen zu können, Gleiches gilt auch für die menschlichen Protagonisten. Es hat wohl auch mit der technologischen Entwicklung innerhalb der Dekade, die zwischen U.F.O. ABDUCTION und ALIEN ABDUCTION liegt, zu tun, dass letzterer wesentlich ansprechende Bilder beinhaltet, denen zwar der raue Charme des Originals fehlt, bei denen man aber wenigstens erahnen kann, was da eigentlich wer gerade tut oder nicht tut.

Ansonsten tut Alioto selbst aber nichts, um von seinem bewährten Konzept auszuscheren. Die Grundstruktur von U.F.O. ABDUCTION wird übernommen, die oben genannten drei Stationen nur weiter ausgeschmückt und ausgebaut, was zum einen seinen Grund wohl darin hat, dass ALIEN ABDUCTION offensichtlich mehr oder minder drehbuchbasiert organisiert wurde, und sich zum andern allein durch die Zunahme von Rollen erklärt, die in U.F.O: ABDUCTION keine spielten. An Personen werden in ALIEN ABDUCTION in die Waagschale geworfen: Das kleine Mädchen, Rosie, sodann ihre drei Onkel, dem Alter nach aufsteigend, Kurt, Brian und Tommy, der die Kamera führt und den wir deshalb nur ein einziges Mal im Film zu sehen bekommen. Brian ist mit Renee liiert, und hat zu Beginn Sex mit ihr, was Tommy schamlos durch den Türspalt filmt, während Kurts Frau Linda heißt, die dann auch die Mutter von Rosie ist. Anders als im Original hat Alioto den drei Brüdern noch eine Schwester hinzugedichtet, nämlich Melanie, die zu Rosies Geburtstag gleich mal ihren neuen Freund, Matthew, mitbringt. So, als habe Alioto das im gleichen Jahr erschiene Dogma-Meisterwerk FESTEN von Thomas Vinterberg gesehen, muss Matthew ein Schwarzer sein, der vor allem bei Kurt auf instinktive Ablehnung stößt – nicht einmal die Hand möchte er ihm reichen. Damit an Familien-Dysfunktionalitäten nicht genug: Während in U.F.O. ABDUCTION lediglich einmal kurz darauf angespielt wird, dass die Mutter gerne und heimlich einen trinkt, seitdem der Vater verstorben ist, treibt Alioto diesen Charakterzug in ALIEN ABDUCTION bis zum Exzess und weit darüber hinaus. Man hat schwer den Eindruck, einer parodistischen Selbstdemontage des Films zuzusehen, wenn die namenlose Mutter von Anfang bis Ende des Films niemals ohne ihr Weinglas zu sehen ist, an dem sie sich selbst während der Fluchtszenen und als das Haus fast schon unter intergalaktischem Beschuss steht, festklammert wie am sprichwörtlichen Strohhalm, und es dabei schafft, niemals einen Tropfen des kostbaren Saftes zu verschütten.

Allein der Umstand, dass es ein gutes Trinkspiel abgeben würde, jedes Mal, wenn ALIEN ABDUCTION die Alkoholsucht der alten Frau bebildert oder in Dialogen darauf Bezug nimmt, beweist natürlich schon, dass es sich auch bei Aliotos zweitem found-footage-Alienfilm um eine komplett inszenierte Angelegenheit handelt – obwohl er, ebenso natürlich, nicht darauf verzichtet, zu Beginn erneut einen Fließtext zu schalten, die die angebliche Authentizität des Folgenden untermauern soll. „In the fall of 1997, a sixteen year old boy set out to document his family’s Thanksgiving dinner. What he purportedly captured on his video camera was more than just a family get together. The following footage, if real, could be the most important evidence ever, supporting the possibility that we are not alone in the universe”, heißt es dort, und um diesen Punkt noch weiter zu stützen, sind in ALIEN ABDUCTION außerdem Schnipsel von Interviews mit sieben Personen eingeflochten – stilecht immer an den spannendsten Stellen -, von denen keine einzige wirklich existiert, die aber zumindest so tun, als würden sie das. Konkret handelt es sich um: 1. Den Sheriff der Region, in der die nicht mehr Van Heese, sondern MacPherson heißende Familie wohnt, 2. Jason Arnett, Sachverständiger für Video und Videomanipulationen, 3. Dr. Benjamin Green, ein Psychologe, 4. Die Anthropologin Aileen Burchess, 5. Colonel Ronald Hampton. Während diese fünf Personen mehr oder minder ernst ihre Meinung über das zur Disposition stehende Tape äußern, schießen den größten Vogel die beiden letzten Interviewpartner in unserer Liste ab. Julian Bond wird per Texteinblendung als Musiker vorgestellt, dem Akzent nach scheint er Engländer zu sein, und in schwammigen Worten erzählt er etwas, was sich anhört, als sei er selbst vor vielen Jahren einmal von Aliens entführt worden. Dass Alioto seinen eigenen Regieassistenten, denn um niemand anderen handelt es sich bei diesem Julian Bond, vor die Kamera setzt, ist jedoch noch nicht so irre wie die Tatsache, dass er selbst ebenfalls auftritt, und zwar als Filmemacher Damian Hawkins, der in einer beinahe schon poetologischen Sequenz und mindestens fünf Meta-Ebenen oberhalb des eigenen Films behauptet, das MacPherson-Tape könne einfach nur echt sein, er habe es eingehend studiert, und falls es nicht echt sei, dann könne er selbst es nur gewesen sein, der es derart professionell gefakt habe.

Gerade diese Interviews tragen jedenfalls dazu bei, dass ALIEN ABDUCTION zu einer weitaus kurzweiligeren, launigeren Produktion geworden ist als es der spröde U.F.O. ABDUCTION überhaupt sein wollte. Man merkt: Alioto hat schon mehr als einen Science-Fiction-B-Movie gesehen, und er wirft gerne und oft Versatzstücke ins Rennen, selbst wenn diese keinen oder kaum Sinn ergeben - sei es plötzliches Nasenbluten, das bei allen Familienmitgliedern auftritt, oder für den Betrachter unhörbare Sounds, die so grässlich sein müssen, dass sich unsere Helden benehmen wie Alexander DeLarge beim zwangsweisen Beethoven-Hören, oder auch solche völlig unnötigen Szenen wie die, in der Tommy seinen Bruder beim Sex aufzeichnet (und bei der Alioto einmal kurz eine weibliche Brust verpixeln muss.) Nicht nur die Alien-Kostüme sehen besser aus als im Vorgänger, vor allem beim Raumschiff-Design hat man sich wenigstens ein bisschen ins Zeug gelegt. Neben den üblichen Gruppenzwisten – etwas irritierend ist, dass ausgerechnet Mat als Schwarzes Schaf der Familie den Brüdern keinen Glauben schenken mag und sogar als es schon die ersten Anzeichen für die Anwesenheit außerirdischer Existenz gibt, das alles als Quatsch bezeichnet, fast so, als wolle Alioto Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD, wo ja der Afroamerikaner Held und Hauptdarsteller ist, ins reaktionäre Gegenteil verkehren -, und den üblichen Beglagerungszustand-Nebeneffekten wie Schusswechseln, Scharmützeln und schreiender Panik dürfte der größte Pluspunkt von ALIEN ABDUCTION aber wohl die elaboriertere Rolle der kleinen Nichte sein. Deren allmähliche Besessenheit durch die extraterrestrischen Gedankenkräfte wurde in U.F.O. ABDUCTION nur angerissen, in der zweiten Hälfte von ALIEN ABDUCTION entwickelt sie sich zur eigentlichen Hauptquelle der Spannung. Die Gefahr lauert nicht nur außerhalb des Hauses, sondern mitten unter unseren Helden, die davon aber nichts ahnen, während wir – eine bemer-kenswerte Szene - Rosie in einem unbeobachteten Moment, als die Kamera noch läuft, aber weggelegt ist, dabei zuschauen dürfen wie sie aus der einzigen Schusswaffe des Hauses die Munition entfernt. Schön simpel, aber effektiv sind auch die Szenen, in denen Rosie sich ans Klavier setzt und immer wieder eine Melodie spielt, die von ihren Verwandten als unangenehm und unheimlich empfunden wird, von der wir als Zuschauer aber keine einzige Note vernehmen können.

In dem Zusammenhang steht auch meine liebste Szene in ALIEN ABDUCTION. Erneut sitzt Rosie, mit dem Rücken zu uns bzw. Tommy, am Klavier, und schlägt eine Melodie von fernen Sternen in die Tasten. Rechts auf der Couch haben sich Matthew und Linda niedergelassen. Plötzlich fangen beide das Knutschen an. Mutter und Weinglas rufen Rosie zur Ordnung: Wo hast Du denn dieses Lied gelernt? Da steht auf einmal Melanie im Raum und fragt ihren Freund, warum er sich denn mit ihrer Schwägerin herumbeiße. Beide sind schockiert, springen auf. Ich dachte, sie wäre Du!, beteuert Mat – und uns ist natürlich klar, dass Rosies Klavierspiel die Geister ihrer Verwandten munter durcheinandergewürfelt hat. Das klingt nun wenig spektakulär, doch auf eine einfachgestrickte Art ist diese Szene genauso amüsant für mich wie die ständig grotesk überzeichneten Auftritte der Mutter, die einen Satz gerne mal fünf- bis zehnmal wiederholt, und mit zunehmender Laufzeit und Nacht immer besoffener und dadurch immer verwirrter wird.

Da es nun doch wesentlich mehr Zeilen gekostet hat als ich ursprünglich geplant habe, komme ich nun endlich zu den berühmten letzten Worten, die im Falle von ALIEN ABDUCTION für mich selbst überraschend positiv ausfallen. Sicher, der Film ist limitiert in seinen Mitteln, und ja, besonders viel Spannung kommt auch nicht unbedingt auf, und manchmal scheint Alioto nicht recht zu wissen, ob er sein Werk weiter bewusst überzeichnen und mit trashigen Ideen vollpacken, oder ob er besser die hard-boiled Schule des seriösen found-footage-Horrors bedienen soll, und unterm Strich sieht man in ALIEN ABDUCTION nicht viel mehr als einen Haufen unsympathischer Leute, der schreit, flieht, Blödsinn redet und nach und nach von Außerirdischen gepackt wird, die man wiederum so gut wie nie sieht, doch nichtsdestotrotz haben mich gerade die Subplots um das vom Feind besetzte Kind und die trunksüchtige Mutter derart unterhalten, dass sie mir auch über die Durststrecken des Films hinweggeholfen haben. ALIEN ABDUCTION erfindet das Rad nicht neu – um genau zu sein: er erfindet gar nichts, doch besser, weil schräger und in gewisser Weise ehrlicher als ein vergleichbares Hollywood-Produkt wie M. Night Shyamalans SIGNS ist das allemal. Und wem selbst ALIEN ABDUCTION noch zu glatt, zu sehr aufgeladen mit daily-soap-Elementen und zu sehr bestimmten Genre-Regeln verpflichtet sein sollte, der hat ja immer noch die Möglichkeit, sich den noch ereignisloseren, noch unterhaltungsärmeren, schlichtweg ungehobelten U.F.O. ABDUCTION reinzuziehen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Be My Cat: A Film for Anne

Produktionsland: Rumänien 2015

Regie: Adrian Tofei

Darsteller: Adrian Tofei, Alexandra Stroe, Sonia Teodoriu, Florentina Hariton
Seit Adrian Anne Hathaway als Catwoman in Christopher Nolans THE DARK KNIGHT RISES gesehen hat, ist er unsterblich verliebt in die US-amerikanische Schauspielerin. Was liegt, da er sich außerdem zum Arthouse-Regisseur berufen fühlt, näher als gemeinsam einen Film mit ihr zu drehen? Problem ist nur: Adrian wohnt mit Ende Zwanzig noch immer bei seiner Mutter auf dem rumänischen Land, und möchte dieses auch nicht verlassen, sondern seinen Film BE MY CAT in der vertrauten Umgebung seiner Kindheit und Jugend inszenieren. Wieso Anne nicht erstmal ein Video zuschicken, in dem er ihr seine Beweggründe erklärt, sein Projekt vorstellt und zugleich schon einmal einige Szenen in Rohfassung präsentiert, in denen sie später als Hauptdarstellerin glänzen soll, die aber erstmal mit anderen Actrissen quasi als visuelles Exposé realisiert worden sind? Tatsächlich findet Adrian im Netz eine Dame, die nicht nur aussieht wie Anne, sondern zudem bereit ist, in seinem vermeintlich nur auf den Weltruhm wartenden Film mitzuspielen. Schnell jedoch bringt er sie mit seiner penetranten Art, den obskuren Stalking-Szenarien, die er ihr und sich auf den Leib geschrieben hat, und schier absurder Schauspielvorgaben dazu, die Polizei zu rufen. Damit endet der Realismus, den Adrian anstrebt, noch nicht: Das Chloroform, mit dem er seine Schauspielerin schließlich betäubt, ist genauso echt wie die Fesseln, mit der er sie auf einem Hotelzimmerbett gefesselt hat, und wie die eigenen Hände, mit denen er sie vor laufender Kamera erstickt. Mehr und mehr kristallisiert sich bei Adrians pausenlosen Monologen in seine Handkamera, die sich parallel dazu für ihn ebenso mehr und mehr in Frau Hathaway selbst verwandelt, heraus: Wir haben es mit einem waschechten Psychopathen zu tun, der nicht nur glaubt, bald mit seiner Anne und einem Haufen Kinder irgendwo in den Hügeln Hollywoods zu leben, sondern mit seinem Katzenfilm auch so etwas die seelische Läuterung der gesamten Menschheit als Agenda im Blick hat. Außerdem hat er noch weitere naive junge Frauen gefunden, die, solange sie glauben, dass ihnen das Ruhm und Geld einbringt, sogar bereit sind, einem Wildfremden in schalldichte Kellerräume zu folgen…

Die Prämissen lassen BE MY CAT zugegebenermaßen klingen wie eine etwas elaborierte Variante solcher Fake-Snuff-Werke wie GUINEA PIG: AKUMA NO JIKKEN oder AUGUST UNDERGROUND: BE MY CAT besteht allein aus einem Zusammenschnitt von Adrians Kamera-Aufzeichnungen, unser Held leidet unter einer reichlich desolaten Psychen, und entwickelt sich vor unseren Augen vom sozial isolierten Sonderling zum Frauenschlächter, inszeniert letztlich seine Gräueltaten für den Blick der Kamera als Film-im-Film, und statt eines Vorspanns erklärt uns eine Texttafel, wie authentisch doch wäre, was wir gleich zu sehen bekommen („This film has been edited from the 25 hours of footage found by police at the 'Be My Cat' crime scene in Radauti, Romania on May 20, 2014“). Trotz dieser Kongruenzen könnte BE MY CAT indes eigentlich nicht weiter entfernt sein von Filmen des oben erwähnten Schlages, deren Hauptziel es ist, grausige Folter- und Todesszenen so realistisch, d.h. so schmucklos wie möglich in verwackelt-verwaschenen Amateur-Bildern einzufangen.

Das Konzept von BE MY CAT ist, auch wenn es zunächst noch so simpel klingt, wesentlich komplexer: Der aus dem Improvisationstheater stammende Adrian Tofei entwickelt bereits in einer preisgekrönten One-Man-Show namens THE MONSTER 2012 eine Kunstfigur, die dem Publikum in Sträflingsuniform von seiner manischen Liebe zu einer Schauspielerin berichtet, und von den Straftaten, die seine Obsession ihn zu begehen gezwungen hat. Für BE MY CAT hat er diesen Charakter nicht nur weiterentwickelt, sondern gleich mit seinem tatsächlichen Leben verschmelzen lassen: Tofei zieht zurück zu seiner Mutter in seinen Heimatort Radauti nahe der Ukrainischen Grenze, finanziert sein Projekt hauptsächlich über die Crowdfunding-Plattform Indiegogo, lernt seine Darstellerinnen über Internet-Chats kennen, und filmt bereits ihre erste Treffen unablässig mit der Kamera – alles exakt so wie der Adrian im Film. Regisseur Tofei und seine Figur Adrian kleben symbiotisch aneinander, so wie die Handlung des Films, den Adrian in BE MY CAT drehen will – und der ebenfalls BE MY CAT heißt -, und die außerhalb ihrer Rollen bestehende Beziehung zwischen Adrian und seinen Schauspielerinnen kaum voneinander zu trennen sind. Als eine der Schauspielerinnen (in ihrer Rolle) die Polizei ruft, tut sie das wirklich, und wenn seine Darstellerinnen ihn in dem gemieteten Hotelzimmer besuchen, dann sind sie tatsächlich zum ersten Mal dort. Das vielschichtige Gewebe aus Diegese (die Handlung von Adrians Film, in dem Anne Hathaway später die Hauptrolle übernehmen soll), Extradiegese (die Interaktion von Adrian mit seinen Schauspielerinnen außerhalb dieses Films, zum Beispiel wenn er ihnen Regieanweisungen gibt oder erklärt, weshalb eine Szene wieder und wieder gedreht werden muss) und Metadiegese (die Tatsache, dass Adrian Tofei außerhalb seiner gleichnamigen Kunstfigur ebenfalls offensichtlich gerade ein Regisseur ist, der einen Film dreht, nämlich den Pseudo-Snuff-Film BE MY CAT) müsste Tofeis Debut an sich schon zum gefundenen Fressen für Medien- und Filmwissenschaftsstudenten machen – selbst wenn BE MY CAT nicht auch nebenbei ein einfach nur innovativer, unterhaltsamer, zugleich verstörender wie humorvoller Film wäre.

In Wirklichkeit sind die Mordszenen – von denen es eh nur zwei gibt – so wenig plakativ wie möglich inszeniert, und liegt der Fokus von Tofeis Film auf dem schrägen, mit zunehmender Laufzeit immer verrückter werdenden Verhalten der von ihm verkörperten Figur. Eins vorweg: Adrian Tofei merkt man an, mit was für einem Enthusiasmus er sich in der Rolle des sozial isolierten Sonderling versenkt hat. Es ist ähnlich wie bei Joe Spinells Verkörperung von Frank Zito in MANIAC: Man mag kaum glauben, dass BE MY CAT nicht tatsächlich Aufnahmen eines echten Psychopathen beinhaltet, der irgendwo in Rumänien tatsächlich sinnlos Frauen abgeschlachtet hat. Dabei gelingt Tofei, ebenso wie Spinell, das Kunststück, seinen Adrian nicht einfach nur als verabscheuungswürdiges Ungeheuer zu zeichnen, sondern immer wieder auch Mitleid und Sympathien für ihn zu erwecken, den Wunsch, ihn in den Arm zu nehmen oder ihm das Messer aus der Hand zu schlagen, manchmal sogar, seine verquere Perspektive einzunehmen, oder herzhaft über/mit ihm zu lachen. BE MY CAT ist, wie Tofeis Bühnenprogramme, eine reine One-Man-Show, neben der alles Übrige zum schmucken Beiwerk wird. Wenn Adrian der Kamera bzw. Anne utopisch verkitschte Liebeserklärungen entgegenstammelt, möchte man vor Fremdscham im Fernsehsessel versinken. Wenn er sich gegenüber seiner Schauspielerinnen zum Prototyp des tyrannischen Directors entwickelt, und von ihnen schier Unmögliches verlangt, möchte man ihn gerne am Kragen packen und zur Ordnung rufen. Wenn er zu seinem liebsten rumänischen Schlager – Nu plecăm acasă von Stelian Maria – peinlich unbeholfen vor der Kamera herumtanzt, möchte man gerne darauf scheißen, wie man auf andere wirkt, und ihm in seinem Außenseitertum Gesellschaft leisten.

Bei alldem schwankt der Film – (welcher von den vielen nun eigentlich?) – konsequent zwischen grotesker Komik, Schau-der/Schock und freien Improvisationen, denen man ansieht und anhört, dass sie, was BE MY CAT seine dichte Authentizität verleiht, ohne ein Drehbuch entstanden sind. Eine Szene, in der diese drei Aspekte ziemlich großartig zusammentreffen, ist folgende: Adrian hat eine seiner Darstellerinnen an eine Matratze im Hotelkeller gefesselt, und erklärt der anwesenden zweiten, sie müsse sich nun entfernen, denn für die Szene könne er keine Zuschauer gebrauchen. Nachdem sie sich entfernt hat, packt er seine Werkzeuge aus, und eröffnet der Gefesselten, dass er sie nun vor laufender Kamera zerstückeln müsse – das sei das ultimative Opfer, für den Film, für die Kunst, für Anne Hathaway. Während die Dekomposition im Gange ist – zurückhaltend hinter einem Vorhang gefilmt, der den Körper der Märtyrerin bis zum Brustbereich verhüllt -, stolpern zwei ältere Herren aus der Pension, angelockt von den schrillen Schmerzensschreien, in den Keller. Adrian schafft es, sie abzuwimmeln: Wir drehen doch einen Film hier, das wissen Sie doch. Sie geht völlig in ihrer Rolle auf!, sagt er und deutet auf sein bereits halb ohnmächtiges Opfer. Was für ein irrer Kunst-Spinner!, denken die Männer und entfernen sich lachend. Diese Szene fasst schön zusammen, an was für einer hochinteressanten Schnittstelle zwischen sogenannter Realität, Fiktion und Fiktion innerhalb einer Fiktion BE MY CAT platziert ist: Das Blut ist Kunstblut, die beiden Pensionsgäste aber sind, Tofei zufolge, echt, d.h. herbeigerufen von dem Gekreisch seiner Darstellerin, die jedoch in ihrer Rolle verbleibt, und die Männer, so wie es ein wirkliches Opfer in diesem Moment getan hätte, um Hilfe anfleht. Diegese, Extradiegese, Metdiegese fallen ineinander wie drei Wellen, die am Ende eine einzige Pfütze ergeben.

Extra erwähnt werden muss wohl nicht, dass BE MY CAT, dessen Budget sich auf gerade mal 10.000 Euro beläuft, einer Ästhetik verpflichtet ist, die sich von der anderer Found-Footage-Filme höchstens dadurch unterscheidet, dass sie noch ein bisschen kahler daherkommt. BE MY CAT sieht und wirkt von der ersten bis zur letzten Minute wie das (aus), was die Texttafel vorgibt, das er ist – was im Umkehrschluss auch bedeutet, dass es keine einzige Szene gibt, bei der der Umstand, dass die Kamera läuft, nicht irgendwie logisch begründet wäre, und dramaturgische Schauwerte sich dementsprechend in Grenzen halten, deren enge Strickmaschen die Erwartungshaltung vieler Leute, nehme ich an, einigermaßen unbefriedigend einschnüren dürfte. BE MY CAT ist vielmehr ein intelligenter, schauspielerisch beängstigend realistisch dargebotener Film, der sein selbstreflexives Potential nicht, wie viele andere Vertreter seines Genres, an inflationäre Flucht- und Todesszenen in unruhigen Kamerabildern verschenkt, sondern es nutzt, mich regelrecht wie in einem Spinnennetz in ein Geflecht aus Dokumentation, Inszenierung, Hollywood-Seitenhieben, Offenlegen der eigenen Produktionsbedingungen, meta-poetologischen Monologen, Grand-Guignol-esken Gewalteinsprengseln und wahnhaften Katzenphantasien zu verstricken.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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The Devil inside her

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Originaltitel: The Devil inside her

Herstellungsland: USA / 1977

Regie: Zebedy Colt

Darsteller: Terri Hall, Jody Maxwell, Dean Tait, Rod DuMont, Zebedy Colt
Die Karriere des Zebedy Colt ist ja auch mal wieder eine, die man sich in seinen Träumen nicht ausdenken kann: Geboren 1929 avanciert Edward Earle Marsh zunächst zum Hollywood-Kinderstatist - und sitzt beispielweise gemeinsam mit Errol Flynn in THE ADVENTURES OF ROBIN HOOD (1938) im Sherwood Forest am Lagerfeuer herum -, schafft es in Cecil B. De Milles THE TEN COMMANDMENTS (1958) schließlich sogar zum Sklaven, und fasst nebenbei Fuß in der New Yorker Theaterszene, was ihm die eine oder andere Nebenrolle in populären Broadway-Musicals einbringt. Wie jeder Mensch so hat aber auch Herr Marsh eine unkonventionelle Seite – nur lebt er die offener aus als es die meisten anderen tun würden: Auf seinem Ende der 60er aufgenommenen Musik-Album I’LL SING WITH YOU adaptiert er mit der Stimme eines charismatischen, tonsicheren Swing-Sängers und unterstützt vom London Philarmonic Orchestra größtenteils klassische Standards, verleiht ihnen aber, indem er meist nur das „she“ durch ein „he“ ersetzt, einen unverhohlen homoerotischen Unterton. Ohne auf irgendeine camp-Ästhetik zurückzugreifen oder sich in einem gängigen Schwulenklischee zu verlieren, intoniert Colt, wie sich Marsh für die Platte umgetauft hat, auf die denkbar ehrlichste Art und Weise Liebeslieder von Männern für Männer, ohne dass man das Gefühl bekommt, das sei nicht die natürlichste Sache der Welt. Die LP, auf deren Cover übrigens sexy die David-Statue Michelangelos prangt, wird – wenig verwunderlich – vom Mainstream-Radar überhaupt nicht erfasst, in einschlägigen Homosexuellen-Zines aber umso begeisterter aufgenommen, was Colt quasi über Nacht zu einer Ikone der Schwulenbewegung macht. Nachhaltiger im (gegen-)kulturellen Gedächtnis verankert sind allerdings die hardcore-pornographischen Filmprojekte, die der bisexuelle Tausendsassa ab 1975 unter dem gleichen Pseudonym zu realisieren beginnt. Während allerdings mir allesam bislang (noch!) unbekannte Werke wie UNWILLING LOVERS (1975), THE FARMER’S DAUGHTERS (1976) oder VIRGIN DREAMS (1977) die Schmuddel-Kinos der Staaten einsauen, tritt parallel dazu Marsh weiterhin als mehr oder minder seriöser Broadway-Schauspieler auf – was, wie er in späteren Interviews erzählt, zu mehr als einer absurden Situation geführt haben soll, als zum Beispiel seine Mitstreiter auf den Bühnenbrettern in ihm plötzlich einen Darsteller des Pornos zu erkennen meinten, den sie letzte Nacht im Hinterhofkino um die Ecke geschaut haben. THE DEVIL INSIDE HER (1977) ist mein erster Zebedy-Colt-Film – (wenn man den kürzlich von mir besprochenen, und ihm von mancher Quelle zugeschriebenen THE RITES OF URANUS (1975) einmal ausklammern möchte) -, und wenn alle seiner gerade mal zehn Sexfilmchen, bei denen er Regie geführt hat, in die gleiche Kerbe schlagen, dann habe ich, glaube ich, ein neues (bzw. da hier mehrere Leute mitlesen, nicht allzu) heimliches Laster gefunden.

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Abb.1: Farbspiele, die Roger Corman nicht besser hinbekommen hätte. Gleich zu Beginn verortet sich Colts Film in einer Genre-Traditionslinie, die ihm keine Last, sondern federleichter Ball zum Ausspielen der eigenen Gegenkultur-Sensibilitäten zu sein scheint.

Schon gleich der Vorspann weckt schöne Erinnerungen an Roger Cormans märchenhaften Gothic-Horror-Klassiker THE FALL OF THE HOUSE OF USHER (1960), denn wie dort pantscht Colt in dickflüssigen, psychedelisch-bunte Komplementärfarben, die dicht vor der Kameralinse ineinanderfließen, blubbern, Schlieren ziehen, sich aneinander reiben, während eine völlig derangierte musique concrète scheppert, dass es den zartbesaiteteren Ohren schon zu viel sein dürfte. Was wir als nächstes sehen, sind Schafe, und zwar im Neuengland des Jahres 1826, wo die Handlung vorliegenden Filmes spielt, obwohl die Männer bereits Jeans tragen, und die Frauen Lidschatten. Dreh- und Angelpunkt ist die Farm des Ezekiel Hammond – (gespielt von niemand Geringerem als dem Regisseur selbst, und zwar stilecht mit angeklebtem Backenbart und verhärmtem Puritaner-Gesicht) -, wo, neben ihm, noch seine unscheinbare Gattin Rebecca sowie die beiden programmatisch betitelten Töchterchen Hope und Faith leben. Da beide Jungfräulein dabei sind, in die Geschlechtsreife zu kommen, fällt es ihnen schwer, ihre Augen von dem Adonis Joseph abzuwenden, der als Waisenknabe sein Unterhalt auf dem Hammond-Hof verdingt, und dabei gerne mal mit nacktem Oberkörper die Sense zur Beseitigung von Dorngestrüpp schwingt. Joseph indes hat seinerseits nur Blicke für Faith, mit der er sich solange verstohlene, aber immer außerordentlich keusche Treffen liefert bis ihr sittenstrenger Vater hinter das vermeintlich unlautere Treiben kommt, Joseph der Farm verweist und seiner Tochter versucht mit erhobener Peitsche die Sünde auszutreiben. Das hätte allerdings mehr noch Hope verdient, die, nachdem sie erfahren hat, dass Joseph und ihre Schwester bereits zarte Liebesbande geknüpft haben, rasend vor Eifersucht durch den Wald wütet, und Gott oder den Teufel anruft, ihr Flehen zu erhören: Niemand bisher habe jemals so wie sie unter Herzschmerz gelitten! Da die Existenz Gottes in einem Porno-Film selten bewiesen wird, ist es natürlich der Satan höchstpersönlich, der aufgrund ihres Geschreis aus der Hölle steigt, und einen nicht staunen lässt über das – sagen wir – eher spezielle Gemächt seines Darstellers. Nicht nur hat man Rod DuMont eine Gesichtsbemalung verpasst, die ihn aussehen lässt wie das verlorene fünfte Mitglied von KISS oder einen frühen Black-Metal-Panda, zudem verfügt der ständig wie Gene Simmons mit seiner Zunge tänzelnde Diabolus über einen extrem großen Liebesmuskel und extrem schwergewichtige Hoden, so, als seien sie mittels Gewichte künstlich die Länge gezogen worden. Zu Mönchsgesängen aus dem Off onaniert der Gehörnte nun erstmal zur Feier des Tages im Gehölz, bevor er sich in Joseph verwandelt – wobei aber trotz veränderter Gestalt Make-Up-Rückstände im Gesicht des Jünglings verbleiben -, und Faith, ohne deren Konsens abzuwarten, die Jungfräulichkeit raubt.

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Abb.2: Da ich Schafe (&Ziegen!) mag, ist jeder Film, der mit solchen eröffnet, schon einmal ein Herzenskandidat. Wenn sie dann auch noch hinter dem Schriftzug "New England 1826" der Kamera entgegenschlendern, ist die Welt für mich *fast* perfekt.

Parallel dazu verschlägt es Hope, die freilich nichts davon ahnt, dass der Herr der Fliegen bereits ganz in ihrer Nähe seinen Schabernack treibt, zu einer ausgestoßen von der Gesellschaft im Forst lebenden Kräuterhexe, von der sie – ganz wie in Shakespeares MIDSUMMERNIGHT’S DREAM – einen Liebestrank fordert, den sie Joseph einflößen möchte, auf dass er sich unsterblich in sie vergucke. Allerhand ekelhafte Ingredienzien werden von der Zauberin zusammengerührt – darunter Ziegenschweiß, Fledermausaugen, Krötenblut, und Papageiensperma – bevor sich aus den Baumwipfeln ein männlicher Waldelf namens Nicodemus herniederschwingt, dem Hope nun ebenfalls den Lebenssaft aussagen muss, damit die Hexe ihn als angeblich wichtigsten Bestandteil ihres Gebräus verwenden kann. Natürlich steckt die Hex‘ aber mit dem Teufelchen unter einer Decke, dessen Plan vorsieht, den gesamten Landstrich mit Sünde und Gottlosigkeit zu kontaminieren. Hierfür nimmt er in der Folge – erneut wie im berühmten Theaterstück des Dichterbarden – so ziemlich jede Gestalt an, die sich ihm bietet: Als Mutter Rebecca penetriert er Faith mit einem Strap-on-Dildo. Als Vater Ezekiel schläft er mit der inzwischen dauergeilen Hope. Als schwarzer Hund greift er schließlich den „richtigen“ Ezekiel an, der seinen Augen kaum glauben mag, als er sich selbst mit der eigenen Tochter unzüchtig auf der Wiese verkehren sieht. Turbulent purzeln die Szenen in den gerade mal knapp siebzig Minuten Laufzeit alsbald durcheinander, was Colt mehr als eine Gelegenheit gibt, auch storyfremde Elemente einzustreuen, die scheinbar hauptsächlich dazu dienen sollen, mich als Betrachter zu schockieren, (mich letztlich aber – was möglicherweise ein weiteres Indiz für die zunehmende Verrohung ist, der ich durch den Konsum solcherlei Giftschrankware ausgesetzt bin - oftmals eher amüsiert haben). Großartig ist zum Beispiel die Szene, in der Faith wie von Sinnen mit einer Trias aus Maiskolben, Banane und Karotte masturbiert, oder der zitierfähige Satz, den Hope fallenlässt, als sie vom Teufel in der Verkleidung ihres eigenen Vaters penetriert wird: „My own father whoring after me, this makes my life complete!“ Die abschließende etwa viertelstündige Orgie, bei der die Story endgültig in ihre Bestandteile zerfällt, spult dann in knalligem Bava-Rot mit teilweise gänzlich anderen Darstellern eher raueres Material ab, bei dem mich die Goldene Dusche, die eine der Damen durch ein gemischtrassiges Herrenensemble erfährt, dann doch kurz hat irritiert zusammenzucken lassen. Ansonsten muss ich THE DEVIL INSIDE HER jedoch bescheinigen, dass sein Hardcore-Sex gleichberechtigt neben der aus klassischen schauerromantischen Topoi zusammengesetzten Geschichte steht, - wenn nicht sogar vor ihr in den Hintergrund gerät. Die Balz-Szenen sind oft vergleichsweise kurz, stehen zumeist in klar erkennbarem Verhältnis zu den narrativen Elementen, und höchstens der finale Hexensabbat sticht als Kulminationspunkt emanzipatorisch aus dem konsequentem Schema hervor.

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Abb.3: King Diamond in seinen jungen Jahren. Aus Jugendschutzgründen kann ich euch leider nicht zeigen, was für ein unglaubliches Spektakel unterhalb dieses Bildausschnitts baumelt.

Da THE DEVIL INSIDE HER offenbar vor allem auch eine Geschichte erzählen möchte – tatsächlich habe ich die Kopulationen, wie bei so vielen anderen Pornos auch, als wenig inspirierend, manchmal sogar reichlich unerotisch empfun-den -, ist es umso löblicher, dass Colt das Fabulieren mehr recht als schlecht gelingt. Sein Film hat nicht nur Muschi und Schwanz, sondern auch Hand und Fuß, wird veredelt von einer teilweise wunderschönen Photographie, die den schlafwandlerischen Zauber des neuenglischen Forstes auf eine Weise einzufangen versteht, bei der ich das wohl ziemlich zusammengeschnürte Budget-Korsett des Films gerne bereitwillig vergesse, und erfrischt mich als Literaturwissenschaftler nicht nur mit der einen oder anderen witzigen Shakespeare-Referenz, sondern als Connoisseur von allem, was außerhalb der Norm stattfindet, mit einer ganzen Handvoll surrealer Szenen, die mir wie selbstverständlich ein Lächeln ins Gesicht kleben: Rauchende Teufelspenisse, Feuer spuckende Satane, back-wards-masking auf der Tonspur, muntere Waldelfen, ein ganzes Arsenal an schwarzmagischer Zaubermittel macht THE DEVIL INSIDE HER zu einem kurzweiligen Vergnügen für, denke ich, jeden aufgeschlosseneren Cineasten. Bricht man den Film übrigens auf seine basale Substanz herunter – ein strengreligiöser Vater verbietet seinen Töchtern jeden Anflug von Zuchtlosigkeit, bekommt dafür aber dadurch die Quittung, dass seine Verbote die jungen Frauen erst recht zum Tabubruch anstacheln, und muss letztendlich seine eigenen Moralvorstellungen dahingehend modifizieren, dass er ihnen ein individuelles Geschlechtsleben zugesteht -, kann man ihn übrigens auch als Parabel auf die Gegenkulturbewegung der späten 60er und deren Auswirkungen auf die westliche Gesellschaft lesen: Wenn Hope den Teufel um Hilfe anruft, dann bewirkt das eine ähnliche Explosion wie die, die vermeintlich etablierte Normen und Werte spätestens im Schicksalsjahr 1968 erfahren haben, und das Ergebnis bedeutet Opfer auf der Seite derer, die sich ohne Ziel und Halt in diesem Überschäumen revolutionärer Energie verlieren (in unserem Fall: Hope, die den Hexensabbat nicht überleben wird), vor allem aber eine gesamtgesellschaftliche Liberalismus, was vorherige Moralvorstellungen betrifft. Letztlich kann man THE DEVIL INSIDE HER damit sogar als systemstabilisierend interpretieren: Colt propagiert das berühmte „rechte Maß“, sprich: eine, wenn man so will, lustvolle Ehe zwischen zwei Liebenden, und kehrt sich ab von den Verlockungen einer destruktiven Sexualität, die sich die Zerstörung als Selbstzweck auf die erigierten Penisse und feuchten Vaginen geschrieben hat. Hierbei gilt aber, wie immer: Es kann natürlich auch sein, dass ich erneut zu viel mit dem Kopf und weniger mit den Lenden denke, und diesem Film Dinge unterstellte, von denen er sich, wenn er könnte, wortreich distanzieren würde. Trotzdem: Ich bin ziemlich positiv überrascht von diesem kleinen, schmutzigen Teufelsspuk, den ich mir gut und gerne in einem Programm mit, sagen wir, Nino Oxilias RAPSODIA SATANICA (1915), J. A. Protasanows SATAN TRIUMPHANT (1917) oder Hans Mierendorffs DIE TEUFELSKIRCHE (1919) vorstellen könnte.

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Abb.4: Zu guter Letzt: Eine wirklich wunderschöne Bildkomposition, bei der in fast schon betörender Weise mit Licht/Gegenlicht gearbeitet wird. Die kurz danach zur Teufelsanbeterin mutierende Hope ist für einen flüchtigen Moment in eine Korona gekleidet, die sie zur (falschen?) Heiligen stempelt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Angel Above, Devil Below

Produktionsland: USA 1974

Regie: Dominic Bolla

Darsteller: Linda York, Robert Bedford (sic!), Starlyn Simone, Lamar Gilbert, Rene Bond
Nach THE RITES OF URANUS und THE DEVIL INSIDE HER ist ANGEL ABOVE, DEVIL BELOW nunmehr innerhalb kürzester Zeit mein dritter US-amerikanischer Spielfilm aus den 70ern, der Hardcore-Sex mit okkult-diabolischen Praktiken verbindet, und erneut kann ich mir nur verwundert die Augen darüber reiben, zu welchen kruden Ideen die erste post-68-Generation von Horizontalfilmern sich seinerzeit verstiegen hat. Dabei beginnt die einzige Regie-Arbeit Dominic Bollas – nicht zu verwechseln natürlich mit Rick Bolla! – noch weitgehend innerhalb gängiger Fleischfilm-Klischees: Der Handwerker werkelt im Haus der alleinerziehenden Turgid, was primär bedeutet, dass er mit seinem Hämmerchen sinnlos auf den Stufen der Treppe herumklopft, die hoch ins Schlafzimmer führen, aus dem die Hausherrin im Negligé tritt: Er solle doch mit dem Lärm aufhören, denn ihr Töchterchen Randy fühle sich nicht wohl, habe sich bereits hingelegt, und außerdem wolle sie ihm etwas an ihrem Bett zeigen, das auch dringend mal die Zuwendung eines strammen Burschen wie ihm bräuchte - und was sie damit meint, das bekommen wir, (allerdings untermalt von sehr alberner, geradezu peinlicher Musik mit penetrantem Flöten-Einsatz), in Detailfreude gleich im Anschluss zu sehen. Doch nebenan braut sich ein Unwetter höllischen Ausmaßes zusammen: Randy, die ihrer Mutter nicht nur überhaupt nicht wie aus dem Gesicht geschnitten aussieht, sondern außerdem höchstens eine Handvoll Jahre jünger als sie zu sein scheint, ist irgendwie – erklären möchte das der Film nicht – in den Besitz eines Lehrbuches darüber geraten, wie man den Leibhaftigen beschwören könne, und im Kerzenschein tut sie jetzt genau das. Satanas, venit me fornicare!, wiederholt sie mantra-artig in holprigem Latein einen Satz, den man wohl gar nicht übersetzen muss, um ihn zu verstehen – und tatsächlich: Plötzlich materialisiert sich ein Mann mit Hut und schwarzem Anzug mitten in ihrem Zimmer, wo er zunächst einmal leger an die Wand gelehnt stehenbleibt, und Randys Vagina beim Zwiegespräch mit einem Dildo zuschaut. So sehr ist das junge Mädchen in Ekstase versetzt, dass es weder etwas von den stark behaarten Armen mitbekommt, die lüstern ihren Körper betasten, noch davon, dass eine Tarot-Karte mit Ziegengott wie von selbst zu ihrer Scham hin flattert. Irgendwann aber eröffnet ihr der Teufel, des Voyeurismus überdrüssig und auf einmal bestückt mit einer Fratze, die an eine zerfließende Pizza erinnert, dass er nun den Koitus mit ihr vollziehen wolle („Come taste my cock! Come, sweet meat – fuck me!“), was Randy, die es plötzlich mit der Angst zu tun kriegt, ihm indes unter vollem Körpereinsatz verwehrt. Die Strafe folgt auf den Pferdehuf: Der brüsk Abgewiesen rächt sich an unserer Heldin, indem er kurzerhand in ihr Geschlechtsteil fährt, und fortan dort ein Unwesen treibt, das vor allem einerseits aus einem Randy von jetzt an plagenden unstillbaren Sextrieb besteht, und andererseits darin, dass Satanas mit stark verfremdeter Dämonenstimme aus der Muschi unserer Heldin kontinuierlich Obszönitäten ausstößt – was ANGEL ABOVE, DEVIL BELOW gerne und oft mittels Großaufnahmen illustriert, bei denen Darstellerin Linda York ihre Schamlippen zucken lässt wie ein Bauchredner.

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Spätestens jetzt wird jeder, der das Entstehungsjahr unseres heutigen corpus delicti im Blick hat, schon ahnen, auf was vorliegender Film hinauslaufen möchte, denn der sensationelle Erfolg, den Friedkins THE EXORCIST einfuhr, ist 1974 noch kein Schnee von gestern, und ANGEL ABOVE, DEVIL BELOW ganz offensichtlich vorrangig darum bestrebt, so etwas wie eine XXX-Parodie auf besagten Kassenschlager zu bilden. Randys Erklärungen, sie bzw. ein bestimmter Teil von ihr sei vom Teufel besessen, schenkt ihre Mutter keinen Glauben, und vermutet stattdessen, dass ihr Töchterchen in eine besonders anstrengende Phase der Pubertät geraten sei, während Randy reihenweise Männer wie den Hausarzt oder den Handwerker vom Anfang mit ihrer kräftig zubeißenden und pöbelnden Vagina in die Flucht schlägt oder ihnen körperlichen Schaden zufügt. Nachdem ihr eine Krankenschwester zur Seite gestellt worden ist, deren Augen wachsam auf Randy ruhen sollen, und die dem Teufel schließlich das Maul stopft, indem sie Randy einen massigen Dildo einführt, sind es schließlich zwei Vertreter für religiöse Broschüren, die von Randys Mutter für waschechte Exorzisten gehalten, und von ihr, wider Willen, mit der Satansaustreibung betraut werden. Wahrscheinlich hört sich der episodenhafte Plot in meiner Zusammenfassung genauso blöde an wie er dann auch tatsächlich ist: Der Hardcore-Sex hält sich in Grenzen des guten Geschmacks – obwohl ich gerade die inflationär eingesetzten und unnötig ausgedehnten Aufnahmen von Männerzungen, die in weiblichen Unterleibsbüschen herumfuhrwerken, nun wirklich alles fand, nur nicht prickelnd-erotisch -, der Horror-Anteil, wenn man das bisschen Geisterbahn-Spuk überhaupt so schimpfen möchte, ist noch verschwindend geringer, und letztlich dominiert eine Art von Humor, wie man ihn sich auch in zeitgenössischen bundesdeutschen, mit den Landesfarben Bayerns verzierten Produktionen abgewöhnen kann. „You should see a psychologist or stud service!“, erklärt der zu Rate gezogene Mediziner Randys Mutter, nachdem er von der Göre bzw. dem Fangapparat zwischen ihren Beinen fast entmannt worden ist, und fasst den spezifischen Witz vorliegenden Films damit genauso gut zusammen wie die vielen Szenen, in denen Randys Möse sich in Schimpftiraden ergeht oder zum Beischlaf einlädt, und unsere Heldin alle Hände voll zu tun hat, ihrem geschwätzigen Kleinod einen (metaphorischen) Maulkorb zu verpassen.

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Dass ich gerade auf Denis Diderots Roman LES BIJOUX INDISCRETS von 1748 angespielt habe, ist kein reiner Selbstweck: Dort entwirft der französische Aufklärer nämlich ein ganz ähnliches Szenario, nur mit dem Unterschied, dass ein magischer Ring es ist, der, sobald er an einem Frauenfinger feststeckt, der zugehörigen Muschel zum Ausplaudern sämtlicher Geheimnisse und Intimitäten bringt, die sie kennt, und das fiktive Sultanat Kongo, wo der Text spielt, alsbald Kopf stehen lässt, weil besagter Ring von einem Finger zum andern wandert. Der größte Unterschied aber: Diderots anonym veröffentlichter Roman ließ sich von späteren Generationen leicht als ironische Allegorie auf die intrigenreichen Verhältnisse am Hofe Ludwigs XIV. lesen, womit der titelgebende Gimmick der fabulierenden Vaginen letztlich zum Mittel für einen gesellschaftskritischen Zweck wird. Keine Spur davon jedoch in ANGEL ABOVE, DEVIL BELOW – einem Film, der sich an eine seltsame Schnittstelle begibt irgendwo zwischen dem Wunsch, seinem Publikum stimulierend einzuheizen, und es zum Lachen zu reizen, und, zumindest in meinem Fall, beides nicht wirklich vollbracht hat, (obwohl ich immerhin noch etwas häufiger schmunzeln musste, als dass sich in meiner Hose irgendwas geregt hätte, zumal die endlos ausgewalzte storyfremde Szene, in der der Handwerker Randys Krankenschwester fesselt und sie abwechselnd oral verwöhnt und Dosenbier trinkt, wohl mit zum Abturnendsten gehört, was mir in letzter Zeit unter die Augen gekommen ist.) Immerhin, einigermaßen kurzweilig sind die achtzig Minuten dennoch gewesen, und möglicherweise wäre die deutsche VHS-Veröffentlichung des Werks – unter dem Titel DAS MÄDCHEN MIT DEM TEUFEL IM UNTERLEIB – noch ein Zugewinn an dümmlichen Dialogen, insgesamt aber fällt das Filmchen doch verglichen mit meinen beiden letzten Ausflüge ins Bahnhofskino THE RITES OF URANUS und THE DEVIL INSIDE HER zu stark ab, als dass ich eine Empfehlung für jemanden aussprechen könnte, der sich nicht gerade mit dem Topos der sprechenden Vulva in Literatur, Kunst und Film beschäftigen sollte. Dann doch lieber Diderot lesen...
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Akher film

Produktionsland: Tunesien 2006

Regie: Nouri Bouzid

Darsteller: Lofti Abdelli, Nouri Bouzid, Afef Ben Mahmoud, Fatima Ben Saidane, Lofti Dziri, Helmi Dridi
Nachdem es die letzte Zeit den Anschein hatte, ich würde mir nur noch Satanismus-Pornos aus den 70ern anschauen, tue ich heute mal wieder etwas für meine Reputation, und bespreche - seriös wie man nur sein kann! - ein tunesisches Arthouse-Drama von 2006...
Kürzlich hatte mich RIH ESSED, der Debut-Spielfilm des tunesischen Regisseurs Nouri Bouzid von 1986, nicht schlecht staunen lassen: Ein Jugend- bzw. coming-of-age-Drama, das sich – wohlgemerkt innerhalb einer islamisch geprägten Gesellschaft! – ehrlich, wenn nicht sogar schonungslos, mit Tabu-Themen wie (unterdrückter) Homosexualität, Kindesmissbrauch, Zwangsehen, Alkoholsucht und vor allem der Zerrissenheit junger Menschen zwischen der traditionellen Lebensweise ihrer Eltern und den zunehmend auf sie einstürmenden Moden, Ideen und Verlockungen des Westens, das war nun, zugegebenermaßen, nicht wirklich das, was ich von einem nordafrikanischen Spielfilm Mitte der 80er erwartet hatte – zumal RIH ESSED, wie in meiner dortigen Kritik bereits erwähnt, viele Fehler, in die der Film unter den Händen eines weniger reflektierten Regisseurs, klug umschifft, und weniger auf die Karte des Melodramas setzt, sondern vielmehr eine neutrale Position einnimmt, von der aus es kein Richtig oder Falsch gibt, und es letztlich dem jeweiligen Zuschauer selbst überlassen bleibt, sich einen Reim auf die Gesellschaftsbestandsaufnahme zu machen. In der Zwischenzeit habe ich mir ein wenig Wissen bezüglich Nouri Bouzid angelesen: Studiert hat der 1945 geborene Tunesier an einer Filmhochschule in Brüssel, wo er 1972 mit dem scheinbar später niemals irgendwo zugänglich gemachten Kurzfilm DUEL seinen Abschluss macht. Zurück in seiner Heimat arbeite er fürs Fernsehen, und schließt sich der, je nach Quelle, linken, wenn nicht sogar linksradikalen „Groupe d’Etude et d’Action Socialiste Tunisian“ an. 1974 wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet, verbringt er die nächsten fünf Jahre hinter Gittern – nicht selten, laut eigener Aussage, konfrontiert mit Folter und Lebensgefahr.

In gewisser Weise reflektiert sein siebter Spielfilm AKHIR FILM von 2006 diesen autobiographischen Radikalisierungsprozess – nur eben aus diametral entgegengesetzter Perspektive: Bahta ist fünfundzwanzig, leidenschaftlicher Breakdancer in der tunesischen Hauptstadt, vertreibt sich die Zeit mit Gelegenheitsjobs, seiner Clique aus Tänzern und Graffiti-Sprayern und Träumen nach dem Westen. Er will nämlich, wie viele andere auch, nach Europa auswandern, so bald wie möglich, ins Land, wo Milch und Honig fließt, nur das Geld fehlt ihm dafür. Erneut sind es zunächst genau die Themenfelder, die bereits RIH ESSED beackert hat – wobei der Unterschied, dass zwischen beiden Filmen zwei Dekaden liegen, gar nicht allzu sehr ins Gewicht fällt. Auch die Generation Bahtas ist einerseits beeinflusst von US-amerikanischer Mode und Musik, andererseits verhaftet in einem patriarchalisch-archaischen Verständnis von Geschlechterrollen und Gesellschaftsstruktur, vor allem aber recht wahllos oszillierend zwischen diesen beiden Polen bzw. Kulturen. Bahtar als James Dean des Maghreb baut dementsprechend am laufenden Band Mist, stibitzt zum Beispiel die Polizeiuniform seines Cousins, um als falscher Beamter durch die Stadt zu streifen, bringt knapp bekleidete Damen mit nach Hause, um sie seinem Großvater vorzustellen, wiegelt die Autoritäten gegen sich auf, weil er immer wieder öffentliche Mauern und Unterführungen mit seinen Graffitis schmückt. Eines Tages kocht das Fass über, und Bahtar muss über die Dächer seiner Heimatstadt vor einem aufgebrachten Mob fliehen, der seine Familie für die von ihm begangenen Eulenspiegeleien zur Rechenschaft ziehen möchte. Am Hafen lernt er zwei Männer kennen, die ihm das Angebot machen, ihm einen Job zu verschaffen, draußen auf dem Land, wo er bleiben könne bis die erhitzten Gemüter seiner Verwandtschaft und Nachbarschaft sich beruhigt hätten. Was Bahtar nicht ahnt: Die beiden Herren sind im Auftrag einer islamistischen Gruppierung unterwegs, um halt- und ziellose junge Männer für den Djihad zu gewinnen. Folgerichtig wird Bahtar bei einem alten Steinmetz einquartiert, dessen Alltag das genaue Gegenteil von dem vergleichsweisen freien, unangepassten Leben ist, das unser Held bislang zu führen gewohnt war: Seine Frau trägt streng den Hidschāb, im Haus darf nicht geflucht, nicht mal an Sex gedacht werden, im Fernsehen laufen Aufrufe zum bewaffneten Kampf gegen die westlichen Invasoren, von denen kurz zuvor Sadam Hussein entmachtet worden ist. Unbedarft wie Bahtar nun mal ist, wird er schnell Feuer und Flamme für die Religion, an die er bisher kaum einen Gedanken verschwendet hat. Er beginnt zu fasten, studierte nächtelang den Koran, fragt seinen Ziehvater schließlich offen heraus, ob es denn nicht möglich sei, dass er sein Leben für den Islam gebe, immerhin würden ihn dann doch die Jungfrauen des Paradieses erwarten, und es sei doch die höchste Gnade, die einem in diesem Leben zuteilwerden könne, wenn man sich selbst für Allah opfere…

Bis hierher liest sich AKHIR FILM, nehme ich an, wie eine recht stringente, hochaktuelle Geschichte, die sich inzwischen zu jedem Zeitpunkt überall auf der Welt ereignen könnte: Ein junger Mann gerät unter den Einfluss von Islamisten, die ihn zum Terroristen ausbilden, und endet instrumentalisiert als menschliche Bombe auf irgendeinem Marktplatz, in irgendeinem Bus, Flugzeug oder Kaufhaus. In seinem gewohnt äußerst realistischen, nahezu schmucklosen Inszenierungsstil schafft es Bouzid, sowohl einen erhellenden Einblicke in den Zustand der tunesischen Gesellschaft an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert zu liefern, der mit Bezügen zur aktuellen politischen Lage nicht geizt – zu nennen wäre hier vor allem die Szene zu Beginn, wenn Bahtar gemeinsam mit Freunden und einer Gruppe älterer Herren im örtlichen Teehaus den Fernsehbildern vom kollektiven Zerstören von Hussein-Standbildern im Irak zuschaut, an die ich mich selbst noch ziemlich gut erinnere, und die darauffolgende Diskussion zwischen den Generationen, wie man auf den Ausgang des Dritten Golfkrieges denn nun reagieren solle -, als auch ein mehrbödiges Portrait des großartig von Lofti Abdelli verkörperten Bahtar zu zeichnen, bei dem es nicht schwerfällt, allein anhand seiner psychischen Verfasstheit den Weg nachzuzeichnen bzw. zu verstehen, der ihn – auch rein optisch! – vom Breakdancer über den gläubigen Muslim bis hin zum opferbereiten (Selbst-)Mörder führt. Schonungslos ist hierbei möglicherweise auch der Begriff, der AKHIR FILM, erneut, am besten umschreibt. Wenn gegen Ende der mental bereits verstörend instabile Bahtar von seinen „Ausbildern“ in einem verlassenen Gebäude eingesperrt und einzig sporadisch mit Nahrung und Wasser versorgt wird, was ihn wohl endgültig zur „Kampfmaschine“ transformieren soll, dann ist das ein ebenso eindrucksvolles Zeichen von der Bouzid eigenen Kompromisslosigkeit wie die – für den arabischen Blick wohl ungemein kontroverse – Szene, in der Bahtar unter der Dusche onaniert oder sein Abschied von der Frau seines Ziehvaters, der beinahe so etwas birgt wie eine zarte, metaphysische Erotik.

Gewissermaßen ist somit auch AKHIR FILM ein klassisches coming-of-age-Drama. Bahtar, für den es zu Beginn keine schlimmere Schmach gibt, als wenn seine Freunde ihm seine Männlichkeit absprechen, entwickelt sich sukzessive vom Lausbuben zum Mann, zugleich aber vom sorglos in den Tag hineinlebenden Tänzer zum Gotteskrieger. Ebenso entwickelt sich – und das ist, wie ich finde, die eigentliche Qualität von AKHIR FILM – aber auch Bouzids eigener Film vor unseren Augen. Wir sind etwa eine Dreiviertelstunde im Film, und Bahtar beginnt gerade, sich in den orthodoxeren Auslegungen des Korans zu verlieren, als es seinem Darsteller, Lofti Abdelli, plötzlich reicht, und er Bouzid mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das doch ein Film über einen Tänzer werden solle, und keiner über einen Terroristen. Auf einmal enthüllt sich das Haus des greisen Steinmetz für uns als Film-Set. Überall sind Kameras, Leuchten, Techniker. Bouzid selbst tritt aus dem Schatten und beginnt, seinen Hauptdarsteller wortreich zum Weiterdrehen zu bewegen. In grobkörnigen, überbelichteten Bildern wird exakt dreimal die vierte Wand auf diese Weise durchbrochen. Immer ist es Lofti, der Worte der Kritik an Bouzid richtet: Dass AKHIR FILM als Beschmutzung des Islams verstanden werden könne, dass AKHIR FILM eine Handlung erzähle, die sich so in Tunesien gar nicht zutragen würde können, dass AKHIR FILM ein Film-Monster sei, das sie beide verschlingen würde. Immer ist es Bouzid der ruhig und gemessen erklärt, dass Lofti ihm vertrauen solle, er wisse, was er tue, und er habe nicht vor, irgendeine Religion zu beschmutzen, er wolle nur sein laizistisches Weltbild vertreten, seinen Glauben, dass Religion und Staat getrennt sein müssten, dass es keinen Freiheitskampf im Namen einer Religion geben dürfe, dass er ihm, noch einmal, vertrauen solle. Durch diese freilich bereits im Titel angedeutete selbstreflexive Ebene wird AKHIR FILM letztlich zu wesentlich mehr als einer einfachen Fabel über religiöse Radikalisierung, den Verlust der Unschuld, die Manipulationen der Macht. Stattdessen verortet Bouzid sein kleines Meisterwerk in einem Bereich zwischen Konstitution und Dekonstruktion: AKHIR FILM ist ein Film, etwa zwei Stunden lang, mit einem klaren Plot, Figuren, Dialogen. AKHIR FILM ist aber auch die Versuchsanordnung eines Films, ein permanentes Grübeln darüber, wie denn ein solcher Film aussehen kann, muss, darf, um von den Falschen nicht richtig und den Richtigen nicht falsch verstanden zu werden. Einziger Wermutstropfen: Dass Bouzid seinen Film in der Fiktion enden lässt, und im Final nicht doch noch einmal als Puppenspieler im Hintergrund selbst in Erscheinung tritt, was das Werk, wie ich finde, noch einmal die eine oder andere Meta-Ebene hätte höherrücken lassen können. Dennoch: So klug, selbstkritisch, bewusst ist vielleicht noch nie in einem Spielfilmkontext von islamischem Terrorismus erzählt worden, und wenn er es mit RIH ESSED noch nicht geschafft haben sollte, dann ist Nouri Bouzid spätestens mit vorliegendem Werk zu dem für mich wichtigsten Exponenten des Maghreb-Kinos geworden.
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