bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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buxtebrawler
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Frühstück bei Tiffany

„Moon river, wider than a mile…“

Hollywood-Komödienregisseur Blake Edwards („Unternehmen Petticoat“) adaptierte für seine 1961 veröffentlichte Liebeskomödie „Breakfast at Tiffany’s“ den gleichnamigen Roman Truman Capotes, womit ihm ein umjubelter, ikonischer Klassiker und bis heute verehrtes Stück Filmgeschichte gelang.

Holly Golightly (Audrey Hepburn, „Ein süßer Fratz“) gibt nach außen hin gern die mondäne Lebedame, bestreitet ihren Lebensunterhalt jedoch als Hostess, die sich an reiche Männer heranschmeißt, sich von ihnen aushalten lässt und die Flucht antritt, wenn es ihr zu ernst wird. In entsprechend vermögenden Kreisen verkehrt sie und schreckt auch nicht davor zurück, sich für Gefängnisbesuche eines Mafioso bezahlen zu lassen. Sie bewohnt ein New Yorker Appartement in einem Wohnblock, in den ein neuer Nachbar einzieht: Der unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Paul Varjak (George Peppard, „Die Kellerratten“), dessen „Dekorateurin“ ihm die Unterkunft bezahlt. Holly und Paul lernen sich kennen, unternehmen gemeinsam verrückte Dinge und freunden sich an. Doch Paul will mehr: Er verliebt sich in die lebenslustige Holly, die jedoch viel wert auf ihren Lebensentwurf als ungebundenes Partygirl legt und viel lieber einen reichen Mann heiraten möchte – am besten den brasilianischen Millionär José da Silva Pereira (José Luis de Villalonga, „Die Liebenden“), mit dem sie bereits verlobt ist. Dass plötzlich Hollys Ex-Mann Doc Golightly (Buddy Ebsen, „Feuertaufe“) auftaucht und ihr geliebter Bruder Fred stirbt, vereinfacht die Situation nicht gerade. Doch Paul gibt sich nicht geschlagen und kämpft um Hollys Liebe…

Audrey Hepburns Rolle als Femme fatale auf der Flucht vor sich selbst und dem Milieu, aus dem sie ursprünglich stammt, ist in „Frühstück bei Tiffany“ besonders hinreißend und bezaubernd. Als Holly Golightly mit dem unsteten Lebenswandel und der namenlosen Katze, vom Luxusleben träumend und eine beinahe undurchdringliche Fassade aus stilvollen Oberflächlichkeiten vor sich hertragend, verkörpert sie so etwas wie den Archetyp der um sozialen Aufstieg bemühten jungen Frau, die die Spielregeln erkannt hat und sich bis zu einer gewissen Grenze selbst verkauft, um ihr Stück vom Kuchen abzukommen. Ehrliche Liebe und eine Beziehung zu einem „einfachen“ Partner auf Augenhöhe ist da natürlich nicht vorgesehen und würfelt alles durcheinander.

Nicht wenige dürften bereits die Erfahrung gemacht haben, dass zwei sich eigentlich Liebende nicht zueinander finden, weil „Sachgründe“ oder als unlösbar erachtete persönliche Probleme dagegensprechen – oder schlicht einer von beiden es nicht schafft, über seinen eigenen Schatten zu springen. Meist endet so etwas tragisch, so auch in Capotes Romanvorlage. Edwards‘ bzw. Drehbuchautor George Axelrods Adaption jedoch machten aus der Prostituierten einen unverfänglicheren Begleitservice und ergänzten die Handlung um ein Happy End, das verhindert, dass aus dem Film eine Tragikomödie wird – und natürlich für großes Schmachten im Kinosaal sorgte.

So wurde aus dem Stoff ein Abgesang auf die oberen Zehntausend, die glauben, sich alles kaufen zu können, auch die Zuneigung einer Frau wie Holly Golightly. Edwards inszenierte seinen Film zwar etwas arg langsam, kann jedoch von der Abwechslung von fröhlichen, lustigen Szenen und melancholischen Momenten profitieren. Letztere werden verstärkt von Henry Mancinis Komposition „Moon River“, die einen Oscar gewann und auch unabhängig vom Film ein weltbekannter Jahrhundertsong wurde. Für etwas Ärger sorgte Mickey Rooneys („Manuel“) Nebenrolle als chinesischer Nachbar Mr. Yunioshi mit Überbiss, dem Holly schwer auf die Nerven geht und der sich daher ständig über sie beschwert. Rooneys Rolle entspricht einer extrem klischeehaften Darstellung ostasiatischstämmiger US-Amerikaner und wurde teilweise als negativ konnotiert aufgefasst, sollte aber lediglich witzig gemeint sein. Da die Rolle offenbar tatsächlich nie feindlich oder gar rassistisch gemeint war, lässt sich darüber hinwegsehen.

So ist „Frühstück bei Tiffany“ zwar ein über weite Strecken nicht sonderlich aufregender Film, der aber auf schöne Weise ein bestimmtes Lebensgefühl einfängt und Audrey Hepburn ein Denkmal setzte – bestens geeignet, entschleunigt und ins Bett gekuschelt oder an den/die Partner(in) geschmiegt genossen zu werden.
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Spring Breakers

„Spring Break forever, ihr Fotzen.“

„Kids“-Drehbuchautor und US-Indie-Kino-Ikone Harmony Korine („Trash Humpers“) entließ 2012 mit „Spring Breakers“ einen auf Skandalfilm gebürsteten Arthouse-, Pulp/Exploitation- und Coming-of-Age-Satire-Hybrid auf den durch PR-Kampagnen in seiner Erwartungshaltung aufs Glatteis geführten Kinomarkt. So stilistisch und inhaltlich interessant er ist, so häufig dürfte er missverstanden worden sein.

„Ich hab’s so dermaßen satt, jeden Tag die gleiche Scheiße sehen zu müssen. Hier sind alle so mies drauf, weil sie immer das Gleiche sehen. Sie wachen jeden Tag im gleichen Bett auf in den gleichen beschissenen Häusern.“

Brit (Ashley Benson, „Girls United: Alles auf Sieg“), Candy (Vanessa Hudgens, „High School Musical“), Cotty (Rachel Korine, „Septien“) und Faith (Selena Gomez, „Die Zauberer vom Waverly Place“) haben ihren langweiligen Alltag irgendwo im US-Nirgendwo satt und würden nur zu gerne an den diesjährigen „Spring Break“-Feierlichkeiten, jenen paar Tagen Semesterferien, an denen zahlreiche US-Teenies sich hemmungslosen Exzessen hingeben, partizipieren. Leider fehlt ihnen dafür das nötige Kleingeld, weshalb Brit, Candy und Cotty einen Bullettenbräter überfallen und sich zusammen mit der Beute und der mit diesen kriminellen Machenschaften nicht ganz einverstandenen, frommen Faith nach Florida absetzen. Doch auf Suff, Drogen und Sex folgt die Ernüchterung in Form der Polizei, die das attraktive Bikini-Quartett kurzerhand einbuchtet. Unverhoffte Hilfe wird ihnen jedoch von Rapper und White-Trash-Gangster Alien (James Franco, „Good Time Max“) zuteil, der die Kaution stellt und sich der jungen Frauen annimmt. Der sein Geld vornehmlich mit Drogenhandel verdienende Alien gewinnt nach und nach das Vertrauen zumindest Brits, Candys und Cottys, während Faith irgendwann alles zu viel wird und sie sich zurück nach Hause begibt. Konfliktpotential birgt jedoch der Disput zwischen Alien und seinem ehemaligen Kumpel Big Arch (Gucci Mane, „Beef 4“), der zum erbitterten Konkurrenten im Drogengeschäft wurde…

„Ich will nicht so enden wie die. Ich will hier einfach nur noch weg!“

„Spring Breakers“ verfügt über eine beeindruckende, durchstilisierte Ästhetik: Im Musikvideo-Stil reihen sich überdurchschnittlich viele Schnitte aneinander, wird mit Verfremdungen, Zeitlupen und Effekten gearbeitet und alles in unnatürliche Neonfarben getaucht. Achronologische Szenen, die späteren Entwicklungen vorgreifen, werden immer wieder eingestreut. Pseudodokumentarisch anmutende Partyszenen mit viel nackter Haut gehen über in ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums, das eigentlich davon ausgehen darf, dass ein böser Wolf (bzw. Alien) früher oder später vier Naivchen das Leben zur Hölle machen wird, zumal neben Sex und Körperkult vor allem mit Drogen und Waffen hantiert wird. Tatsächlich kommt es zu unangenehmen übergriffigen Szenen, jedoch bricht Korine mit üblichen weiblichen Opferklischees und damit mit den Zuschauer(innen)prognosen: Die skrupelbehaftete Faith wird zwar bedrängt, aber nicht vergewaltigt und kann unbehelligt die Szenerie verlassen, bricht ins traute Heim auf. Die übrigen drei Mädels sind keine Opfer, sondern Täterinnen, die nur zu gern gemeinsame Sache mit Alien machen, der sich bisweilen sogar von ihnen dominieren lässt. Outlaws mit dicken Wummen in Bermudas und Bikinis.

Nichtsdestotrotz bleibt das präsentierte Frauenbild in vielerlei Hinsicht unrealistisch, was Teil des Inszenierungskonzepts ist: In „Spring Breakers“ ist schlichtweg nichts authentisch oder realistisch, alles ist überzeichnet. Von den pseudodokumentarischen Bildern zu Beginn bis hin zum dann gar mehr in Videospiel- denn in Musikclip-Ästhetik gefilmten Finale handelt es sich ausschließlich um eine Selbstinszenierung sämtlicher Figuren, die Rollenbilder aus der Popkultur, aus Film, TV, Musik und Game, mehr oder weniger unbewusst nachspielen. Popkultur und Konsumfetisch sind die Realität dieser Figuren, von der für Reporter-Teams vermeintlich entfesselt johlenden, mit Titten und Ärschen wackelnden Feiermeute am Strand über Scarface-/Hip-Hopper-Bastard Alien bis hin zu den das Spektrum von Britney Spears bis zu Gangsta-Bitches und Ego-Shootern abdeckenden Mädels. Entsprechende Popkultur-Artefakte werden beständig zitiert, mal unauffällig im Hintergrund, mal demonstrativ – einer der Höhepunkte des Films ist eine bizarre Performance des Britney-Spears-Hits „Everytime“. Zwar wird aus dem Off regelmäßig aus Nachrichten zitiert, die die Protagonistinnen nach Hause absetzen, wirklich persönliche Dialoge finden jedoch keine statt. Man lernt die Figuren kaum kennen, als befänden sie sich in einer Art Vakuum. Was während der Erstsichtung des Films wie ein Schwachpunkt wirken mag, erschließt sich letztlich als dieser Popkultur-Karikatur immanent und als bewusstes Stilmittel gewählt. Zum artifiziellen Charakter des Films passt seine musikalische Untermalung mit seelenloser synthetischer Musik wie Dubstep und Ähnlichem.

Seine Protagonistinnen und ihre Taten zeigt „Spring Breakers“ durch und durch fetischiert, insbesondere das Finale. Erotik- und Softsex-Szenen hat man zuvor bereits wesentlich expliziter gesehen, hier sei auf die Sexploitation-Welle verwiesen, Schießereien und Gewaltexzesse wurden auch schon wesentlich blutiger und exploitativer auf die Leinwand gebracht. Doch daran ist, wie oben beschrieben, Korine gar nicht gelegen. Es geht weder darum, „Natural Born Killers“ zu übertrumpfen, noch den Sleaze-Thron zu besteigen. Vielmehr kann „Spring Breakers“ als bissiger Kommentar zum American Way of Life gelesen werden: Freiheit und Spaß bzw. das, was man in einer auf permanenten Konsum ausgerichteten Gesellschaft dafür hält, werden mit Gewalt erzwungen. Moralische Konsequenzen sind nicht zu befürchten.

Aktricen der Disney’schen sterilen Familienunterhaltung wie Ashley Benson und Selena Gomez für einen Film wie diesen zu verpflichten, ist natürlich ein geschickter Schachzug, der nicht nur für mediales Interesse und Neugier sorgt, sondern auch insofern passt, als sie auch in erster Linie als Role Models aufgebaut und wahrgenommen wurden, nur eben gemeinhin positiv konnotierte. Für „Spring Breakers“ wurden ihre Rollenbilder gewissermaßen invertiert. Unter Korines Regie beweist das gesamte Ensemble Wandlungsfähigkeit und Mut, was manch Freund der heilen „High School Musical“-Welt sauer aufgestoßen haben dürfte. Nichtsdestotrotz erzeugte „Spring Breakers“ nicht viel mehr als ein Skandälchen, das recht bald verpuffte. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Skandalwirkung recht deutlich intendiert erschien, beinahe erzwungen, und dass das Publikum schnell Gefahr läuft, an der Oberfläche des Films gerade auch aufgrund seiner Schauwerte abzuprallen und ihn lediglich wie ein x-beliebiges Mainstream-R’n’B-Musikvideo als Unterhaltungs-Fast-Food wahrzunehmen. Das ist schade, denn ich hätte mir gewünscht, dass über diesen Film mehr geredet würde. Erschließen sich Subtext und Meta-Ebene nicht, funktioniert er aber nur bedingt, wie ich im Zuge meiner Erstsichtung selbst erfahren musste. Daher ist „Spring Breakers“ ein Film, dem man auch nach anfänglicher Enttäuschung unbedingt eine zweite Chance einräumen sollte.

Eine zweite Chance bekam auch der deutsche Verleih „Wild Bunch Germany“, um die Kinofreigabe ab 16 Jahren durchzudrücken: Er montierte eine Texttafel vor den Abspann, der moralinsauer beschreibt, was aus zwei der Täterinnen wurde, und stellt damit Pointe und Aussage auf den Kopf...
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Tatort: Borowski und das dunkle Netz

„Wir sind ja nicht die NSA!“

Fall 29 für Borowski (Axel Milberg), Fall zwölf für Brandt (Sibel Kekilli): Regisseur und Co-Autor David Wnendt („Er ist wieder da“) schickt in Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Thomas Wendrich das Kieler Ermittlungsduo in die Untiefen des Darknets und erklärt dem Publikum, was das eigentlich ist und wie die Polizei es zu bekämpfen versucht. Wnendts erste TV-Arbeit wurde am 19. März 2017 erstausgestrahlt.

In einem Kieler Fitnessstudio werden Jürgen Sternow (Pjotr Olev, „Krüger aus Almanya“), Leiter der Cybercrime-Abteilung des LKA, und der Betreiber des Studios von einem maskierten Killer (Maximilian Brauer, „Wir waren Könige“) ermordet. LKA-Leiter Wolfgang Eisenberg (Michael Rastl, „Kleine Fische“) und Staatsanwalt Tom Austerlitz (Jochen Hägele, „Virtual Revolution“) betrauen die Kieler Hauptkommissare Borowski und Brandt mit dem Fall. Die Spur führt ins Darknet, mit dem sich die jungen Ermittler Cao (Yung Ngo, „Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel“) und Dennis (Mirco Kreibich, „Das Romeo-Prinzip“) auskennen, die Teil des Überwachungssystems „Schakal“ für digitale Medien sind. Dort wurde ein Auftragsmörder angeheuert, dessen Auftraggeber nun Beweise sehen will. Der Mörder ist in einem Hostel untergetaucht, in dem die Rezeptionistin Rosi (Svenja Hermuth, „Sex & Crime“) sexuelles Interesse an ihm hegt. Je näher die Polizei dem Täter kommt, desto nervöser wird dieser und begeht Fehler – doch wer war der Auftraggeber und was war sein Motiv?

Die dem Fall zugrunde liegenden brutalen Morde werden in Ego-Shooter-Videospiel-Ästhetik aus der Point-of-View-Perspektive visualisiert und bilden damit einen fulminanten Auftakt, zumal sich eines der Opfer als äußerst wehrhaft erweist. Sie sollen nicht die einzigen stilistischen Besonderheiten dieses „Tatorts“ bleiben: Das „Schakal“-System wird in einem Zeichentrick-Werbespot erläutert, Deep- und Darknet mittels digitaler Animation erklärt – durchaus so, dass ein durchschnittliches „Tatort“-Publikum es versteht. Auch das Bitcoin-Kryptowährungsprinzip versucht man den Zuschauerinnen und Zuschauern näherzubringen und gewährt Einblicke in die digitale polizeiliche Ermittlungsarbeit, macht (zweifelhafte) Werbung für Cyber-Schnüffeleien, erwähnt aber auch die positiven Aspekte des Darknets – staatlicher Bildungsauftrag erfüllt.

Dieser wird durchaus komödiantisch transportiert, allein schon durch die arg klischeehafte Zeichnung der IT-Nerds, von denen einer leicht stottert, der andere ein T-Shirt mit „πMP“-Aufdruck trägt und die per Buzzer automatisiert Pizza bestellen. Das Whydunit? gerät da lange Zeit ins Hintertreffen, wird aber in der zweiten Hälfte verstärkt aufgegriffen. Wie so oft spielt eine Kinderzeichnung eine Rolle, die sich jedoch erst gegen Ende erschließt. Bis es soweit ist, säbelt sich der Täter versehentlich einen kleinen Finger ab, wird von Rosi umsorgt, die sich oben ohne zeigt und sterben muss, weil sie von vergifteten Pralinen nascht, und wird’s ziemlich unappetitlich, wenn die Ermittlungen einen mumifizierten Leichnam zutage fördern, während die Nerds über Mitarbeitermangel und Überarbeitung klagen. Eine Verfolgungsjagd durch Kiel will einem weismachen, man könne mir nichts, dir nichts während einer laufenden Handballpartie ins oder vielmehr durchs Stadion rennen. Und weshalb sich in der Umkleide nackte Spielerinnen tummeln, während ein Spiel der Herren läuft, wissen wohl auch nur die „Tatort“-Macher allein.

Bei seiner Vernehmung spricht der Täter in Rätseln, verletzt sich selbst und ist nach zwei Dritteln des Falls tot. Die Polizei will dem Auftraggeber eine Falle stellen, ein Vertreter des Mordopfers kommt ins Spiel und wer dem Fall nicht mehr so ganz folgen kann, ist damit sicherlich nicht allein. Nachdem zum Finale mit Rückblenden gearbeitet wurde und sich Brandt in die Höhle des Löwen und damit in akute Lebensgefahr begeben hat, endet der „Tatort“ jedoch ultrabrutal und beantwortet die meisten Fragen. Rosis Geschichte hingegen wird nicht zu Ende erzählt, ihre Rolle bleibt trotz ihres üppigen Körperbaus flach.

Wnendts Mischung aus Action, Spannung, Härte und Humor ist gewagt und geht nicht immer ganz auf, den eigentlichen Fall droht man mitunter aus den Augen zu verlieren und die eine oder andere Unstimmigkeit stört. Auch mit den Klischees wird’s übertrieben, vor allem, wenn das Darknet-Portal mit verzerrter Stimme zum Anwender spricht – dezent geht anders. Apropos: Borowski bekommt einen Sprachassistenten, den Filmkenner als eine Art Nachkommen des HAL 9000 aus „2001 – Odyssee im Weltraum“ erkennen werden – ein gelungener, durchaus etwas hintergründiger Gag und Hommage zugleich. Auch die musikalische Untermalung, u.a. mit einer einnehmenden wiederkehrenden Klaviermelodie, überzeugt. Fazit: Mordfall in der knallharten Realität, Ermittlungen im Cyberspace – kann man so machen, wenn es in dieser Melange aus Bildungs-TV und stilistisch abwechslungsreichem Krimi auch vielleicht etwas zu viel auf einmal ist. Da ist noch Luft nach oben, so unterhaltsam „Borowski und das dunkle Netz“ auch sein mag.
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Depeche Mode: 101

„Everything counts in large amounts…“

Es ist müßig, die Band DEPECHE MODE (oder wie ich sie im Vorschulalter nannte: Dieper Schmod) vorzustellen. Den britischen Synthie-Pop/Wave-Pionieren ist das Kunststück gelungen, sowohl mega-erfolgreich als auch eine Kultband zu sein, indem sie sich nicht am ‘80er-Mainstream orientierte, sondern ihn mit ihrem Auftreten zwischen Modernismus und Postmoderne veränderte und prägte.

Als man in der zweiten Hälfte der 1980er einen Band-Film andachte, heuerte man nach verschiedenen konzeptionellen Überlegungen den erfahrenen US-amerikanischen Dokumentarfilmer D.A. Pennebaker an, der bereits mit Bob Dylan, Alice Cooper und David Bowie zusammengearbeitet hatte. Dieser warf anscheinend sämtliche Ideen über Bord und setzte seine eigenen Vorstellungen eines entschlackten, unterhaltsamen, kinotauglichen Films durch. Das zusammen mit den Regisseuren Chris Hegedus und David Dawkins Ergebnis „101“ konzentriert sich auf die größte Stärke DEPECHE MODEs: ihre Musik. So begleitet das Filmteam die Band auf dem finalen USA-Abschnitt ihrer 101 Konzerte umfassenden Welttournee zum sechsten Studioalbum „Music for the Masses“, die ihren Abschluss und Höhepunkt am 18. Juni 1988 im Rose Bowl Stadium in Pasadena, Kalifornien, findet, wo MODE vor 60- bis 70.000 Fans spielen und ihnen der endgültige Durchbruch auch in den USA gelingt.

Außerdem wählte man aus einer Vielzahl Interessentinnen und Interessenten eine Gruppe Jugendlicher aus, die „Bus Kids“, die der Band von Konzert zu Konzert in einem eigens gecharterten Bus hinterherfahren und ihr gelegentlich auch persönlich begegnen. Das fertig geschnittene Resultat ist eine zweistündige unkommentierte Collage aus hochqualitativen, faszinierenden Live-Aufnahmen verschiedener Orte, Backstage-Momentaufnahmen, ein paar kurzen Interviews und einer Art beiläufigem Porträt des Selbstverständnisses sowie der Lebenseinstellung und des Lebensgefühls von DEPECHE-MODE-Fans anhand der „Bus Kids“, wobei man eher exaltierte, expressionistische Exemplare auswählte. Diese repräsentieren bevorzugt einen tief in den ‘80ern verwurzelten, subkulturellen Mode-Chic, dem noch deutlich die Verwandtschaft zum Punk anzusehen ist, den sie jedoch hinter sich lassen und sich moderneren Klängen hingeben wollen. Diese Menschen sind lebenslustig, nicht unsympathisch und sehen (verglichen mit manch ‘80er-Modeverirrungen) so klasse aus, dass sie in entsprechenden Kreisen auch heute im Prinzip genauso auftreten könnten, ohne wie Relikte einer vergangenen Zeit zu wirken.

Ihre tatsächlichen Berührungspunkte mit der Band sind indes rar gesät. Man reist getrennt und nächtigt getrennt, zu einer Verschmelzung von Band und Fans kommt es nicht. Dennoch hätten sicherlich nicht wenige ihren linken Arm dafür gegeben, dabei sein zu dürfen – nicht nur wegen all des Spaßes, den man offenbar hatte. Nichtsdestotrotz sollte man nicht dem Irrtum erliegen, die „Bus Kids“ als stellvertretend für typische DEPECHE-MODE-Fans zu erachten – es ist davon auszugehen, dass ihre Kameratauglichkeit eine entscheidende bei ihrer Wahl gespielt hat. Und falls Pennebaker im Sinn hatte, anhand dieses Konzepts eine besondere Fan-Nähe der Band zu suggerieren, ist dies nicht gelungen.

In der Live-Situation wirken die DEPECHE-MODE-Songs kühl-distanziert und organisch zugleich, stärker als die Studioaufnahmen. Sowohl Dave Gahans Performances als Frontmann und Leadsänger als auch die der Musiker, die verdeutlichen, welche Klänge elektronisch erzeugt werden und welche eben nicht, wurden perfekt eingefangen und vermitteln ein viel intensiveres Gefühl für die Musik der Band als es die immer gleichen durchs Radio gejagten Single-Hits tun. Alan Wilder gewährt dann auch ein paar technische Einblicke in seine Synthesizer-Keyboards, wobei es der Film aber belässt. Den größten zusammenhängenden Abschnitt bilden die Aufnahmen des Rose-Bowl-Freiluftkonzerts, das zu einem überwältigenden Ereignis für Band und Fans geriert und unmissverständlich die eingangs aufgeworfene Frage klärte, ob man jene Arena überhaupt vollbekommen würde. Selten hat man einen Dave Gahan so glücklich gesehen, die Bilder spiegeln die Magie der Musik perfekt wider. Parallel zu – passenderweise – „Everything Counts“ wird im Hintergrund das Geld gezählt und der Erfolg auch aus ökonomischer Sicht seitens des Managements gefeiert.

Meines Erachtens befand sich die Band damals auf ihrem Zenit (ohne den weiteren Verlauf ihrer Karriere schmälern zu wollen). Das parallel veröffentlichte Live-Doppelalbum „101“ ist aufgrund seines Best-of-Charakters und seiner unvergleichlichen Live-Atmosphäre mein persönlicher Favorit innerhalb der DEPECHE-MODE-Diskografie. Sicherlich kann man monieren, dass dieser Film lediglich an der Oberfläche kratzt, zu wenige Fragen stellt bzw. beantwortet, nie wirklich intim wird und die Band weder kulturell einordnet noch musikhistorisch aufarbeitet. Dagegenhalten könnte man, dass DEPECHE MODE und die Bilder dieses Films für sich selbst sprechen. In jedem Falle macht es irre Spaß, sich dieses wichtige Stück konservierter ‘80er Populärkultur anzusehen – und dazu geeignet, dieser Musik bisher indifferent gegenüberstehende Menschen anzufixen, ist es zweifelsohne. Wiederentdeckenswert!

P.S.: Leider hatte man es damals versäumt, das Rose-Bowl-Konzert vollständig mitzuschneiden. O.g. Doppelalbum allerdings setzt sich angeblich komplett aus den Rose-Bowl-Aufnahmen zusammen. Im Film allerdings werden diese mitunter anderen Konzerten zugeordnet. Hatte man also zumindest den Audioteil in der Rose-Bowl-Arena komplett aufgezeichnet und den Auftritt lediglich nicht vollständig mitgefilmt? Und hat man dann also die Bilder anderer Konzerte mit dem Ton aus der Rose-Bowl-Arena unterlegt? Das ist mir noch nicht klar. Für sachdienliche Hinweise bin ich dankbar.
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Libero

„Auf mich wirkt er... müde.“

Bereits mit seinem Regiedebüt gelang Wigbert Wicker („Der Bulle von Tölz“) 1973 der ganz große Wurf: Kaiser Franz Beckenbauer, damals Kapitän und Libero des Rekordmeisters FC Bayern München, gewährte dem ambitionierten, aufstrebenden Filmemacher eine Privataudienz, um ihre Hoheit nicht nur angemessen in all ihrer Bescheidenheit zu porträtieren, sondern darüber hinaus den Finger in die Wunden des Leistungssports zu legen und mahnend auf Missstände und Gefahren hinzuweisen, denen sich nicht nur Lichtgestalten wie Kaiser Franz ausgesetzt sahen:

Nudelsuppenfabrikant Saller (Walter Born, „Fettaugen“) will Beckenbauer als Werbeträger verpflichten und schreckt dafür auch vor unlauteren Methoden nicht zurück. Als sich ein Mannschaftskamerad schwer verletzt, ist Franz der einzige, der ihn regelmäßig im Krankenhaus besucht und ein offenes Ohr für ihn hat. Doch der Leistungsdruck des Profifußballs stimmt Beckenbauer nachdenklich. Was, wenn auch ihn einmal eine Verletzung ereilt? Für wen reibt er sich eigentlich so auf? Fürs undankbare Fußvolk, das ihn sogar an seinem Anwesen nachstellt und seinen Rauswurf aus dem FC Bayern fordert? Frustriert schmeißt er hin und will gegen keinen Ball mehr treten. Stattdessen verbringt er nun viel Zeit mit seinem Schauspielkumpel Harald Leipnitz („Großstadtprärie“), der ihm mit den Sorgen und Nöten eines Theaterschauspielers in den Ohren liegt. Wird Kaiser Franz davor auf den Rasen fliehen und wieder seinen Thron besteigen? Wird es Nachwuchstalent Thomas (Volker Schrader) sein, der von zu Hause ausreißt, um den Blaublütigen aufzusuchen, der ihn umzustimmen vermag? Fragen über Fragen, doch die DVD ist rund und der Film dauert 80 Minuten…

„Ein halber Beckenbauer ist mir immer noch lieber als drei andere Spieler!“ (Und fast ein Viertel Schauspieler!)

Fußball ist Krieg, das weiß jeder – heutzutage zumindest. 1973 war das anders; da bedurfte es Wickers, um dies eindrucksvoll mittels eines mit dokumentarischem Material gespickten Spielfilms zu veranschaulichen: Ruhe vor dem Sturm, Anspannung liegt in der Luft. Dann endlich: Das Spiel beginnt! Der Fokus liegt, ganz wie im echten Leben, auf Beckenbauer, ohne den seine Mannschaft ein klägliches Nichts wäre. Doch statt ihn in Ruhe seiner Passion nachgehen zu lassen – dem eleganten Rasensport, wie ihn Wicker später noch in minutenlangen Zeitlupenszenen illustriert und mit Musik unterlegt, die aus des Kaisers Spiel fast eine Art Rasenballett machen –, wird er vom Nudelsuppenkönig Saller und dessen ergebenem Vasall, dem zwielichtigen Jo (Klaus Löwitsch, „Mädchen: Mit Gewalt“), belästigt und genötigt, die ihn zur Werbeikone für ihre Produkte hochjazzen wollen.

Und dann noch dieser Leistungsdruck! Sogar der Arzt, der Franz‘ verletzten Mannschaftskameraden behandelt, äußert sich kritisch, während der Verletzte mit seiner Situation hadert. In Rückblenden montiert Wicker Foul- und Verletzungsszenen aus Fußballspielen und unterlegt dieser mit der passenden dramatischen Musik. Selbst der Kaiser höchstpersönlich erlaubt sich auf dem Platz den einen oder anderen Fauxpas, wie ein weiterer Zusammenschnitt zeigt, doch dafür spielt er sogar mit blutiger Nase weiter. Die undankbaren Fans wissen das indes nicht zu würdigen, skandieren „Beckenbauer raus!“ und belagern ihn an seinem bescheidenen Hofe – wo er sich ein Herz fasst, vors Volk tritt, sich mit den Vorwürfen auseinandersetzt und dadurch die Fans sofort zur Einsicht bewegt. Ein guter Kaiser ist immer auch ein guter Diplomat!

Dabei verbirgt er vor der Öffentlichkeit nur beschämt, wie sehr ihn all das mitnimmt, wie es an ihm nagt und ihn, den schüchternen, zurückhaltenden und sensiblen Libero, frustriert. Besuch bekommt er von vom jungen Thomas, der ihn unbedingt einmal kennenlernen wollte – vielleicht sein einziger echter Freund neben Harald Leipnitz. Die garstige Pressekampagne gegen Beckenbauer können indes auch sie nicht verhindern, auf seinem Rücken probt man die Auflagensteigerung fragwürdiger Gazetten. Was hilft da am besten? Na klar, Urlaub! Im Kreise seiner Familie überdenkt er seine Entscheidung, die Schlappen an den Nagel zu hängen, noch einmal.

Wicker hat hier alles richtig gemacht: Statt jeden einzelnen Handlungsstrang bis ins letzte Detail aufzudröseln, belässt er es bei Anrissen und Andeutungen, schließlich wollen wir ja nicht zu intim in des Kaisers Privatleben vordringen – das wäre indiskret –, außerdem hätte das wertvolle Filmmeter gekostet, auf denen man unser aller Libero im Bayerndress oder beim Training in seiner ganzen Grazie beobachten kann – was Majestätsbeleidigung gleichgekommen wäre. Irrelevante Dialoge aus fremdem Munde lässt Wicker in Dialekten vernuscheln, um nicht von den einzig bedeutsamen Äußerungen – denen Beckenbauers – abzulenken, was ungemein bei der Orientierung hilft. Was auf den ersten Blick unbeholfen wirken könnte – nämlich der ganze Film –, regt dazu an, sich seine eigenen Gedanken zum Leiden des jungen B. zu machen. Ok, und vielleicht zum deutschen Sportfilm der 1970er, zu Beckenbauers schauspielerischem und zu Wickers filmischem Talent, zu Drehbuch, Dramaturgie, Schnitt und Spielerfrisuren – und vielleicht, weshalb uns „Libero II – Der Auftrag“ (über die Befreiung Günter Netzers aus einem Sklavenlager in Katar), „Libero III – Ab jetzt wird hart zurückgegrätscht“ und „Libero IV – Die Rache des letzten Kaisers“ bis heute vorenthalten wurden.

Nach Videobeweis: 3,5 von 10 Koteletten.
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Emanuelle in America

„Das kommt davon, wenn man vor lauter Philosophie nicht mehr zum Bumsen kommt!“

Nachdem Italo-Genre-Regisseur Joe D’Amato die Figur der Black Emanuelle (Laura Gemser) von Bitto Albertini nach dessen etwas ungelenkem Debüt übernommen und mit seiner Fortsetzung „Black Emanuelle – 2. Teil“ fulminant in Serie geschickt hatte, folgte bereits 1977 der dritte Teil der Reihe: „Emanuelle in America“ alias „Black Emanuelle – Stunden wilder Lust“ entsendet die grazile Schönheit und Fotoreporterin ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten – und damit auch unbegrenzten Dekadenz –, wo sie der High Society in die Suppe spuckt und der freien Liebe frönt:

D’Amato eröffnet mit einer Collage aus Nacktfotosessions mit Emanuelle als Fotografin sowie urbanen Außenaufnahmen, die sie durch die Stadt New York spazierend zeigen. Erstmals gefährlich wird’s, als ein verwirrter Anti-Sex-Aktivist sie in ihrem Auto überfällt und umbringen will. Emanuelle kann sich jedoch retten, indem sie ihn verführt bzw. mit ihren Avancen in die Flucht schlägt. Die erste Sexszene wird noch abgeblendet, bevor sich Emanuelle zwecks Recherchen als Haremsdame beim patriarchalischen Millionär Eric van Darren (Lars Bloch, „Der Graf von Monte Christo“) einschleicht. Dort wird sich nackt im Pool geräkelt und werden schöne Unterwasseraufnahmen präsentiert, bevor es zur berüchtigten Szene kommt, in der eine nackte Dame einem Hengst am Penis herumfummelt. Auf wesentlich mehr Gegenliebe dürfte die Lesbenszene im Anschluss stoßen. Den Haremsbesitzer knöpft Emanuelle sich schließlich vor, geigt ihm selbstbewusst ihre Meinung und geht zwar mit ihm ins Bett, nimmt ihn anschließend aber beim Glücksspiel aus.

„Es macht mir Spaß, alle möglichen Arten von Sex auszuprobieren!“

Den Grafen Alfredo Elvize di Mont Elba (Gabriele Tinti, im Vorgänger Emanuelles Freund), den Emanuelle auf ihrer Flucht aus dem Harem kennenlernte, begleitet sie zu einer Privatparty am Canal Grande, wo sie es mit ihm und seiner Frau treibt. Emanuelles Freund Bill (Riccardo Salvino, „Petroleummiezen“) kommt auf ‘nen Fick, heimlich am Rande einer philharmonischen Konzertprobe, vorbei und eine dekadente Party entwickelt sich zur Orgie: Ein alter Mann darf eine aus einer Papptorte kommende, mit Sahne eingeschmierte nackte Frau im wahrsten Sinne des Wortes vernaschen. Das war dann auch der Startschuss dafür, dass sich alle die Kleider vom Leib reißen und übereinander herfallen. An dieser Stelle kommen erstmals auch Hardcore-Inserts zum Zuge, in diesem Falle eine Fellatio-Szene. Letztendlich kommt auch diese Sequenz nicht ohne Kritik an den Gastgebern aus, denn deren Ehe ist, wie Emanuelle aufdeckt, zerrüttet und unglücklich. Zurück in ihrem Studio schießt Emanuelle noch ein paar Aktfotos und gibt sich einer Runde Telefonsex mit ihrem Freund hin, um anschließend aus Neugier einen Sexclub auf einer Urlaubsinsel aufzusuchen. In diesem erwerben vermögende Lebedamen farbige Männer zur Befriedigung ihrer Lust – nicht nur auf Sex, sondern auch auf Exotik.

Erneut werden hier Hardcore-Inserts von Fellatio und nun auch Penetrationen munter mit den eigentlichen Filmbildern vermengt. Eine Frau schmückt den Penis eines Mannes mit Blüten, in einem Séparée findet ein gemischtrassiger Dreier statt (im Hardcore-Anteil sogar inkl. Cumshot), ein Mann mit Schnäuzer und Zorromaske schlägt eine masturbierende Rothaarige (Renate Kasché, „Venus im Pelz“) – und Emanuelle hält alles heimlich fotografisch fest. D’Amato verknüpft hier auf spekulative Weise Pornographie mit Bizarrerie, geht aber auch noch den einen, entscheidenden Schritt weiter, um aus dem aufgrund des Klassen- und somit finanziellen Unterschieds zwischen den Sexualpartnern und dem daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnis moralisch zwar anrüchigen, letztlich aber ohne unmittelbarem Zwang ablaufenden Treiben eine Frage von Leben und Tod zu machen: Die investigative Fotoreporterin wird Zeugin, wie bei einem weiteren Paar auf dem Zimmer Snuff-Videos laufen, offenbar zur perversen sexuellen Stimulation.

Der Sexploitation-Streifen wird nun um Krimi- und Thriller-Elemente erweitert, denn Emanuelle wird entdeckt, verfolgt und geschnappt. Sie soll ihre Negative an die Clubbetreiberin Diana Smith (Maria Piera Regoli, „Hemmungslos der Lust verfallen“) aushändigen, die ihr unverhohlen droht. Dank ihrer weltweit gesammelten sexuellen Erfahrungen erkennt Emanuelle jedoch, dass es sich bei ihrem Gegenüber um eine Lesbierin handelt und verführt sie auf unorthodoxe Weise bzw. nutzt die Gelegenheit zur Flucht. Obgleich der Sexanteil hoch bleibt, indem sie beispielsweise auch den Taxiführer verführt, gewinnt „Emanuelle in America“ nun doch deutlich an Brisanz. Emanuelle wird von ihrem Verleger auf eine verschwundene Prostituierte angesetzt, ein Tippgeber führt sie auf eine Spur nach Washington. In der US-Hauptstadt gerät sie an den hyperpatriotischen, verbrecherische US-Angriffskriege rechtfertigenden Senator Walter (Roger Browne, „Argoman“), mit dem sie zu Recherchezwecken ins Bett geht – wo er ihr zwecks Anregung die Snuff-Aufnahmen vorführt, welche offenbar aus den US-Kriegen stammen. Emanuelle gibt vor, die Videos geil zu finden und masochistisch veranlagt zu sein. Doch der Kriminelle hatte ihr LSD ins Getränk gemischt, woraufhin sie in ihrem Rausch träumt, dass er mit ihr zu Soldaten reist, die über weitere Snuff-Filme verfügen. Die entwickelten Fotos indes ergeben: Sie hat gar nicht geträumt! D’Amatos Verwirrspiel mag etwas durchschaubar sein, funktioniert hier aber durchaus.

Und nicht nur, dass der Film unmissverständliche Kritik an US-amerikanischen Aggressoren äußert, er zeigt auch noch die demokratiefeindlichen Verquickungen von Politik, Kapital und Medien auf: Weil die Zeitung, für die Emanuelle arbeitet, Walter gehört, will sie die Fotos nicht drucken. Doch die emanzipierte Emanuelle ist nicht auf den Job angewiesen, kehrt dem Schmierblatt den Rücken und schimpft auf die Lügenpresse. Zusammen mit Bill verreist sie, nach all den Strapazen und Enttäuschungen, auf eine Karibikinsel, wo sie just von einem nativen Stamm entführt werden und Bill sie aus Spaß mit dem Häuptling (Alfred Thomas, „Das Dschungelmädchen“) verheiratet. Die Hochzeit wird ausgiebig gefeiert, bis sich am nächsten Morgen herausstellt, dass es sich um keine echten Eingeborenen, sondern um ein Filmset mit Schauspielern handelte. Mit dieser Schlusspointe referenziert D’Amato noch einmal aufs eigene Medium und gibt möglicherweise bereits einen Hinweis darauf, wie die vermeintlichen Snuff-Szenen zu verstehen sind: Aufgrund ihres Realismus (der durch die künstliche Alterung des Filmmaterials zusätzlich authentisiert wurde) wurden sie bisweilen als real erachtet, wozu, darf man entsprechenden Quellen glauben, auch die Promotion des Films ihren Teil beitrug. Szenen eines Making-ofs entkräfteten diese Vorwürfe jedoch.

Mit „Emanuelle in America“ hat D’Amato einen hochgradig exploitativen Bastard aus Sex und Gewalt geschaffen, wie es über einen längeren Zeitraum eines seiner Erfolgsrezepte bleiben sollte. Sexualität wird mit voranschreitender Spielzeit immer stärker von Gewalt konterkariert, die Verquickung beider Elemente erzeugt Unwohlsein und wirft Fragen nach der Verkommenheit der finanzstarken und einflussreichen Oberschicht auf. Recht lang jedoch hält sich der Film mit episodischen Kuriositäten auf, die dramaturgisch unzureichend aneinandergereiht werden und es in spekulativer Hinsicht mit ihren Hardcore-Szenen übertreiben. In den meisten Fällen ist der körperliche sexuelle Akt losgelöst von emotionaler Zuneigung, auch Emanuelle setzt ihre Sexualität als Mittel zum Zweck bzw. als Waffe ein. Innerhalb der offenen Beziehung, die sie zu Bill pflegt, ist dies kein Problem, denn offenbar sind beide damit einverstanden, Sexualität als weitaus mehr denn lediglich Ausdruck von Liebe zu begreifen. Damit gelingt D’Amato das Kunststück, die nach der sexuellen Revolution von Teilen der Gesellschaft propagierte sexuelle Freiheit aufzugreifen, eine selbstbewusste Frau in ihren Mittelpunkt zu stellen, die damit mutmaßlich wesentlich mehr Sex hat als ihr die Situation weder ausnutzende noch mit ihr hadernde Lebensgefährte, diese auch noch als beruflich erfolgreich – wenn nicht gar erfolgreicher als Bill – darzustellen und damit somit beinahe einem feministischen Idealbild zu entsprechen, das er im Rahmen eines sich vornehmlich an ein heterosexuell männliches Publikum richtenden Sexploitation-Films anbietet.

Beinahe, weil Emanuelles Erlebnisse und der Einsatz ihrer Sexualität den trügerischen Schluss zulassen könnten, Frauen könnten quasi immer und es sei ihnen ein Leichtes, persönliche Abneigungen gegen Sexualpartner auszublenden. Für den Handlungsverlauf ist dies entscheidend, für die Etablierung eines feministischen Frauenbilds und -verständnisses eher kontraproduktiv. Die Selbstverständlichkeit, mit der die grazile Laura Gemser in ihrer Rolle aufgeht, ist hingegen einmal mehr beachtlich, die formalen Qualitäten des Films reichen da leider nicht heran. Neben den erwähnten dramaturgischen Schwächen fallen eine oft unruhige Kameraführung und ein ebensolcher Schnitt ins Auge, zudem wirken die Dialoge bisweilen sehr gestelzt (was aber der deutschen Synchronisation geschuldet sein mag). Nico Fidencos funkige, poppige bis schwelgerische musikalische Untermalung mit ihren Blechbläsereinsätzen kann sich hingegen hören lassen. 5,5 von 10 unsympathischen Sexualpartnern ist mir der Film damit wert, womit er letztlich jedoch deutlich gegen seinen Vorgänger abfällt.
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Teufelskicker

Anlässlich der Herrenfußballweltmeisterschaft 2010 adaptierte der deutsche Regisseur Granz Henman („Der Eisbär“) den ersten Teil aus Frauke Nahrgangs Kinderbuchreihe „Die Teufelskicker“ um fußballspielende Grundschüler(innen). Der komödiantische Kindersportfilm mit Action-Einlagen kam im März 2010 in die Kinos.

Nachdem die Mutter (Diana Amft, „Mädchen Mädchen!“) des zwölfjährigen Moritz (Henry Horn) seinen Vater (Benno Fürmann, „Die wilden Hühner“) beim Fremdgehen erwischt hat, trennt sie sich von ihm. Für Moritz bedeutet dies: Umzug mit Mutter zu Opa Rudi (Reiner Schöne, „Otto - Der Katastrofenfilm“) in eine neue Stadt, Besuch einer neuen Schule und der Versuch, in einem neuen Fußballverein unterzukommen. Letzteres misslingt leider, denn Mannschaftskapitän Mark (Tim Troeger, „Die Pfefferkörner“) hat etwas dagegen. Dabei ist das Fußballspiel Moritz‘ große Leidenschaft! Doch nach anfänglicher Frustration rappelt Moritz sich auf und gründet zusammen mit der stolzen Catrina (Cosima Henman, „Volltreffer“), dem ungestümen Niko (Sammy Scheuritzel, „Wickie und die starken Männer“), den Brüdern Mehmet (Yassine Gourar) und Enes (Kaan Aydogdu, „Dr. Chauvi“) sowie der „Rooftop-Gang“ um den obercoolen Alex (Dario Flick), einer Gruppe Parkour-Sportler, eine eigene Mannschaft: Die Teufelskicker sind geboren. Unter Leitung Moritz‘ Großvaters trainiert man fürs Pokalturnier, wo es um nicht weniger als die Stadtmeisterschaft geht – ganz zu schweigen vom Konflikt zwischen Opa Rudi und dem Trainer des Erzrivalen, dem aufgeblasenen Bauunternehmer Rothkirch (Armin Rohde, „Zwei Weihnachtsmänner“), Stiefvater Catrinas und Vater Marks…

Frauke Nahrgangs überaus erfolgreiche Kinderbücher sind mir unbekannt, sollen jedoch Geschichten aus dem Schulalltag mit der Begeisterung für den Fußballsport kombinieren und auf dieser Grundlage sportliche Werte vermitteln. Das klingt erst mal nach einem hehren Unterfangen, zumal es sich beim Fußibuff um meinen Lieblingssport handelt und man nie zu früh mit der Nachwuchsförderung beginnen kann, möchte man international nicht plötzlich wieder wie ein begossener Pudel dastehen. Doch was hat Schleichwerbung, pardon, Product Placement eines Konzerns wie McDonald’s in einem solchen Film zu suchen? Das ist nicht zu rechtfertigen.

Positiver stimmt da, dass zumindest ein Quotenmädchen mitmachen darf, vor allem aber, wie die Teufelskicker sich die Straße und andere mehr oder weniger öffentliche Plätze (zurück-)erobern. Das hat viel von zivilem Ungehorsam und kindlichem Abenteuer- und Entdeckertum, mit kleinen Duckmäusern haben wir es hier nicht zu tun. Doch was sollen diese Ninja-Akrobatik und all die Action-Stunts der „Rooftop-Gang“, die mit Fußball nichts mehr zu tun haben und hier gnadenlos übertrieben werden? Fürchtete man, Fußball allein sei nicht mehr angesagt genug – in einem Fußballfilm? Über Autodächer zu rennen und mitten im Straßenverkehr Fußball zu spielen ist mir dann auch doch eine Nummer zu unpädagogisch.

Die Gastauftritte echter Nationalspieler wissen hingegen ebenso zu gefallen wie der rockige Soundtrack und die Derbystimmung, die ein bisschen an den FC St. Pauli versus HSV erinnert. Die vielen zwischenmenschlichen bis melodramatischen Fässer, die der Film aufmacht, wollen allerdings nicht so recht munden: Der Konflikt zwischen Moritz‘ Eltern bleibt oberflächlich und an Alex‘ düsterem Geheimnis, dass er aufgrund eines Fußballspiels seinen kleinen Bruder auf dem Gewissen hat, verhebt man sich gar schwer. Das hätte man sich besser verkniffen und sich stärker auf den Bruder-Schwester-Konflikt zwischen Ekel Mark und der kecken Catrina sowie demjenigen zwischen Rudi und Rothkirch konzentriert. Immerhin wird auch das Problem käuflicher Schiedsrichter behandelt, auch der soziale Zündstoff mutet angenehm realistisch an: Außenseiter begehren gegen das Establishment auf, während Moritz‘ Mutter an einer Bewerbungsabsage nach der anderen verzweifelt. Dass sie schließlich als Aushilfstrainerin einspringen muss und Back- und Kochrezepte als Anweisungen ausgibt, dürfte allgemein amüsieren, aus feministischer Perspektive jedoch für ein wenig Stirnrunzeln sorgen.

So naheliegend ein Happy End für einen solchen (Kinder-)film auch sein mag, etwas mehr hätte man sich schon trauen dürfen. Doch wo man es tat, ging’s in die Hose. Trotz gut aufgelegter Jungmimen und einiger schöner und gelungener Momente bleibt aufgrund der zahlreichen Schwächen lediglich ein durchschnittlicher Eindruck. Eine altmodischere Herangehensweise hätte dem Film sicherlich gut getan – aber was weiß ich alter Knacker schon davon, was die Kinder heutzutage alles in einem Fußballfilm sehen wollen...
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Tatort: Es lebe der Tod

„Können Sie mir sagen, warum alle das Leben so wahnsinnig ernstnehmen? Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch die meiste Zeit tot und nicht lebendig verbringt…“

TV-Regisseur Sebastian Marka durfte nach drei Beiträgen zur öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Krimireihe den sechsten Fall um den Wiesbadener LKA-Kriminalhauptkommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) nach einem Drehbuch Erol Yesilkayas verfilmen – und damit seinen Beitrag zum seit 2011 für seine Unkonventionalität, Experimentier- und (in Bezug auf Kinoklassiker) Zitierfreude bekannten „Tatort“-Ableger leisten. „Es lebe der Tod“ wurde am 20. November 2016 erstausgestrahlt.

„Sie sind wahnsinnig!“

Ein Serienmörder hält das hessische Wiesbaden in Atem: Seinen Taten ist gemein, dass er seine Opfer betäubt, sie in eine Badewanne setzt und ihnen die Pulsadern aufschneidet. Um ihn zu fassen, inszenieren Murot, seine Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) und ihr Team einen vermeintlichen weiteren Mord, den sie dem Täter zuschreiben, der sich jedoch in Details von dessen tatsächlichen Taten unterscheidet. Der Plan geht auf, denn der Mörder Arthur Steinmetz (Jens Harzer, „Nackt unter Wölfen“) sucht den persönlichen Kontakt zu Murot, um seine Unschuld in diesem scheinbaren Fall zu erklären. Die Polizei nutzt die Gelegenheit, um ihn zu verhaften und dem Verhör durch Murot zuzuführen. Der intelligente Apotheker Steinmetz räumt alle Morde ein, von denen er weiß, dass sie sich ihm ohnehin nicht nachweisen lassen. Sein Motiv: Er hat sich ausschließlich unheilbare kranke oder des Lebens überdrüssige Opfer ausgesucht, von denen er glaubte, ihnen mit ihrer Ermordung einen Gefallen zu tun. Und da er selbst krankheitsbedingt nicht mehr lange zu leben hat, glaubt er, sie besonders gut zu verstehen. Was Murot nicht ahnt: Niemand Geringerer als er soll Steinmetz‘ letztes Opfer werden – denn wenngleich der Kommissar von seinem Hirntumor geheilt wurde, hat Steinmetz tiefsitzende Depressionen bei ihm diagnostiziert…

Der Täter ist – wohlgemerkt nach einem Auftakt par excellence – also schnell dingfest gemacht, Whodunit? wird zu Whydunit? wird zur Frage, was er als nächstes vorhat und vor allem, wie er es umsetzen will. Ganz richtig ist das aber eigentlich nicht, denn die Frage, um wen es sich bei Murots Gegenüber handelt, wird erst im Laufe der ausführlich gezeigten Verhörsituation beantwortet, in der Steinmetz sich erklärt und seine Identität ermittelt wird. Die ruhige Erzählweise steht im Kontrast zu einer auf Kinoniveau agierenden dynamischen Kameraführung und öffnet Räume, die die Charakterisierung Steinmetz‘ innerhalb eines sich zuspitzenden Psychoduells mit Murot ausfüllt. Inhaltlich wie stilistisch treffen hier Serienkiller-Thriller à la „Sieben“ auf psychologisches Drama, und auch der eine oder andere Teil der „Saw“-Reihe dürfte den Filmschaffenden nicht unbekannt gewesen sein.

Im Prinzip gibt Steinmetz vor, Sterbehilfe zu leisten, was das Drehbuch auch kaum infrage stellt; die Kritik an seinem Vorgehen bleibt oberflächlich. De facto spielt er sich jedoch als Richter über Leben und Tod auf und ermordet auch Menschen, deren psychische Erkrankungen behandelbar wären. Allem bewusst heraufbeschworenen Schwermut zum Trotz hätte man gut daran getan, dies zumindest einmal auszuformulieren, um nicht Gefahr zu laufen, einem entsprechend vorbelasteten Teil des „Tatort“-Millionenpublikums den Lebensmut zu rauben oder die ganz Armseligen in Euthanasie-Fantasien zu bestätigen.

Seine Faszination erlangt „Es lebe der Tod“ vor allem aus dem Umstand, dass Murot es mit einem Täter zu tun bekommt, der ihn psychologisch durchschaut und stets einen Schritt weiter zu sein scheint als er. Dieser Umstand führt zu einem exakt durchkalkulierten Plan, dem sich Murot beugen muss und ihn vor die Wahl stellt: Sein Leben oder das der Tochter (Ceci Chuh, „Boy 7“) seiner Kollegin Wächter. Da im Vorfeld geschickt Gerüchte lanciert wurden, Tukur würde seinen Dienst als „Tatort“-Kommissar evtl. quittieren, musste das Publikum den Heldentod für möglich halten, was das Finale deutlich spannender machte als aus heutiger Perspektive angesichts des Wissenstands, dass bereits ein weiterer Murot-Fall ausgestrahlt wurde. Doch auch dann funktioniert die Inszenierung durchaus, inkl. surrealer Einblicke in die Zwischendimension zwischen Leben und Tod und der Frage nach Murots tatsächlicher Lebensmüdigkeit. Wer entsprechend gepolt ist, darf sich ferner an einer gewissen Bondage-Ästhetik Ceci Chuhs erfreuen.

Marka arbeitet mit gelegentlichen Einschüben und Rückblenden ins Jahr 1988 sowie in Murots Kindheit. Der traumatisierende, unverarbeitete Tod seines Vaters muss als Erklärungsversuch für seine Depressionen herhalten, womit eine psychologische Komponente Einzug hält, die Stoff für weitere Ausarbeitungen der Figur Murot bietet. Mit „Es lebe der Tod“ ist ein dialogreicher, actionarmer, aber umso spannenderer und hervorragend geschauspielerter „Tatort“ gelungen, zu dessen bedrückender Atmosphäre Sufjan Stevens immer wieder angespieltes Stück „Fourth of July“ beiträgt – und der manch Zuschauerin oder Zuschauer auf, verglichen mit der exploitativen „Saw“-Reihe, sanftere Weise den Wert ihres Lebens vor Augen führen und zu etwas Demut raten dürfte.
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Die Nummer Eins – Deutschlands große Torhüter

„Das ist die Logik des Geschäfts: Es muss immer aufwärts gehen.“

Anlässlich der Herrenfußballweltmeisterschaft 2018 in Russland produzierte die ARD unter der Regie Gerhard Schicks („Das Monster in uns - Stuart Gordon und Brian Yuzna über den Horrorfilm“) den abendfüllenden Dokumentarfilm „Die Nummer Eins – Deutschlands große Torhüter“, die am 22. Juni 2018 erstausgestrahlt wurde und sich wohltuend von anderen Sportdokus abhebt.

Der Film beschränkt sich auf fünf Torhüter: Sepp Maier, Toni Schumacher, Oliver Kahn, Jens Lehmann und, als einzigem zum Drehzeitpunkt noch aktivem, Manuel Neuer. Deren Erfolge und auch Misserfolge lässt man Revue passieren, aber auch auf persönlicher, psychologischer Ebene von Ehrgeiz, Konkurrenz- und Leistungsdruck sowie den Umgang damit berichten – einem Druck, dem nicht jeder standhält. Der ehemalige Nationaltorhüter Robert Enke zerbrach daran und nahm sich 2009 das Leben. Seine Witwe Teresa Enke äußert sich ausführlich zur Karriere ihres Mannes und zu seiner Erkrankung, die tragisch endete. Schauspieler Peter Lohmeyer („Das Wunder von Bern“) kommentiert zudem diverse Einspielungen von Originalaufnahmen historischer Partien.

Natürlich, bestimmte Ereignisse, Bilder und Anekdoten dürfen in einem solchen Film nicht fehlen: Der nach einer Ente hechtende Sepp Maier, der 1974 mit einer Mannschaft im eigenen Land Weltmeister wurde, die rauchte und soff, statt jede Körperzelle durchzuoptimieren. Toni Schumacher, der im Spiel den Franzosen Battiston schwer verletzte, damit für die Gegner zum Hassobjekt und „hässlichen Deutschen“ wurde und später mit seinem Enthüllungsbuch „Anpfiff“ seine eigene Karriere besiegelte. Oliver Kahn, dem auf dem Platz häufiger die Synapsen durchbrannten und der zu Aggressionsausbrüchen neigte, aber auch selbst zum Opfer von Aggressionen wurde, wenn ihn beispielsweise ein aus den Zuschauerrängen geworfener Golfball am Kopf traf, der 2002 im WM-Finale gegen Brasilien einen eventuell haltbaren Schuss leider nicht parierte und der 2006 unter Klinsmann im mannschaftsinternen Torhüter-Duell Jens Lehmann unterlag, sich aber dennoch ganz in den Dienst der Mannschaft stellte. Jens Lehmann, der 2006 im Viertelfinale fürs Elfmeterschießen gegen Argentinien entscheidende Tipps von Kahn bekam und einen Spickzettel aus dem Stutzen zog – und zum Elfmeterhelden wurde. Und natürlich Manuel Neuer, der unter Tränen vom geliebten FC Schalke zu Bayern München wechselte, dort von den Fans zunächst nicht akzeptiert, aber 2014 Weltmeister und schließlich Welttorhüter wurde.

So weit, so erwartungsgemäß. Natürlich hätte man als Fußball-Fan oder zumindest -Interessierter gern auch Persönlichkeiten wie Toni Turek, meinen persönlichen Helden Bodo Illgner (beide Weltmeister) und Andreas Köpke (Europameister) gesehen, deren Abwesenheit irritiert und den Film unvollständig erscheinen lässt. Der Grund für ihr Fehlen bleibt unbekannt, möglicherweise standen sie Schick schlicht nicht zur Verfügung.

Was diesen Film jedoch zu etwas Besonderem macht, ist seine – für dieses Format – relativ tiefschürfende Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Position, des Sports, des Geschäfts: Der Torhüter ist in der Regel derjenige Spieler auf dem Platz, dessen individuelle Fehler am meisten auffallen – und spielentscheidend sind, während er zugleich lediglich bedingt auf das Platzgeschehen, das Spiel seiner Mannschaft, einwirken kann. Zudem sieht er sich einer permanenten Konkurrenzsituation durch die „Nummer Zwei“ im Tor ausgesetzt, die meist nur wenige Einsätze hat, jedoch mit den Hufen scharrt und darauf lauert, die nominelle Nummer Eins von ihrer Position zu verdrängen. Damit einher geht ein unheimlicher psychischer Druck, den zu bewältigen gute Kondition und spielerisches Talent nicht ausreichen. Da braucht es Härte gegen sich selbst, Nerven aus Stahl und viel mentales Training, was jedoch auch nicht in allen Situationen hilft. Manch einer wächst daran, andere zerbrechen, wie u.a. ein sehr reflektiert auftretender Oliver Kahn sich zu veranschaulichen bemüht.

Wie also geht man mit dem Druck um? Wie mit Anfeindungen von außen oder auch aus dem eigenen Verein? Und wie mit eigenen Fehlern, die schlimmstenfalls die gesamte Fußballnation diskutiert und evtl. gegen einen aufbringt? Mit diesen Fragen setzen sich die Persönlichkeiten aus Schicks Film auseinander und sensibilisieren für die mit ihnen verbundenen Belastungen und Folgen. Besonders bemerkens- und dankenswert ist die Tatsache, dass es Schick gelang, Teresa Enke für seinen Film zu gewinnen, die sehr gefasst und nachvollziehbar den Zusammenhang von Profisport, Druck, psychischen Problemen und der heimtückischen Krankheit Depression am tragischen Beispiel ihres Mannes Robert Enke aufzeigt.

Dennoch ist diese Doku weit davon entfernt, eine Jammer- oder Selbstbeweihräucherungsrunde hochdotierter Millionäre zu sein. Alle Beteiligten scheinen verantwortungs- und respektvoll mit diesem Format umzugehen und den ihnen frei von Außenperspektiven oder (in der endgültigen Schnittfassung) hörbaren Interview-Fragen offerierten Raum für persönliche Kommentare zu verschiedenen Karrierestationen bis hin zu intimeren Einblicken in ihre Psyche im Publikumsinteresse zu nutzen. Somit ist „Die Nummer Eins – Deutschlands große Torhüter“ eine gelungene Mischung aus emotionaler Fußballgeschichte und tieferem Einblick in das selbstgewählte Los der Schlussmänner, die größeres Verständnis zu generieren vermag und spannend genug erzählt ist, um auch ein fußballuninteressiertes Publikum anzusprechen.
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Kick it - Zwei wie Feuer und Wasser

„Schieß nach rechts!“

Alejandro González Iñárritu, Guillermo del Toro und Alfonso Cuarón produzierten Regisseur und Drehbuchautor (und Bruder Alfonsos) Carlos Cuaróns ersten abendfüllenden Spielfilm „Kick it – Zwei wie Feuer und Wasser“, eine mexikanische Sportkomödie aus dem Jahre 2008, die damit genau zwischen den Fußballweltmeisterschaften in Deutschland und Südafrika veröffentlicht wurde. Fünf Jahre später folgte ein weitere Spielfilm Cuaróns, bis heute blieb „Kick it“ jedoch sein einziger deutsch synchronisierter.

Beto (Diego Luna, „John Carpenter's Vampires: Los Muertos“) und Tato (Gael García Bernal, „The Past“) sind ein fußballbegeistertes Brüderpaar aus der mexikanischen Unterschicht, das tagsüber auf einer Bananenplantage schuftet, jedoch regelmäßig nach Feierabend den örtlichen Bolzplatz aufsucht, um mit einer Hobbymannschaft zu kicken – Beto im Tor, Tato als Stürmer. Als Talentsucher Batuta (Guillermo Francella, „Hillside Cannibals“) auf die Brüder aufmerksam wird, lädt er zunächst Tato, später aber auch Beto zu einem Probetraining in Mexico-Stadt ein, das den Startpunkt für die Profikarriere beider bedeutet: Sowohl Tato als auch Beto kommen in rivalisierenden Vereinen der ersten mexikanischen Liga unter und avancieren zu umjubelten Fußballstars. Tato arbeitet nebenbei an seiner Gesangskarriere und kann die sexy Gameshow-Moderatorin Maya (Jessica Mas, „Schon wieder Flitterwochen…“) für sich gewinnen, von der er immer geschwärmt hat. Doch trotz des Ruhms ist nicht alles eitel Sonnenschein: Maya betrügt Tato und während des Bruderduells, beim Spiel ihrer Mannschaften gegeneinander, werden sie in einen Wettbetrug verwickelt…

Talentsucher Batuta eröffnet den mexikanischen Fußballreigen als Sprecher aus dem Off; der Prolog stellt die Unterschichtsfamilie, der Beto und Tato entstammen, vor. Batuta tritt schließlich auch vor der Kamera in Erscheinung, bleibt aber als Off-Sprecher mit fußballphilosophischen Kommentaren erhalten. Torwart Beto ist spielsüchtig, Stürmer Tato träumt eigentlich mehr von einer Karriere im Showbiz denn vom Profisport – und doch ist es ausgerechnet Tato, der zuerst von einem Profiverein rekrutiert wird. Der eifersüchtige Beto muss sich noch etwas in Geduld üben, bis auch seine Stunde schlägt. Bis dahin gönnt er seinem Bruder kaum die Butter aufs Brot, was das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden verdeutlicht. Tatos Durchbruch als Sänger scheint mit einer spanischen Coverversion des Cheap-Trick-Hits „I Want You To Want Me“ zu gelingen. Diese erste Filmhälfte wirkt noch etwas langatmig und zerfasert und irritiert mit dem quasi vollständigen Verzicht auf Fußballspielszenen.

Zum bevorstehenden Bruderduell auf dem Rasen entwickelt „Kick it“ jedoch tatsächlich Spannung und integriert nun auch gut inszenierte Spielszenen, bevor die Schattenseiten des Erfolgs allesamt anschaulich durchexerziert wurden und das Ende mit so etwas wie einer „Wie gewonnen, so zerronnen“-Moral aufwartet, um die Vergänglichkeit des Ruhms zu unterstreichen. Der Weg dorthin ist gepflastert mit viel derber Sprache und Kraftausdrücken, vor allem aber – und das ist neben dem leichtfüßigen, auch mal bitteren Humor des Films sein größter Trumpf – muy mucho mexikanisches Temperament. Cuarón vermittelt mexikanisches Lebensgefühl, die überbordende Fußballbegeisterung des mittelamerikanischen Staats mit ihren Höhen und Tiefen und unterhält nicht zuletzt dank eines entfesselten, aber nie albern chargierenden Ensembles (aus dem sich Jessica Mas auch einmal oben ohne zeigt) nicht nur ein fußballaffines Publikum kurzweilig, in Bezug auf seine sozialen Aspekte und die Seitenhiebe aufs Sport- und Showgeschäft durchaus auch hintersinnig.

Im Abspann läuft dann noch einmal „I Want You To Want Me“, diesmal in einer englischsprachigen Coverversion – als wolle man erneut daran erinnern, dass Fußball nicht alles ist.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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