
Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen Sie’s!
„Man kämpft nicht gegen Kolosse. Besser man einigt sich.“Weil er im Verdacht steht, bei einem Autounfall einen Menschen getötet zu haben, kommt der Architekt Vanzi (Franco Nero) in Untersuchungshaft, obwohl er seine Unschuld beteuert. Während draußen die Mühlen der Justiz nur sehr langsam arbeiten, wird er in eine Zelle mit Schwerverbrechern gesteckt, die ihn mit Gewaltandrohungen dazu zwingen, sich mit seinem Geld Privilegien zu erkaufen. Als Vanzi vor Todesangst kaum noch schlafen kann, wendet er sich an Campoloni (Georges Wilson), einen einflussreichen, älteren Häftling, und bittet ihn, in eine andere Zelle verlegt zu werden. Nur wenig später wird ihm dieser Wunsch erfüllt, den er sich aber mit Gegenleistungen noch verdienen muss...
Achtung, enthält zahlreiche Handlungsspoiler!
1971, im gleichen Jahr wie „Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert“, wurde mit „Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen Sie’s!“ ein weiterer Film des italienischen Regisseurs Damiano Damiani veröffentlicht, der sich kritisch mit der Mafia und ihrer Einflussnahme auf staatliche Organe auseinandersetzt.
Der gutbürgerliche Architekt Vanzi (Franco Nero, „Django“, „Ein schwarzer Tag für den Widder“) kommt aufgrund eines Verkehrsunfalls, bei dem ein Mensch starb, in Untersuchungshaft. Während sein Anwalt bemüht ist, Vanzis Unschuld zu beweisen, hat dieser genügend Zeit, die Welt hinter Gitter kennenzulernen: Eine Welt, in der sein Status und Besitz weit weniger wert sind, als er es gewohnt ist. Und eine Welt, in der die Mafia die Strippen zieht und Vanzi schließlich zu einem Mosaiksteinchen eines mörderischen Intrigenpuzzles macht…
Aus Sicht Vanzis, für den Damiani einmal mehr Franco Nero gewinnen konnte, wird der Zuschauer Zeuge, wie ein verhältnismäßig unbedarfter Bürger in die Mühlen der Justiz gerät und sich zunächst einmal mit dem Problem konfrontiert sieht, sich mit soziopathischen Mitgefangenen in einer Gemeinschaftszelle arrangieren zu müssen. Noch ist ihm sein Geld dabei behilflich, sich die eine oder andere Annehmlichkeit auch hinter Gittern bereiten lassen zu können, wovon auch seine Zellengenossen profitieren. Dennoch gerät er mit einzelnen Häftlingen, insbesondere mit dem mehrfach zu lebenslanger Haft verurteilten Totschläger Piro (John Steiner, „Tödliche Schlagzeilen“), auch nonverbal aneinander, der ihm schließlich sogar androht, ihn im Schlaf umzubringen. Um der unwirtlichen Situation zu entkommen, wendet er sich an den einflussreichen Häftling Campoloni (George Wilson, „Don’t Torture a Duckling“), der gewisse Privilegien genießt. Was Vanzi zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt: Campoloni ist ein Abgesandter der Mafia, der hinter Gittern einen Mordkomplott gegen Vanzis neuen Zellengenossen Pesenti (Riccardo Cucciolla, „Sacco und Vanzetti“) ausheckt, dessen Zeugenaussage mächtigen Strukturen im Hintergrund massive Probleme bereiten könnte.
Als Vanzi Pesenti näher kennenlernt und ahnt, was auf ihn zukommt, versucht er, sich dagegen aufzulehnen, gerät aber schnell an die Grenze seiner Möglichkeiten und muss tatenlos mit ansehen, wie Campolonis Plan, dessen Teil er unfreiwilligerweise selbst ist, aufgeht. Dieses zutiefst desillusorische, pessimistische Element, die Ohnmacht gegenüber einer über dem Gesetz stehenden, staatliche Strukturen unterwandernden und für ihre Zwecke instrumentalisierenden Institution, ist Dreh- und Angelpunkt Damianis Films. Franco, hier einmal ohne Bart, wird dabei als symbolisches Ebenbild einer gutsituierten Mittelschicht, die – von Damiani weder idealisiert, noch verteufelt – nach anfänglicher Blauäugigkeit bedingungslos mit der Realität konfrontiert wird und, nachdem sie sich ihre eigene Ohnmacht und Einflusslosigkeit eingestehen musste, den Rückzug in die Konfliktlosigkeit sucht und sich mit den Gegebenheiten aus Angst um die eigene Existenz arrangiert. Der Mikrokosmos hinter den Gefängnismauern wird zum Spiegelbild der Gesellschaft, das stets nachvollziehbar eigene Ängste und Grenzen reflektiert. Vanzi, der als verhältnismäßig neutrale Figur eingeführt wird, wird zur Identifikationsfigur des Zuschauers, der Vanzis Verhalten und Entscheidungen wenn nicht gutheißen, so doch immer verstehen kann – sei es beim Bemühen um erträglichere Haftbedinungen für seine Person, beim gekauften Sex mit einer Dame aus dem Frauengefängnis trotz vorhandener Ehe und Familie oder eben auch beim Kuschen vor einer feindlichen Übermacht. Vanzi ist kein rücksichtsloser Egoist oder Opportunist, aber wenn es darauf ankommt, ist auch er sich selbst der Nächste.
Damianis Epilog ist dann noch einmal von besonderer Qualität: Man sieht Vanzi mit seiner Familie – nach außen hin Glückseligkeit ausstrahlend, die Erlebnisse aus dem Gefängnis jedoch selbstverständlich belastend auf der Seele mit sich herumtragend – wie er mit Pesentis Tochter konfrontiert wird – und ihr zum Selbstschutz eiskalt ins Gesicht lügt. Ein fieser Magenschwinger insbesondere für jeden im Publikum, der empathisch genug ist, um sich in Vanzi selbst wiederzuerkennen, und ein konsequentes Anti-„Happy End“ als Schlusspunkt eines Films, in dem kein Platz ist für Realitätsflucht, Helden und Gerechtigkeit und damit zu einem schwer verdaulichen Brocken wird. Damianis realistischer Stil bleibt dieser Ausrichtung stets verpflichtet; es wird draufgehalten, wenn es weh tut, für künstlerische Ausschweifungen bleibt keine Zeit. Franco Nero überzeugt als wehr- und machtloser Typ ebenso wie in seinen weitaus charakteristischeren Rollen und beweist einmal mehr sein Multitalent für die Interpretation verschiedenster Rollen. Bei aller Durchschlagkraft behielt Damiani den Blick für Details und staffierte seinen Film allem voran mit zahlreichen skurrilen Nebenrollen aus, die nicht nur allesamt schauspielerisch einwandfrei umgesetzt werden, sondern das Bild eines bis unter die Decke mit Unberechenbarkeit gefüllten, engen Knasts unterstützen, ohne jemals ins Absurde abzudriften. Es ist der alltägliche Wahnsinn im Kleinen wie im Großen, fremdgesteuert und -bestimmt von der Macht des Politik und Staat untergrabenden Kapitals, für das ein Menschenleben nichts zählt, das Courage mit dem Tod bestraft und sich von der Angst derjenigen Menschen nährt, die noch etwas zu verlieren haben.
Ein äußerst unangenehmer und deshalb so wertvoller Film.