
Bettkantengeschichten
German Grusel
Da gibt es diesen Dokumentarfilm „German Grusel“ von Oliver Schwehm über die Edgar-Wallace-Verfilmungen. Im Ausland jedoch gelten auch ganz andere deutsche Film- und Fernsehproduktionen als gruselig. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Metal-Musiker in einer Musikzeitschrift, in dem der Interviewte zu Protokoll gab, die Krimiserie „Derrick“ als besonders gruselig empfunden zu haben. Tapperts Tränensäcke inmitten bundesdeutscher Tristesse – wer will es dem Musikus verdenken?
Ich hingegen musste an etwas ganz anderes denken, nämlich an die Serie „Bettkantengeschichten“, deren rund halbstündige Episoden von 1983 bis 1990 im Kinderprogramm des ZDF liefen. Meine Erinnerungen an jene auf pädagogischen Wert getrimmte Serie lassen mich erschaudern, vereinen sich in ihr doch trostlose Schwarzweißbilder, ein von Entbehrungen geprägtes Nachkriegsdeutschland und verwunschene Mystik. Letztere vernehme ich bereits beim Vorspann, in dem eine mittelalterlich instrumentierte, irgendwie melancholisch-düstere Melodie zu Bildern sich in einem endlos scheinenden Schlafsaal räkelnder Kinder erklingt, die von allerlei grotesken Gestalten in irren Kostümen offenbar Geschichten – vermutlich von Tod und Teufel! – erzählt bekommen. Ein zuvor in der beklemmenden Dunkelheit des Massenschlafsaals kaum zu erkennender Junge erhebt sich am Schluss, wirkt ganz schlaftrunken und spricht nichts außer den geheimnisumwitterten Namen der Serie in die Kamera: „Bettkantengeschichten“ – ein Titel, der zeitgleich inklusive eines Deppenleerzeichens eingeblendet wird: „Bettkanten Geschichten“.
Das Konzept der Serie sieht vor, dass ein kleines Kind am Ende seines Tages irgendein Problem hat, woraufhin sich ein Elternteil oder eine andere erwachsene Bezugsperson zum Kind ans Bett setzt und ihm eine lehrreiche Anekdote aus der eigenen Kindheit erzählt, die zumeist Parallelen zum vom Kind Erlebten aufweist. Diese Geschichten werden in ausgedehnten Rückblenden visualisiert, die das in der Gegenwart Spielende zur Rahmenhandlung degradieren. Die Geschichten sind in sich abgeschlossen und die Figuren wie auch die Regisseurinnen und Regisseure sowie Autorinnen und Autoren – jeweils um die 20 an der Zahl – changieren von Episode zu Episode, an deren Ende jeweils ein Happy End steht – und hoffentlich kein traumatisiertes Kind vor dem Fernseher.
„Ich krich ‘ne Gänsehaut...“
Episode 1: Brotmarken
Es geht direkt ans Eingemachte: Die kleine Petra wurde von ihrer Mutter geschlagen und liegt nun trotzig im Bett, wo es zur Aussprache kommt. Die Ohrfeige wird in einer Rückblende in Zeitlupe ausgekostet. Petras Mutter erklärt sich, woraufhin eine Schwarzweißrückblende in die frühe Nachkriegszeit installiert wird, in der die Mutter als Off-Erzählerin fungiert und ihr junges Alter Ego von Alexandra Burgholz gespielt wird. Sie erzählt von Entbehrung, Zerstörung und Tod, angereichert mit vielen Originalarchivaufnahmen und sogar abgefilmten Fotos. Die Mutter der Mutter Petras, als Petras Großmutter, hatte Petras Mutter ein rotes Kleid aus einer Hakenkreuzfahne genäht. Sie soll Brot holen, hat aber ihre Lebensmittelmarken verloren und sucht diese verzweifelt. Zusammen mit ihrer Freundin Sabine (Julia Grupp, „Smaragd“) will sie wenigstens Suppe mitbringen, muss aber erst einmal einen Topf ohne Löcher finden. Die Suppe bekommt man angeblich ohne Marken. Tatsächlich kann man sie mit nach Hause bringen, Muttis Mutti ist aber trotzdem alles andere als begeistert.
Die Spielszenen sind gut ins Archivmaterial eingefügt, zwischendurch geht’s immer mal wieder kurz zurück zur farbigen Rahmenhandlung. Sabine sieht aus wie die junge Anke Engelke, ansonsten ist hier aber alles betont traurig und trist. Es gibt auch keinerlei musikalische Untermalung. Man buhlt um Verständnis dafür, dass einer kriegstraumatisierten Generation auch mal die Hand ausrutscht, und schließt mit einem melancholischen Bild der als Kind im Kornfeld sitzenden Mutter. Vorher erfährt Petra noch: „Satt waren wir eigentlich nie. Die nächsten Tage haben wir noch mehr gehungert.“ Gruselig? Definitiv!
Wird fortgesetzt…