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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 28. Feb 2019, 14:48
von buxtebrawler
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Frau zu verschenken

„Ich find‘ dich zum Kotzen, aber ich liebe dich!“

In den 1970ern schien sich der französische Filmemacher Bertrand Blier auf Erotikkomödien spezialisiert zu haben. Auf „Die Ausgebufften“ und „Calmos“ folgte 1978 die französisch-belgische Koproduktion „Frau zu verschenken“, einmal mehr mit Gérard Depardieu und Patrick Dewaere in den männlichen Hauptrollen.

Raoul (Gérard Depardieu) und seine Frau Solange (Carole Laure, „Sweet Movie“) führen keine glückliche Ehe. Weitestgehend apathisch stochert sie auch während eines gemeinsamen Restaurantbesuchs im Essen herum und wirkt bei allem, was sie tut, leidenschaftslos – wenn sie nicht gerade gar Opfer ihrer Schwindsucht wird und in Ohnmacht fällt. Raoul ist der Verzweiflung nah. Ist die Ursache im Umstand zu finden, dass sie einfach nicht schwanger wird? Oder ist sie von Raoul gelangweilt und braucht Abwechslung in ihrem Sexleben? Letzteres wird für Raoul zu einer ebenso spontanen wie fixen Idee: Noch im Restaurant „verschenkt“ er Solange an den zunächst irritierten Stéphane (Patrick Dewaere) und beteuert, es wäre für ihn Ordnung, so lange Solange nur wieder glücklich werde. Mozart-Connaisseur Stéphane willigt schließlich ein, doch auch ihm gelingt es nicht, Solange die Leidenschaft zurückzugeben. An seiner Kollektion klassischer Musik und seiner prätentiösen Büchersammlung zeigt sie ebenso wenig Interesse wie am Beischlaf mit ihm. Damit Solange trotz ihrer einfach nicht gelingenden Schwangerschaft in Kontakt mit Kindern gerät, verpflichtet sich das seltsame Trio als Betreuer in einem Kinderferienlager, wo sie sich insbesondere des 13-jährigen Christians (Riton Liebman, „Die große Pfeife“) annehmen, der eine Außenseiterrolle einnimmt und von den anderen Kindern gemobbt wird. Solange fühlt sich sehr zu dem Jungen hingezogen, während er sich für ihre Weiblichkeit interessiert. Eines Nachts kommt es zum Sex zwischen beiden und Solange wird schwanger. Kurzerhand entführt das Trio Christian aus seinem Internat, Solange verdingt sich derweil als Haushälterin in der Villa von Christians Familie. Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, Christians Mutter verliert ihr Gedächtnis und Christian übernimmt das Unternehmen seines Vaters, während Raoul und Stéphane ins Gefängnis kommen…

„Mach ihr doch einfach ein Kind!“

Es ist eine absurd anmutende Situation: Raoul streitet mit seiner Frau öffentlich im Restaurant und „verschenkt“ sie wie eine Ware an den Nächstbesten. Sie lässt alles teilnahmslos über sich ergehen und ist nicht in der Lage, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren. Das wurde urkomisch inszeniert und macht neugierig auf den weiteren Verlauf des Films, der jedoch leider weder sein Erotikversprechen noch dramaturgisch fesselnde Spannung einlösen kann. Carole Laure ist ein echter Hingucker und recht freizügig, Blier konzentriert sich jedoch stärker auf alles andere als auf Solange, die eine Art willenloser Spielball bleibt, bis sie sich ihre offenbar pädophilen Neigungen eingestehen muss und Befriedigung im – quasi erneut – erstbesten Jungen findet, zu dem sie eine tiefere Beziehung aufbaut. Dass zwei gestandene Männer ausgerechnet von einem Heranwachsenden die Hörner aufgesetzt bekommen, soll vermutlich der eigentliche Clou des Films und Bliers (naiver) Abgesang auf klassische Zweierbeziehungen mit dominantem männlichem Part sein. Es schwingt jedoch der fahle Beigeschmack einer unproblematisierten Pädophilie mit; und dass Blier aus Christian einen verdammt frühreifen Jungen macht und mit diversen Erwachsenenattributen versieht, macht’s nicht unbedingt besser. Sein erneuter Verzicht auf eine starke Frauenrolle, die Selbstbewusstsein verkörpert und dazu in der Lage wäre, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, wirkt zudem entlarvend.

Die zunehmend unplausibler werdenden Entwicklungen ermüden bald, den Esprit seiner Exposition findet Blier bis zum Schluss nicht wieder. Etwaige Kritik am Patriarchat verblasst außerdem, da weder Raoul noch Stéphane als abtörnende Machos auftreten, die ihre Frau unterdrücken würden. Die Pointe, dass Solanges Kinderwunsch dual zu verstehen ist und sie gewissermaßen in ein und derselben Person beides erfüllt bekommt, erscheint mir aller lockeren, charmanten 1970er-Jahre-Franzosenkomödien-Stimmung zum Trotz eher fragwürdig denn lustig und wie man damit den Auslands-Oscar einstreichen kann, ist mir schleierhaft. Möglicherweise erwischen mich diese französischen Post-sexuelle-Revolution-Erotikkomödien aber auch einfach stets auf dem falschen Fuß, erreicht mich ihre Ironie nicht und bleibt mir ihr bedeutungsstiftender Gehalt als Deutschem zu Beginn des 21. Jahrhunderts verborgen… Einer abschließenden Bewertung enthalte ich mich daher besser.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 1. Mär 2019, 15:21
von buxtebrawler
Sting - Grenzgänger und Freigeist

Mit „Sting - Grenzgänger und Freigeist“ porträtiert die Französin Julie Veille 2017 in ihrem knapp einstündigen Film den in der Nähe Newcastles geborenen Gordon Sumner, der unter seinem Künstlernamen Sting erst Frontmann der Band The Police wurde und im direkten Anschluss eine erfolgreiche, bis heute andauernde Solo-Karriere hinlegte.

Die 1977 gegründete Band The Police war eine der erfolgreichsten Post-Punk/New-Wave-Gruppe Großbritanniens, die auf eigentümliche Weise Punk- und Reggae-Klänge miteinander verband, sich später aber auch weiteren Einflüssen öffnete. Sänger und Bassist Sting stach mit seiner hohen Kopfstimme hervor, mit der er dem Songmaterial seinen Stempel aufdrückte. Innerhalb seiner 1985 gestarteten Solo-Karriere legte Sting endgültig sämtliche musikalischen Fesseln ab. Mir persönlich fehlt an diesem Material oftmals der Biss, den The Police hatten. Dafür gelang es ihm, manch Song mit einer unvergleichlichen melancholischen Atmosphäre anzureichern, die ausgewählten Stücken eine ganz besondere Aura verleihen. Auch Lieder, die ich nicht unbedingt zu meinen Favoriten zähle, fühlen sich angenehm an und verleiten zum Liegenbleiben, wenn der Radiowecker sie frühmorgens ausspuckt. Seine musikalische Reise von Jazz über Fusion bis zu Weltmusik hat aber auch ein paar echte Gurken hervorgebracht, z.B. „Desert Rose“, seine Kooperation mit dem algerischen Sänger Cheb Mami – welch furchtbares Geleier! Neben seiner Musik tritt Sting aber vor allem als angenehm zurückhaltender Zeitgenosse in Erscheinung, der über ein politisches und soziales Bewusstsein verfügt – und ab und zu auch vor der Spielfilmkamera steht.

Nach einem Prolog, der eine Laudatio Meryl Streeps auf Sting zeigt, führt eine Off-Sprecherin durch Veilles Dokumentation, die zahlreiche Weggefährt(inn)en, Geschäftspartner(innen) und Kolleg(inn)en Stings zu Wort kommen lässt: Bob Geldof, will.i.am, Vinnie Colaiuta, Zucchero, Dominic Miller, Branford Marsalis, Pascal Negre u. a… Auch der Porträtierte selbst gibt exklusiv für diesen Film bereitwillig aktuelle Auskünfte. Zwischendurch werden Stings Anfänge und Beweggründe, Musik zu machen, abgehandelt, wobei The Police leider recht schnell abgehakt werden. Die Texte angespielter Sting-Songs werden (zumindest in der Arte-Ausstrahlung) per Untertitelung übersetzt. Von Stings beständigem, nachhaltigem sozialen Engagement schlägt man eine Brücke zu Konzerten im Angesicht des Terrors, dem Sting nicht kleinbeigibt.

Zeitgenössische Aufnahmen werden von Archivmaterial ergänzt und bieten so auch denjenigen einen groben Überblick über Stings Werdegang, die ihn vielleicht vor einiger Zeit aus den Augen (und Ohren) verloren haben. Sonderlich viel Tiefgang sollte man von einem solch kurzen Film natürlich nicht erwarten – das Bild eines weltoffenen, besonnenen und vielseitig interessierten kreativen Kopfes zu vermitteln, der in mehrerlei Hinsicht popkulturelle Geschichte geschrieben hat, gelingt aber mühelos – und lässt vielleicht auch mal wieder zu einer seiner Platten im Regal greifen.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 5. Mär 2019, 13:37
von buxtebrawler
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Der goldene Handschuh

Es geht eine Träne auf Reisen

„Da gehen auch normale Menschen rein!“

Das Leben meinte es nicht gut mit Friedrich Paul Honka: Der gebürtige Leipziger wuchs in Heimen auf, wurde vergewaltigt und so oft derart heftig misshandelt, dass er bleibende Schäden davontrug, die auch äußerlich sichtbar waren. Als er die DDR in Richtung Norddeutschland verließ, verdingte er sich als Hilfsknecht auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide und schließlich als Werfthilfsarbeiter in Hamburg – und verbrachte seine Freizeit vornehmlich in den Absturzspelunken des Kiezes auf St. Pauli, dem „Goldenen Handschuh“, dem „Elbschlosskeller“ und dem „Hong-Kong“. Ein Verkehrsunfall verunstaltete den relativ kleinen und schmächtigen Mann zusätzlich, seine Nase war zertrümmert und er schielte ausgeprägt. Zudem hatte er mit einem Sprachfehler zu kämpfen, nachdem ihm Zähne aus dem Unterkiefer herausgebrochen waren. Neben Unmengen Alkohol suchte er in den Kiezkneipen zwischen etlichen anderen gescheiterten Existenzen nach Liebschaften, die er in älteren, noch weiter als er heruntergekommenen Frauen, häufig Gelegenheitsprostituierten, fand. Er nahm sie mit nach Hause in seine winzige Mansardenwohnung in Hamburg-Ottensen, betrank sich weiter mit ihnen, verlangte Sex, verteilte Prügel. 1970 schlug er Gertraud Bräuer tot, zersägte ihren Leichnam, schleppte einen Teil in einem Koffer auf einen Schrottplatz und verstaute den Rest in einem Wandverschlag seiner Wohnung. Anna Beuschel, Frieda Roblick und Ruth Schult sind die Namen seiner weiteren Opfer in den Jahren 1974 und 1975, bis die Feuerwehr zu einem Brand in der Wohnung unter Honkas Dachgeschoss ausrücken müsste und auf der Suche nach Glutnestern durch Zufall auf Honkas verwesenden Berg an Leichenteilen stieß. Honka wurde festgenommen und schließlich zu 15 Jahren Haft und Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt verurteilt.

„Fritz Honka, dieses ärmste aller Würstchen, hatte auch noch das Pech, zum Mörder zu werden.“ (Gerichtsreporterin Peggy Parnass)

Fritz Honka ist neben Namensvetter Haarmann und Jürgen Bartsch einer der berüchtigtsten Serienmörder Deutschlands – und ein Stück Hamburger Kiezfolklore.2016 widmete Heinz Strunk ihm und anderen Gestalten aus dem „Goldenen Handschuh“ den gleichnamigen Roman, stellte die subproletarische Verkommenheit Honkas der der vermögenden Oberschicht einer fiktiven Reeder-Dynastie gegenüber und stellte einen Zusammenhang mit den Nachkriegsjahren her. Und er beleuchtete Honkas Kindheit und Aufwachsen, die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfuhren. Er gab ihm eine persönliche Geschichte über seine Straftaten hinaus und formulierte somit mögliche Gründe für seine Monsterwerdung. Der Hamburger Regisseur Fatih Akin („Aus dem Nichts“) verfilmte den Stoff, seine Premiere hatte der Film auf der Berlinale 2019 – und verfolgt einen anderen Ansatz als Strunk. Eine Geschichte wie diejenige Honkas entsetzt und ruft aufgrund ihres Extremismus extreme Reaktionen hervor, daher auch jede Form der Auseinandersetzung mit ihr. Dass Akins Film polarisieren würde, war demnach abzusehen. Dass es sich verbietet, einen Film permanent mit seiner Romanvorlage zu vergleichen, sollten wiederum eigentlich jede Kritikerin und jeder Kritiker wissen. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, es trotzdem zu tun, was zu zahlreichen verzerrten Rezensionen führte. Da ich lediglich über statt in Strunks Roman gelesen habe, befinde ich mich in der Lage, weitestgehend unvoreingenommen an den Film heranzugehen und möchte ich gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, mit etwaigen Missverständnissen aufzuräumen.

Barfuß im Regen

Zunächst einmal fällt eine Genrezuordnung schwer. Akin bezeichnet „Der goldene Handschuh“ als Horrorfilm, über dessen Elemente aufgrund seiner Konzentration auf physische Gewaltausbrüche er auch verfügt. Ein klassischer Horrorfilm ist er dennoch nicht, denn ihm geht in diesen Szenen alles Comichafte und jegliche Ästhetisierung des Grauens und der Gewalt ab. Außerhalb dieser zentralen Momente handelt es sich um so etwas wie eine Tragikdramödie, eine Milieugroteske und eine Chronik des Scheiterns. Sie beginnt mit Honkas (Jonas Dassler, „Werk ohne Autor“) Unvermögen, die erste Leiche zu entsorgen. Die Tat bleibt dem Publikum vorenthalten. In den ersten Bildern findet man sich mit Honka und dem Leichnam in seiner Wohnung wieder und wird Zeuge, wie er sich gezwungen sieht, zum Fuchsschwanz zu greifen, um die Leiche zu zerlegen. Obgleich Akin noch relativ dezent vorgeht und den Prozess des Zersägens außerhalb des sichtbaren Bereichs stattfinden lässt, sorgen das Ambiente und die effektiv eingesetzte Geräuschkulisse für Schauer und Ekel. Zeitsprung, vier Jahre später: Honka gibt der hübschen, gerade sitzengebliebenen Schülerin Petra (Greta Sophie Schmidt) Feuer und scheint in ihr ein Idealbild einer sexuell begehrenswerten Frau zu erkennen, das ihn in späteren Visionen immer wieder einholen wird. Man hofft, dass der Blankeneser „Bonzensohn“ Willi (Tristan Göbel, „Tschick“), der sich für sie interessiert, ihr anstelle Honkas näherkommen wird und sich ihre Wege mit dem des mörderischen Trinkers nicht so bald wieder kreuzen mögen. Zugleich ist damit ein Nebenhandlungsstrang eröffnet, der sich wie eine lose Klammer um die Handlung legen wird.

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Im Kontrast zur unschuldigen Jugend, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat, stehen die verpfuschten Existenzen, die sich regelmäßig auch mitten in der Woche im Goldenen Handschuh treffen, sich betrinken und allesamt in ihrer eigenen Welt zu leben scheinen. Sie bilden nicht etwa eine verschworene Gemeinschaft, die miteinander in ernsthafte Kommunikation tritt, sondern scheinen alle für sich auf etwas zu warten, was unter normalen Umständen einen großen Bogen um die Kaschemme macht – und als Alternative lediglich den sämtliche Gefühle abtötenden Rausch zu kennen, wenn sie Schnaps wie Wasser saufen. Unter ihnen findet sich für einen Gastauftritt auch Heinz Strunk persönlich ein. Akin legte großen Wert auf eine authentisch anmutende Ausstattung, von Straßenzügen über Kleidung, Frisuren und Musik bin hin zur kargen Einrichtung der Kneipe. Mit Liebe zum Detail werden die 1970er lebendig und verleugnen doch nie ihre Tristesse, die in Honkas anhand von Polizeifotos exakt nachgebildetem Wohnloch kulminiert, inkl. mit Nacktfotos aus einschlägigen Magazinen vollgekleisterten Wänden. Wie es Honka gelang, weibliche Begleitungen dort hineinzulocken, ist in seiner Profanität fast schon eindrucksvoll. Die Maske hat bei Hauptdarsteller Jonas Dassler ganze Arbeit geleistet und den Schönling zu einem derart überzeugenden Honka-Verschnitt umgestaltet, dass man schnell über seine eigentlich zu kräftige Statur hinwegsieht. Wie er da sächselnd in der Kneipe sitzt und den hoffnungslosesten, abgewracktesten Frauen Getränke ausgibt, wodurch eine Art ungeschriebener Vertrag entsteht, sich ihm hinzugeben, ist tragikomisch; zudem sind zahlreiche Kneipenszenen von Kiezhumor bestimmt, der sich aus der Skurrilität der Gestalten speist. Ein Bild, das sich blitzschnell wandelt, wenn Dassler Wut, Frust und maximale Aggression in seine Rolle legt, die sie an ihren Opfern auslässt. Von Dassler bleibt da nichts mehr übrig, er wird zu einer wütend rasenden hassverzerrten Fratze – dem zweiten Gesicht des zuvor so lächerlich und harmlos gewirkt habenden Honkas.

Eine ganze Nacht

Und nicht einmal davon lässt sich jede vertreiben: Gerda Voss (Margarete Tiesel, „Schweinskopf al dente“) lässt sich von ihm das Gebiss zerschlagen und bleibt bei ihm, putzt die Wohnung, kocht für Fritz und seinen in Hamburg aufgewachsenen Bruder Siggi (Marc Hosemann, „Liebe deine Nächste!“). Doch Honka duldet sie lediglich, weil er sich an ihre Tochter heranmachen will, was zu einer fixen Idee wurde. Gerda ist dann doch noch schlau genug, irgendwann einfach zu verschwinden; ihre Tochter bekommt er nie zu Gesicht. Ein Verkehrsunfall macht Honka körperlich noch kaputter, sein Gang wird immer schlurfiger und er muss seinen Job in der Werft aufgeben. Doch ausgerechnet dadurch scheint sich sein Leben zum Besseren zu wenden: Er tritt einen Job als Nachtwächter an, den er überaus ernst nimmt, ist auf seine Uniform stolz wie Bolle und schwört dem Alkohol ab. Der Film zeigt nun einen verunsicherten, beinahe unterwürfigen Honka, der jedoch pflichtbewusst seiner Tätigkeit nachgeht und sich mit der im selben Gebäude tätigen Reinigungskraft Helga Denningsen (Katja Studt, „Ausgerechnet Sylt“) anfreundet. Seine Uniform trägt er fortan auch privat, sie scheint ihm Autorität zu verleihen. Doch als er sich in Helga verliebt, wird er rückfällig und versucht im Suff, sie zu vergewaltigen. Fortan nimmt das Unglück wieder seinen Lauf und mehrere Frauen verlieren ihr Leben, bis Petra sich eines Tages mit Willi im Goldenen Handschuh trifft und er ihr bis nach Ottensen nachstellt, als sie die Kneipe verlässt. In der Wohnung der griechischen Gastarbeiterfamilie unter ihm ist ein Feuer ausgebrochen, der Rest ist Geschichte. Diese wunderbar gefilmten Szenen, mit denen der Film schließt, suggerieren, Honka habe direkt um die Ecke seiner Stammkneipe gelebt. Tatsächlich ist Ottensen vom Kiez aus gut zu Fuß zu erreichen, ein paar Kilometer beträgt die Strecke schon. Auch in anderer Hinsicht nimmt sich Akin, der auch das Drehbuch verfasste, einige künstlerische Freiheiten heraus. Der Großteil ist jedoch so oder zumindest so ähnlich tatsächlich überliefert.

Wir sind jung, wir sind frei, geh‘n am Leben nicht vorbei

Die Gewaltszenen sorgten für Diskussion: Akin ging einen Mittelweg und ließ auch bei weiteren Gewaltausbrüchen die Szenen außerhalb des sichtbaren Bereichs und sich somit in erster Linie im Kopf des Publikums abspielen. Dennoch sind sie an der Grenze des Erträglichen, wenn sie auf Honkas entstelltes Gesicht zoomen und eingespielte Geräusche die Fantasie provozieren. Von der Würde, die Strunk den Figuren zurückgegeben habe, sei im Film nicht mehr viel übriggeblieben, heißt es in verschiedenen Quellen. Diese Äußerungen halte ich für bedenklich. Zunächst hatte Akin tatsächlich Szenen gedreht, die Auszüge aus Honkas Kindheit und seinem Leid zeigen, sie jedoch letztlich verworfen. Natürlich hat alles seine Ursprünge, und sei es noch so dämonisch. Dies hat Strunk offenbar herausgearbeitet, indem er Honka auch als Opfer darstellte. Das ist richtig und wichtig. Genauso richtig und wichtig ist es jedoch, zu verdeutlichen, dass dies nicht als Rechtfertigung für die Taten Honkas herhalten kann. Zu vermeiden, es sich mit derartigen Erklärungsversuchen einfach zu machen, war Akin wichtig. Und um beim Begriff der Würde zu bleiben: Die gab es nicht in Honkas Taten, sie waren vollständig würdelos. Wie könnte man einem Mann Würde andichten, der seinen Opfern ihre letzte Würde derart brutal nimmt? Wie könnte man jemandem Würde attestieren, der auch seine eigene Würde mit Füßen tritt und im Kornrausch ertränkt? Und doch gelang es Akin: In Honkas trockener Phase, als er vom aggressiv machenden Bauerngesöff die Finger ließ, erlangte er seine Würde zurück. Das Publikum bekam die Möglichkeit, Empathie für diesen armseligen Menschen zu entwickeln, Mitleid zu empfinden. Und seine Opfer? Über sie erfährt man kaum etwas. Dies wiederum ist nicht einer vermeintlichen Misogynie Akins geschuldet, sondern dem Umstand, dass der Film überwiegend aus der Sicht Honkas erzählt wird. Für ihn hatten seine Opfer keine Geschichte, weil er sich schlicht in keiner Weise für sie interessiert hat. Und damit war er zynischerweise nicht allein; offenbar hat seine Opfer niemand vermisst, weshalb sie in seinem Verschlag lange Zeit unbemerkt verrotten konnten. Auch vor dem Gestank und dem Krach, die aus seiner Wohnung gedrungen sein müssen, verschloss man offenbar Nase und Ohren. Zudem widerstand Akin in den entscheidenden Momenten der Versuchung, aus seinem Film eine Sozialstudie zu machen. Stattdessen richtet er den Fokus auf Honkas Unfähigkeit, mit Frauen umzugehen, auf sein geringes Selbstwertgefühl, das im Kontrast zu seiner Vorstellung von Männlichkeit steht, und sein Bedürfnis, im Suff seine Machtfantasien auszuleben und Frauen, die in der sozialen Rangordnung noch unter ihm stehen, zu erniedrigen. Damit macht Akin auch Schluss mit jeglicher Glorifizierung oder Verklärung nicht nur Honkas als Serienmörder, einem Menschenschlag, von dem auf einige eine seltsame Faszination auszugehen scheint, sondern auch des Milieus, in dem er sich aufhielt. Akin kontrastiert die kaputte Welt seiner Protagonistinnen und Protagonisten mit zeitgenössischen Heile-Welt-Schlagern, die von der Realität nicht weiter entfernt sein könnten.

„Der goldene Handschuh“ ist ein hässlicher, ekelhafter Film. Die Wohnungen sind ranzig, die Krägen speckig, die Haare strähnig, die Körper ungepflegt und geschunden – und oft blutverschmiert. Es wird gesoffen und gekotzt (allerdings nicht vom Alkohol, sondern vom Verwesungsgeruch). Freizügige männliche wie weibliche Darsteller beweisen Mut zur Hässlichkeit, allen voran Dassler, der sich mit einer übermenschlichen schauspielerischen Leistung für diverse Auszeichnungen empfiehlt. In Honkas Tötungsakten regiert die pure Hässlichkeit, hässlicher, als er es mit seinem Äußeren je sein könnte. Diese schwer verdaulichen Bilder zeigen Gewalt an Frauen so, wie sie ist: abstoßend und armselig. Ihnen ist ein solcher Abschreckungseffekt immanent, dass es gerechtfertigt erscheint, einen minutenlangen Todeskampf eines seiner Opfer zu zeigen, das er erst zu erdrosseln versucht und anschließend mit Kornflaschen erschlägt, einer nach der anderen – man sieht die blutigen Glassplitter fliegen. Vielleicht ist die Verquickung mit Verlierer- und schwarzem Humor manchmal zu viel, vielleicht hätte Akin noch näher an der Realität bleiben sollen. Dass eine solche Mischung aus Komödiantischem, Realismus, Fiktion und verstörenden Szenen irritiert, kann ich sehr gut nachvollziehen, wenngleich es mich in diesem Falle kaum gestört hat.

Denn: Keine Frage, „Der goldene Handschuh“ ist ein intensives Filmerlebnis. Mal erinnert er ein bisschen an „Henry – Portrait of a Serial Killer“, mal erkennt man Motive aus „Maniac“ wieder. In erster Linie jedoch ist er eigen, allein schon aufgrund seines Milieus. Und das ist es wohl auch, was den Film für mich so unmittelbar machte. Als Wochenendpartytrinker ist mir der Kiez mit seinen Kneipen nicht fremd, in denen damals wie heute auch die Gestrandeten und Gebückten anzutreffen sind. Aus dem eigenen Bekanntenkreis sind mir auch die Hartalktrinker bekannt, die ihren Sprit irgendwann täglichen brauchten, um in ihm ihren Frust zu ersäufen – der im Rausch dann doch durchbrach und sich in unberechenbaren Aggressionen äußerte. Und die Exzesse mit ihnen, als man glaubte, sie wollten mit einem feiern. Bis man selbst auch mal völlig fertig mit sich und der Welt in irgendeiner nie schließenden Kaschemme saß und trank, um zu vergessen, glücklicherweise aber doch schnell genug wieder ins Leben zurückfand und nichts verbrach, was es einem nachhaltig versaut hätte. Als ich an diesem verkaterten Sonntag in einem Kino in Wurfnähe Honkas ehemaliger Wohnung saß und seine Taten überlebensgroß auf der Leinwand nachgestellt wurden, fehlte mir etwas die Distanz, die andere vielleicht mitbringen. „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, schrieb einst Nietzsche. Dieses Gefühl überkam mich während des Kinobesuchs, nach dem es meine Begleiterin und mich noch zu Honkas ehemaligem Wohnhaus verschlug, an dem wir schon so oft vorbeigegangen waren, ohne es bewusst wahrgenommen zu haben. Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ hat kollektive düstere Nachkriegserinnerungen einer Hansestadt hochgeholt bzw. sie erstmals ins Gedächtnis jüngerer Generationen verpflanzt, denen ein derart abgründiges menschliches Elend bis dahin hoffentlich fremd gewesen ist. Darauf 8,5 von 10 Drinks, aber alkoholfrei – die Lust aufs Trinken ist mir nach diesem Magenschwinger erst einmal vergangen.

Nachtrag: Wenngleich ich Strunks Roman noch nicht gelesen habe, scheint er sich mir auf Grundlage der Informationen, die ich habe, für eine Serienverfilmung anzubieten. Gut, dass sich Akin nicht an einer möglichst werkgetreuen Umsetzung verhoben hat, für die mir ein Spielfilm nicht das richtige Medium zu sein scheint. Gut aber auch, dass der Stoff meines Erachtens noch längst nicht auserzählt ist...

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 6. Mär 2019, 18:04
von buxtebrawler
Tatort: Weil sie böse sind

„Wir hassen die Bösen nicht nur, weil sie uns schaden, sondern weil sie böse sind.“ – Jean-Jacques Rousseau

Regisseur Florian Schwarz‘ nach „Waffenschwestern“ zweiter „Tatort“ degradiert das Frankfurter Ermittlungsduo Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) zu nicht viel mehr als Statisten in einem Spiel um Macht, Moral und Sühne, erdacht von Matthias Tuchmann und Florian Schwarz, in Drehbuchform transkribiert von Michael Proehl. Die 2010 ausgestrahlte Episode wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis als bester Fernsehfilm des Jahres ausgezeichnet.

Rolf Herken (Milan Peschel, „12 Meter ohne Kopf“) muss als verwitweter Angestellter sich und seinen autistischen Sohn durchbringen, für den er dringend Geld für eine nachhaltig wirksame Therapie benötigt. Im Beruf sieht er sich jedoch starkem Konkurrenzdruck ausgesetzt und wird von der eigenen Kollegin (Sandra Borgmann, „Die Bluthochzeit“) übervorteilt, wodurch ihm eine fest eingeplante Gehaltserhöhung verwehrt bleibt. Rolf sieht nur noch eine Möglichkeit: Er sucht den vermögenden Kunstmäzen und Stiftungseigner Reinhard Staupen (Markus Boysen, „Tornado – Der Zorn des Himmels“) auf, um ihn zu bitten, sich bei dessen Stiftung für seinen Sohn einzusetzen. Doch Staupen reagiert überheblich und ablehnend, lässt sich auch nicht durch Rolfs Ahnenforschungen erweichen, die ergeben haben, dass die Herkens vor Generationen einst für die Staupens in die Bresche sprangen. Staupen wird beleidigend und verhöhnt Rolf und seinen Sohn, woraufhin Rolf ihn im Affekt mit einem mittelalterlichen Morgenstern erschlägt. Als der Staupen-Sprössling Balthasar (Matthias Schweighöfer, „Keinohrhasen“), ein junger Erwachsener, seinen toten Vater entdeckt und die Videos der Überwachungskamera auswertet, freut er sich über das Ableben des verhassten Erzeugers. Er lässt die Aufnahmen und die Tatwaffe verschwinden und wendet sich an Rolf, um sich bei ihm zu bedanken und ihm nicht nur finanziell unter die Arme zu greifen – aber auch, um mit seiner Hilfe auch seinen Onkel (Peter Davor, „Sommer ‘04“) und seine Tante (Adele Neuhauser, Wiener „Tatorte“), die nicht minder böse sind, als es sein Vater war, zu töten. Doch Rolf will davon nichts wissen, weshalb Balthasar zum Mittel der Erpressung greifen muss. Charlotte Sänger und Fritz Dellwo von der Kripo sind zwar auf den Fall angesetzt, aber viel zu sehr mit internen Querelen um ihre Posten und daraus resultierenden Befindlichkeiten beschäftigt, als dass sie das Spiel durchschauen würden…

Überzeichnete Charaktere, die zwischen klassischer Musik und Bob Dylans Folk-Klängen agieren, liefern sich Duelle bis aufs Blut. Graustufen gibt es kaum zu erkennen, mit einer entscheidenden Ausnahme: Während der Großteil klar in ein Gut-Böse-Schema gepresst werden kann, ist die Figur des Balthasar ambivalent. Um die Welt von seiner bösen Verwandtschaft zu befreien, wendet er selbst ungesetzliche, ja, „böse“ Methoden an und zwingt Rolf Herken in eine Vollstreckerrolle, in die dieser partout nicht hineinwill. Daraus entsteht die spannende Dramaturgie dieses außergewöhnlichen „Tatorts“, der zudem sehr launig gespielt wird – wenngleich Schweighöfers Dialoge oftmals etwas sehr gekünstelt wirken. „Weil sie böse sind“ mit seinem einleitenden Rousseau-Zitat geht davon aus, dass es das Gute und das Böse tatsächlich gibt. Und er zeigt interessante Möglichkeiten auf, sich missliebiger Mitmenschen zu entledigen, indem man sie so sehr provoziert, dass man sie in Notwehr um die Ecke bringen kann. Am Ende bleibt jedoch die „Tatort“-typische Konsequenz, dass niemand ungesühnt davonkommen darf, der einen geplanten Mord auf dem Gewissen hat, auch wenn er vielleicht gar nicht mal so falsch damit lag. Dank des Versagens der Polizei bleibt nur noch die eine finale Möglichkeit.

Die staatlich legitimierte Exekutive überhaupt in diesem „Tatort“ unterzubringen, bereite Schwarz & Co. spürbar Mühe. Ihre kindischen Ränkespiele um die Besetzung ihrer albernen Kripo-Pöstchen finden zum Glück nur am Rande statt, nerven dennoch jedes Mal kolossal und gehören anscheinend zur Kontinuität dieses hessischen „Tatort“-Ablegers, dessen nächste Episode bereits sein Schwanengesang wurde. Fazit: Für Realismus-Fetischist(inn)en und passionierte Whodunit?-Rätsler(innen) ist dieser Fall nichts – für Freunde des etwas experimentelleren, dicker aufgetragenen und philosophischen Fernsehkrimis jedoch fast ein Volltreffer, der sich in die moderne „Tatort“-Klassikerriege einreiht.

Bleibt nur noch die Frage: Was für Arschlöcher hören eigentlich den guten alten Bob Dylan?!

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Fr 8. Mär 2019, 12:19
von buxtebrawler
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Am Abend aller Tage

„Bilder gehören niemandem. Sie gehören nur sich selbst.“

In einer Mischung aus Thriller und Drama erzählt Dominik Graf („Die Katze“) in seinem 2016 veröffentlichten Film „Am Abend aller Tage“ die nach „Die Freunde der Freunde“ zweite Adaption eines Henry-James-Romans durch Drehbuchautor Markus Busch: „Die Aspern-Schriften“ aus dem Jahre 1888 werden auf den realen Fall des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt aus dem Jahre 2012 übertragen, wodurch die Handlung von Venedig nach München verlagert und aus Literatur bildende Kunst wird. Seine Welturaufführung erfuhr der fürs Fernsehen gedrehte Film bei den 50. Hofer Filmtagen am 28. Oktober 2016, erstausgestrahlt wurde er am 31. Mai 2017 in der ARD.

„Das Bild muss gekauft werden. Es muss. Es klebt Leid daran und es soll wieder dorthin zurück, wo es hingehört!“

Versicherungsdetektiv Philipp Keyser (Friedrich Mücke, „Alles ist Liebe“) wird von einer achtköpfigen Gruppe Frankfurter Greisinnen und Greise beauftragt, das verschollene Gemälde „Die Berufung der Salomé“ des Expressionisten Ludwig Glaeden ausfindig zu machen, bei dem es sich wahrscheinlich um Raubkunst handelt. Geld spielt für die Auftraggeber(innen) keine Rolle. Einzige weitere Information: Es befindet sich möglicherweise im Besitz des Münchener Sammlers Magnus Dutt (Ernst Jacobi, „Sperling und die verlorenen Steine“). Keyser versucht, über Dutts Großnichte, Künstlerin und Wäschereiangestellte Alma Kufferer (Victoria Sordo, „Das Glück der anderen“), an den verschrobenen, zurückgezogen lebenden Senior heranzukommen, indem er sich ihr gegenüber als kunstinteressierter Journalist ausgibt. Zunächst zeigt sie wenig Interesse am attraktiven jungen Mann, doch als er offeriert, den vertrockneten Garten ihres Onkels aufzuforsten, öffnet sie sich ihm. Zwischen beiden entbrennt eine heiße Affäre…

Mit „Am Abend aller Tage“ setzt Graf durch die an Cornelius Gurlitt angelehnte Figur Magnus Dutt dem 2014 verstorbenen Exzentriker ein filmisches Denkmal. Ferner liefert er einen oft provokanten Beitrag zur Diskussion um die kommerzielle Auswertung von Kunst, den Besitz und die Konservierung von Kunst sowie Kunstverständnis im Allgemeinen, indem er Verständnis für Dutts alias Gurlitts radikalen Ansatz schafft. Im völligen Kontrast zur Vervielfältigung von Kunst und zu ihrer Konservierung, sei es im Privat- oder öffentlichen Besitz, agiert Dutts Großnichte Alma Kufferer, die nicht das geringste Interesse daran hat, mit Kunst auch nur einen Cent zu verdienen. Stattdessen schafft sie Kunst der Kunst und des künstlerischen Prozesses wegen, wenn sie mit Vergänglichem und Verderblichem wie Lebensmitteln arbeitet, in und mit Farben schmiert oder sich selbst in ein Kunstwerk verwandelt. Dabei legt sie nicht einmal Wert auf Dokumentation wie z.B. Fotografien ihrer Ergebnisse. Der visuelle Höhepunkt: In einer Szene von bizarrer Schönheit empfängt sie Keyser als Wasserleiche.

In Dutts labyrinthischem Haus finden sich dann ungeordnet und unkatalogisiert etliche Kunstwerke quer durch Epochen, Stile und Künstler(innen), herumstehend, aneinander lehnend, in keiner Weise ausgestellt, hergerichtet oder prominent an Wänden platziert. Der Sammler hortet und verwahrt, um seine Schätze vor den voyeuristischen Blicken jener zu schützen, die seinen Kunstbegriff nicht teilen. Auch er hegt keinerlei monetäres Interesse, er begreift sich als Idealist. Keyser und Kufferer kommen sich derweil immer näher; je tiefer Keyser in die Welt wahrer Kunst eintaucht, desto stärker entbrennt seine Leidenschaft für Kufferer.

„Am Abend aller Tage“, eine Art Kunst-Thriller, erinnert an eine Mischung aus Gialloeskem und Polanskis „Die neun Pforten“, abgeschmeckt mit einer Prise „Das Haus der lachenden Fenster“. Das lässt zunächst auf einen weiteren Geniestreich Grafs hoffen. Das permanente Gerauche der Figuren ist definitiv eine Reminiszenz an Polanskis Okkultliteratur-Thriller, für einen Giallo fällt Grafs Film optisch dann letztlich aber doch zu konventionell aus. Anders die Handlung und Dramaturgie, leider nicht im positiven Sinne: Vieles innerhalb der Figuren-Interaktion bleibt wenig nachvollziehbar. Was findet Kufferer an Keyser, weshalb bleibt sie trotz seiner ihr bekannten Absichten an seiner Seite? Weshalb verstummt ihre Freundin Bibi (Emma Jane, „Höre die Stille“) so plötzlich und nachhaltig? Das Drehbuch macht es Keyser sehr leicht, mit seinen Plänen durchzukommen, worunter die Spannung leidet. Wer seine Auftraggeber wirklich sind, erfährt man genauso wenig (am Ende gar eine Art „jüdische Verschwörung“?). Stattdessen wird eine unheilbare Krebserkrankung Kufferers unmotiviert erscheinend eingeworfen. Will man damit den Aspekt der Vergänglichkeit auch unbedingt auf die menschliche Existenz übertragen? Eine schöne Szene, in der Keyser tot auf dem Boden liegt und Kufferer mit seinen Gedärmen „Kunst“ erzeugt, entpuppt sich bedauerlicherweise lediglich als Traum, der nichts als selbstzweckhaft ist und die Handlung kein Stück voranbringt. Kunst um ihrer selbst willen, schon klar.

Gegen Ende scheint Graf die Zeit auszugehen, Elementares wird in Form einer Rückblende oder einer Art Zeitraffer abgehandelt, „Am Abend aller Tage“ endet abrupt. Der Film vergibt leider die Chance, thematisch bisher unbeleckte Zuschauerinnen und Zuschauer für seine Inhalte zu sensibilisieren. „Am Abend aller Tage“ wirkt in seiner bemühten Unkonventionalität und seinem Fokus auf ein bestimmtes Publikum fast ähnlich elitär wie der Gedanke, Kunst im Keller zu verschanzen, um sie vor der Öffentlichkeit zu „schützen“.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 13. Mär 2019, 19:39
von buxtebrawler
Tatort: Für immer und dich

Regisseurin Julia von Heinz („Ich bin dann mal weg“) verfilmte für den vierten Schwarzwald-„Tatort“ um das Ermittlungsduo Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) ein Drehbuch Magnus Vattrodts, das sich an den realen Fall der Ausreißerin Maria Henselmann anlehnt. Die 13-jährige Freiburger Schülerin war 2013 mit einem 40-Jährigen durchgebrannt und fünf Jahre später – nach Abschluss der Dreharbeiten – plötzlich wieder aufgetaucht. Das Ergebnis ist eine Melange aus Krimi, Beziehungsdrama und Road-Movie mit Coming-of-Age-Elementen, die im heißen Sommer 2018 gedreht und im März 2019 erstausgestrahlt wurde. Nach seinem krankheitsbedingten Ausfall im vorausgegangenen Schwarzwald-Fall war konnte Wagner nun wieder seine Rolle als Kommissar an Toblers Seite ausfüllen.

Emily Arnold (Meira Durand, „Hier kommt Lola!“) wird vermisst, seit sie vor zwei Jahren 13-jährig nicht von ihrem Job im Tierheim nach Hause gekommen ist. Ihre Mutter (Kim Riedle, „Back For Good“) glaubt jedoch, dass sie Emily vor ihrer Wohnung wiedergesehen habe und meldet dies sofort der Polizei. Berg hält die Mutter für unglaubwürdig und schickt Kollegin Tobler vor, die auf einer Überwachungskamera tatsächlich ein Mädchen erkennt, das Emily sein könnte. Tatsächlich war Emily kurz vor Ort, ist aber eigentlich mit dem mehr als 30 Jahre älteren Martin Nussbaum (Andreas Lust, „Wolfzeit“) unterwegs, mit dem sie vor zwei Jahren ihr Elternhaus verlassen hatte. Weitestmöglich müssen sich beide von der Öffentlichkeit abschotten, um nicht entdeckt zu werden. Emily scheint dieses Abenteuer, das sie so sehr einschränkt, langsam satt zu haben, Martin wiederum braucht dringend Geld und spielt seiner Mutter (Ursula Werner, „Bornholmer Straße“) dafür den sorgenden Sohn vor. Als ein junger Dieb die Scheibe seines Autos einschlägt und das Notebook stiehlt, verwickelt er ihn in einen Unfall, der für den Dieb tödlich endet – und Kommissar Berg auf den Plan ruft…

Benannt nach einem Rio-Reiser-Song illustriert Julia von Heinz‘ „Tatort“ in sonnendurchfluteten Bildern die ambivalente Beziehung zwischen einem pubertierenden Mädchen und einem wesentlich älteren, erwachsenen Mann – die schwer zu kriseln beginnt. Ist Emily im einen Moment noch die verliebte junge Frau, verfällt sie im nächsten in kindliche Verhaltensmuster, zum Missfallen ihres Partners mit Lolita-Komplex. Emilys Gründe, sich ihm anzuschließen und hinzugeben, bleiben diffus, vermutlich hat sie es in der familiären Enge zwischen mehreren Geschwistern und einer alleinerziehenden, evtl. überforderten Mutter nicht mehr ausgehalten und in Martin Vaterersatz, erfahrenen Freund und Abenteuer zugleich gefunden. Offensichtlich wird, dass er sich stärker sexuell zu ihr hingezogen fühlt als sie zu ihm, was ebenso Konfliktpotential birgt wie Emilys langsames Ausbrechen aus ihrem Gefängnis. Emily ist keine voll ausgereifte junge Frau, sondern ein halbes Kind, unentschlossen, wankelmütig, auch mal frech oder trotzig. Martin arbeitet hart daran, ihre Beziehung im Verborgenen aufrechtzuerhalten, erhält jedoch nicht immer die Gegenleistungen dafür, die er erwartet.

Seit sich Emily wieder näher an ihrem Heimatort befindet, scheint der Freiheitsdrang in ihr zu wachsen. Entgegen den Absprachen begibt sie sich unter andere Menschen, lernt dabei die gleichaltrige Tankstellenaushilfe Jona (Luisa-Céline Gaffron, „Looping“) kennen und hat viel Spaß dabei, sich einmal nach Herzenslust altersgerecht zu verhalten. Als Konstante im Leben bleibt ihr sonst nur ihr Hund Luno, was natürlich auf Dauer keine menschlichen Kontakte ersetzen kann. Martin reagiert wütend und zunehmend verzweifelt auf Emilys Flüggewerden, was in einer Gewalttat gipfelt. Damit verleiht ihm der Film gegen Ende soziopathische Züge, die das zuvor zur Disposition gestellte Gut-Böse-Schema dann doch wieder bedienen. Das ist etwas schade, denn spannender wäre es gewesen, hätte das Drehbuch die beiden sich zwar schmerzhaft, aber letztlich doch irgendwie einvernehmlich trennen lassen – diese Zuspitzung hätte es nämlich gar nicht gebraucht, um unbequeme Fragen nach der Grenzziehung zwischen Selbstverantwortung und Manipulation, Not und Ausbeutung, freiem Willen und sexuellem wie psychischem Missbrauch zu stellen.

Meira Durand war zum Drehzeitpunkt bereits volljährig, zeigt etwas nackte Haut, vor allem jedoch viel Gespür für ihre Rolle und scheint sich wohl darin zu fühlen, einmal die 15-jährige Lolita spielen zu dürfen. Von Heinz findet einen sensiblen Umgang mit dem Thema, verfällt nur selten in einfache Erklärungsmuster, beweist ein Auge für Bilder trügerischer Schönheit und ein Händchen für eine von Aufbruch und nahendem Ende zugleich und damit Melancholie geprägten Atmosphäre.

„Er hat wohl etwas anderes in mir gesehen als ich in ihm“, sagte Henselmann nach ihrer Rückkehr. Das trifft es ganz gut und ist die offensichtliche Quintessenz dieses ungewöhnlichen, weil ohne Mord, Whodunit? oder andere „Tatort“-typische Ingredienzien auskommenden Falls – denn ein vielleicht frühreifes, aber sich dennoch erst in ihrer Entwicklung zur erwachsenen Frau befindendes Mädchen dauerhaft an sich binden zu können, ist nun einmal nur sehr, sehr selten Männern möglich, die ihre Väter sein könnten – und das ist auch gut so. Weniger gut ist der Ausgang Toblers frisch diagnostizierter Schwangerschaft, die diesmal den Privatanteil auf Ermittlerseite abdeckt. Dafür erklingt Rio Reiser mehrmals auf der Tonspur und singt für uns und schreit für uns.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Do 14. Mär 2019, 17:40
von buxtebrawler
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Michael Jackson's Journey from Motown to Off the Wall

„Living off the wall…“

Star-Regisseur Spike Lee („Summer of Sam“) produzierte im Jahre 2016 den Musikdokumentarfilm „Michael Jackson's Journey from Motown to Off the Wall”, der sich dem künstlerischen Schaffen des King of Pop bis zu seinem Solo-Durchbruch mit dem Album „Off The Wall“ 1979 widmet.

Der Dokumentarfilm zeichnet Michael Jacksons Weg vom Motown-Plattenlabel mit den Jackson Five zum Wechsel zu Epic, der Umbenennung in The Jacksons und seiner Zusammenarbeit mit Produzentenlegende Quincy Jones, mit der er das wegweisende Album „Off The Wall“ aufnahm, nach. Selten gezeigtes Material aus Jacksons Privatarchiv wechseln sich ab mit Interviews mit Kollegen aus dem Musikgeschäft und Familienmitgliedern und vermitteln so einen Eindruck von Jacksons Werdegang vom Kinderstar zum musikalisch unabhängigen, individuellen und einflussreichen Megastar.

Für jeden Jackson-Fan oder -Interessierten ist Lees Film eine wahre Fundgrube an Bildern aus der Zeit vor Michaels auf ungeahnte Weise durchstartenden Solo-Karriere. Zudem geben sich hier neben Michaels Eltern und Geschwistern ehemalige Mitmusiker, aktuelle Künstler(innen), Songwriter, Produzenten (inkl. Quincy Jones) und Persönlichkeiten wie Stevie Wonder, John Leguizamo oder Lee Daniels die Klinke in die Hand und plaudern aus dem Nähkästchen. Lose chronologisch werden diverse wichtige Punkte in Michaels früher Karriere abgeklappert, inklusive seiner schauspielerischen Engagements. Anhand der Entwicklung vom Soul der Jackson 5 zum Disco-Sound der Jacksons begibt man sich auch auf eine Zeitreise in eine interessante, im Wandel begriffene Musik- und Popkultur-Ära, die Schwarz und Weiß zusammenführte. Viel Zeitkolorit und -geist schwingen da mit. Wenn man sich ungefähr ab der Hälfte konkret der Entstehung von „Off The Wall“ widmet, wird tatsächlich jeder einzelne Song unter die Lupe genommen (die Singles dabei ausführlicher), werden Hintergrundinformationen en masse geliefert – ein Dorado für jeden Fan des Albums! Der Film verdeutlicht, welch Befreiungsschlag dieses Album für Michael darstellte.

Eigentlich mag ich Disco gar nicht sonderlich, liebe aber „Off The Wall“. Ich habe mich öfter gefragt, woran das liegt. Eine große Rolle spielt sicherlich, dass das Album im Gegensatz zu vielen Disco-Produktionen von der Stange richtiggehend warm, organisch und authentisch klingt, viel mehr liefert als „nur“ die Musik. Laut Spikes Lees Dokumentarfilm handelt es sich um nicht weniger als das Disco-Album schlechthin, das das Genre erweiterte und voranbrachte, auf ein höheres Level hievte. Das Verständnis und Bewusstsein für diese musikalische Perle reift durch diesen Film und seine fundierte, intelligente Einordnung des Albums in den musik- und gesellschaftshistorischen Kontext im Allgemeinen – und in Michael Jacksons Biographie im Speziellen.

Auf Jacksons Tanzstil und seine Vorbilder wird ebenfalls eingegangen, über den Menschen Michael Jackson erfährt man jedoch lediglich zwischen den Bildern, Zeilen, Tönen etwas. Dies wird Absicht gewesen sein, da sich Michael nun einmal hauptsächlich über seine Musik ausdrückte. Das ist ein schönes Beispiel für einen respektvollen Umgang mit dem Künstler und seinem Werk. Leider wird unterdessen keine einzige Stimme laut, die sich kritisch mit Michaels Singen sexualisierter Texte bereits im Kindesalter auseinandersetzt. Auch der immense Druck, der zeitlebens – ebenfalls bereits als Kind – auf Michael lastete, bleibt leider unerwähnt, und damit auch seine zerstörte Kindheit, die die Weichen für manch wenig nachvollziehbare Irrwege im Erwachsenenalter gestellt haben dürften. Insbesondere die Jackson-Five-Aufnahmen unbeschwert als Unterhaltungsmusik zu konsumieren, fällt vor diesem Hintergrund nicht immer leicht. An den Qualitäten von „Off The Wall“ ändert dies indes nichts, dank dieses Films macht das Album sogar noch mehr Spaß.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mo 18. Mär 2019, 16:46
von buxtebrawler
Tatort: Der König der Gosse

„Früher wurde hier verstaatlicht, was eigentlich privat war. Heute wird privatisiert, was eigentlich staatlich ist.“

Der zweite Dresdner „Tatort“ mit Alwara Höfels und Karin Hanczewski als Oberkommissarinnen Henni Sieland und Karin Gorniak und somit erstes rein weibliches Ermittlerduo der Reihe datiert wie der Vorgänger aufs Jahr 2016. Die Regie führte diesmal Dror Zahavi („Zivilcourage“), der bereits einige weitere Fälle der öffentlich-rechtlichen Krimiserie inszeniert hatte. Das Drehbuch stammt erneut von „Stromberg“-Autor Ralf Husmann, der diesmal mit seinem Kollegen Mika Kallwass als Co-Autor zusammenarbeitete.

Hans Martin Taubert (Michael Sideris, „Samba in Mettmann“) verdient sein Geld mit Unterkünften für Obdachlose, Flüchtlinge und andere Hilfsbedürftige, wird nach einem Sturz von einer Brücke jedoch mehr tot als lebendig ins Krankenhaus eingeliefert. Die drei Obdachlosen Hansi (Arved Birnbaum, „Der Zimmerspringbrunnen“), Platte (David Bredin, „Jürgen – Heute wird gelebt“) und Eumel (Alexander Hörbe, „Kleinruppin Forever“) verständigen die Polizei und stellen sich als Zeugen zur Verfügung: Es handele sich um einen Mordanschlag. Doch wie vertrauenswürdig ist das Trio, das sich als Tauberts Security ausgibt und von ihm offenbar kurz vor dem Sturz in ein nobles italienisches Restaurant eingeladen worden war? Die Kommissarinnen ermitteln, dass Taubert offenbar vielen Dresdnern ein Dorn im Auge ist, seit er mit seinem Sozialunternehmen eine gute Stange Geld gemacht hat. Ihr Vorgesetzter Schnabel (Martin Brambach) trifft auf Tauberts Bruder Hajo (Urs Jucker, „Vitus“), der Schulden bei seinem Bruder hat. Nachdem ein weiterer Mordanschlag auf Taubert im Krankenhaus tödlich endet, gerät auch Gerald Schleibusch (Stephan Baumecker, „Am Ende kommt die Wende“), der ebenfalls profitorientiert mit Obdachlosen arbeitet, ins Visier der Kripo. Dass sich Wiebke Lohkamp (Jule Böwe, „Katze im Sack“) vom Betrugsdezernat in die Ermittlungen einmischt, stößt derweil nicht auf Gegenliebe bei Sieland und Gorniak…

Bereits für diesen zweiten Fall des Dresdner Damen-Duos schraubte man den Humoranteil stark zurück, was der Handlung grundsätzlich erst einmal guttut. Für manch Spaß müssen allerdings von vornherein die Obdachlosen, bis auf abgeranzte Klamotten und leichten Hang zum Alkabusus anscheinend so etwas wie die kultivierte Elite ihrer „Zunft“, herhalten, was spätestens dann etwas Bauchschmerzen bereitet, wenn Schnabel die sich mit dem Trio solidarisierenden und auf den Gängen der Wache ausharrenden Tippelbruderkollegen mit Bestechungssummen von 5,- EUR wieder loswird. Letztlich fällt dabei vermutlich lediglich eine unangebrachte Idealisierung traurigem Realismus zum Opfer. Dass Idealisierung nicht das Thema dieses „Tatorts“ ist, unterstreicht auch die ambivalente Charakterisierung des Opfers, das zwar „immer korrekt“ zu seiner Klientel gewesen sein soll und sich seiner Lumpen-Leibwache gegenüber großzügig zeigte, ansonsten aber anscheinend eher ein protziges Dasein führte – wie zumindest angedeutet wird. Subtiler Witz wiederum ergibt sich aus Schnabels Versuchen, bei Wiebke Lohkamp zu landen, und den Reaktionen seiner Mordkommissions-Beamtinnen auf dieses Unterfangen. Die eine oder andere Dialogzeile, die Versuche der politisch Rechten aufgreift, Obdachlose gegen Flüchtlinge auszuspielen, stellt konkreten Gegenwartsbezug her, während das Thema der Notwendigkeit von Sozialunterkünften nicht neu, sondern seit jeher mit der Geschichte der Bundesrepublik verknüpft ist.

Privat haben die Ermittlerinnen weiterhin so ihre Probleme: Gorniaks Sohn Aaron (Alessandro Emanuel Schuster) schlägt etwas aus der Art und sorgt für Chaos sowie eine Vorführung – ausgerechnet – auf der Wache, nachdem er beim Ladendiebstahl erwischt wurde – was das Drehbuch zum Anlass nimmt, Kritik an Klüngelei und Ungleichbehandlung bei der Polizei zu üben. Zwischen Sieland und ihrem Ole (Franz Hartwig, „Männerherzen... und die ganz ganz große Liebe“) kriselt’s, man lebt zunehmend aneinander vorbei. Die Traurigkeit, die diesen Szenen immanent ist, machen sie fast interessanter als den eigentlichen Fall, der recht undurchsichtig aufbereitet wird, um letzten Endes dann doch überraschend simpel gelöst zu werden. Aus seinem thematischen Sujet um Profit aus Elend, Vertreibung, windigen Inkasso-Unternehmen etc. hätte man mehr machen können und die daraus ersichtlich werdenden Missstände lautstarker anprangern sollen. Stattdessen tritt man immer wieder auf der Stelle und sorgt so für manch unnötige Länge. Interessant ist jedoch das Motiv der Dualität, das immer wieder in Erscheinung tritt: Aussagen werden durch Schwarzweiß-Rückblenden illustriert, meist in zwei verschiedenen Versionen. „Sozialunternehmer“ gibt es zwei an der Zahl und auch die Dialoge der Kommissarinnen über ihr Privatleben zeichnen eine zweite, fiktive Sicht der Realität.

Fazit: „Der König der Gosse“ ist ein überdurchschnittlicher „Tatort“ und recht gelungene Markierung auf dem Weg zu späterer Dresdner Stärke, hat jedoch noch mit Kinderkrankheit wie dem Ringen um einen den Sequenzen jeweils angemessenen Ton, dem Finden eines mitreißenden Tempos und der Etablierung erzählerischer Finesse mit Subtext zu kämpfen.

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Di 19. Mär 2019, 17:35
von buxtebrawler
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Erich Mielke - Meister der Angst

Erich Mielke (1907-2000) war der Minister für Staatssicherheit der DDR. Nach deren Untergang kam er in der JVA Berlin-Moabit in Untersuchungshaft und wurde 1993 für den Mord an zwei Polizisten im Jahre 1931 zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Jens Beckers und Maarten van der Duins Dokudrama aus dem Jahre 2015 setzt sich mit Mielkes Biographie, seiner Geisteshaltung und seinem Aufenthalt in der Untersuchungshaft auseinander und vermischt dabei genregemäß authentisches Material mit Spielfilmszenen.

1991 wird Mielke (Kaspar Eichel, „Die Weihnachtsklempner“) der Psychologin Anna-Luise Brand (Beate Laaß) zugeführt, die feststellen soll, ob der alte Mann verhandlungsfähig ist. Sie konfrontiert den ehemaligen Stasi-Leiter mit Gesprächsprotokollen und geht Station für Station sein Leben von seiner Kindheit im Berliner Wedding an mit ihm durch. Es gelingt ihr, Mielkes anfängliche Verweigerungshaltung zu durchbrechen. Er bezieht Stellung und schilderte seine Motivation.

Mielke als sich unangenehmen Befragungen ausgesetzt sehender U-Haft-Rentner mit Hut, Stock und dicker Brille – besserwisserisch, uneinsichtig und überheblich. So gibt Eichel den ehemaligen Hauptverantwortlichen für die flächendeckende Bespitzelung der eigenen Bevölkerung, mittels derer ein Klima permanenten unterschwelligen Misstrauens geschürt wurde, mit dem die DDR-Bevölkerung sich arrangieren musste – oder das sie selbst in Schwierigkeiten brachte, fiel sie als zu subversiv oder kritisch auf. Der Innengeheimdienst der DDR zählt zum Beschämendsten, was sie hervorgebracht hatte. In ausufernder und selbst durchs Politbüro offenbar unkontrollierter sowie demokratisch nie legitimierter Weise wurden gigantische Aktenberge durch einen mächtigen, kafkaesken Bürokratieapparat angehäuft, die das Leben der Bevölkerung dokumentierten.

Dokumentiert wird hier wiederum Mielkes Werdegang anhand von alten Bewegtbildern und Fotografien, Tonmitschnitten, Akteneinblicken und Interviews ehemaliger Weggefährten wie seinen Anwälten Stefan König und Hubert Dreyling, Historiker Nikita Petrow sowie JVA-Leiter Wolfgang Fixson. Das ist hochinteressanter Stoff, der Mielke als erbitterten Klassenkämpfer und Anti-Kapitalisten zeigt, aber auch als Zyniker entlarvt, dem moralische Skrupel fehlen, sobald seines Erachtens der Zweck die Mittel heiligt. Möglicherweise hilft dieses Material, halbwegs nachvollziehen zu können, was Mielke an- und umtrieb – umso deutlicher wird, wie giftig es für ein Staatsgefüge auf Dauer ist, vermutlich traumatisierte Kriegsgenerationsangehörende, die Starrköpfigkeit und Kontrollzwang entwickeln und den Bezug zur Realität sowie jegliches Augenmaß verlieren, sich über Jahrzehnte an die Macht klammern zu lassen, statt sie demokratischen Prozessen auszusetzen.

Fragwürdig sind hingegen die Spielfilmszenen. Zum einen wird nicht deutlich, auf welcher Grundlage diese beruhen – Fantasie der Autoren oder tatsächlichen Überlieferungen? –, und zum anderen dramatisieren sie unnötig, was eigentlich bereits spannend und interessant genug ist. Diese Sequenzen sind sehr mit Vorsicht zu genießen, wie das ganze Dokudrama-Genre an sich. Allen schauspielerischen Qualitäten Kaspar Eichels zum Trotz wäre eine seriöse Dokumentation sicherlich angebrachter gewesen, gern auch mit Stimmen ehemaliger Parteigenossen(innen) wie Egon Krenz und Hans Modrow oder sich kritisch, jedoch nicht von vornherein delegitimierend mit der DDR auseinandersetzenden Historiker(inne)n.

Der DDR-Stasi konnte man sich erfolgreich entledigen. Die BRD-Stasi gliedert sich in verschiedene Behörden wie den von Rechtsextemisten unterwanderten Verfassungsschutz, die immer wieder für Skandale gute ehemalige Nazi-Institution BND und andere kriminelle Organisationen, die ebenso auf den Misthaufen der Geschichte gehören. Packen wir’s an!

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Verfasst: Mi 20. Mär 2019, 18:14
von buxtebrawler
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Il corpo

„Du kannst ja sprechen! Das ist überraschend... Und du kannst sogar lächeln!“ – „Ja, und ich kann auch noch mehr!“

Der italienische Regisseur Luigi Scattini scheint sich mit diversen Sex-Mondos vornehmlich im Schmuddelbereich bewegt zu haben, bevor er 1974 das Erotikdrama „Il corpo“ inszenierte, das, ähnlich der „Black Emanuelle“-Reihe, neben Erotik auf Exotik setzt.

„Er hat aus mir eine Hure gemacht!“

Antoine (Enrico Maria Salerno, „Das Syndikat“) kam einst mit seiner Frau Madeleine (Carroll Baker, „Der schöne Körper der Deborah“) nach Trinidad, um sich dort selbständig zu machen. Mittlerweile aber arbeitet Madeleine in einer Dorfkneipe, während Antoine eine Bootsvermietung betreibt und ansonsten die Zurückgezogenheit bevorzugt. Er lebt zusammen mit einer jungen, hübschen Einheimischen (Zeudi Araya, „Leichen muss man feiern, wie sie fallen“), die er Prinzessin nennt und Sklavin und Geliebte des Trinkers zugleich ist. Als ihn zwei Kriminelle überfallen und zusammenschlagen, eilt ihm der Jüngling Alan (Leonard Mann, „Terror Eyes - Der Frauenköpfer“) zur Hilfe. Antoine bietet ihm daraufhin einen Job an, fortan arbeiten beide Männer zusammen. Als er und Prinzessin sich ineinander verlieben, planen sie, wie sie Antoine loswerden können…

„Il corpo“ braucht so seine Zeit, um in Wallung zu kommen. Prinzessin ist überaus schweigsam, bis sie Alan endlich am Strand anspricht. Sie becirct ihn und wirft sich mitsamt Kleidung ins Wasser. Piero Umiliani sorgt für einlullendes Südsee-Gitarrengeklimper mit Hula-Gesängen (oder so) auf der Tonspur, die im Kontrast zu Antoines Handeln steht, der in der exotischen Idylle nicht nur aufgrund seiner Herkunft wie ein Fremdkörper wirkt: Er betrinkt sich und vergewaltigt Prinzessin, was Scattini visuell bei Andeutungen belässt. 25 Minuten vergehen, bis Prinzessin sich einmal nackt am Strand zeigt. Alan folgt ihr, man kommt sich näher und knutscht, die verhängnisvolle Affäre nimmt ihren Lauf. Prinzessin erweist sich als überraschend verschlagen, als sie ihre Chance wittert, Antoine loszuwerden. Sie gibt sich Alan gegenüber widerspenstig und stachelt ihn gegen Antoine auf – sie will, dass er ihn tötet. Sie erpresst Alan gewissermaßen mit den Waffen einer Frau. Im Anschluss gibt es Softsex-Szenen sowohl zwischen Prinzessin und Alan als auch zwischen ihr und Antoine zu sehen, letztere beobachtet von Alan.

Prinzessin besorgt ihrem Liebhaber einen Revolver, während irgendwelche Diebe in schöner Regelmäßigkeit versuchen, Antoines Boote zu stehlen – eine Art unlustiger Running Gag. Dorfwirtin Madeleine jedoch setzt ihrem Verflossenen den richten Floh ins Ohr. Der Film gewinnt – man möchte sagen: endlich – an Spannung, die Figuren gewinnen etwas an Tiefe und Ambivalenz. So tut sich Alan schwer, Antoine zu erschießen. Etwas Dramatik bringt zwischenzeitlich das Trinkspiel zu dritt, bei dem man die Wahrheit sagen muss – und diese auch ausgesprochen wird. Als man eine Party feiert und mit dem Boot rausfährt, droht die Situation zu eskalieren – doch nachdem Antoine Alan mit einem Revolver bedroht hat, fällt er selbst ins Wasser. Es stellt sich heraus, dass sich im Revolver gar keine Patronen befanden… Eine weitere Interessenpartei kommt nach Antoines Ertrinken in Person Madeleines ins Spiel, die weiß, was passiert ist. Sie will Antoines Erbe, was Alan hellhörig werden lässt, denn von diesem hört er zum ersten Mal. Madeleine will sich nun mit Alan verschwören, um Prinzessin die Schuld zuzuschieben und das Erbe mit ihm zu teilen. Alan und Prinzessin wollen trotzdem gemeinsam das Weite suchen, sich am besten mit Antoines Geld nach London absetzen. Doch Madeleine ist ihnen auf den Fersen. Als Alain die Nerven verliert, überschlagen sich die Ereignisse endgültig und münden in ein tragisches Finale, bei dessen Pointe man das Karma leise lachen hört.

„Il corpo“ ist ein gemächlich und über weite Strecken sehr vorhersehbar und geradlinig erzähltes Erotikdrama, das dafür, was es zu sein vorgibt, relativ wenig Erotik bietet. Zeudi Araya als eine Art Laura-Gemser-Verschnitt hatte zuvor bereits zweimal für Scattini vor der Kamera gestanden und ist zweifelsohne ein Hingucker, kann den Erotikanteil des Films jedoch nicht allein stemmen. Das ganze überschaubare, jedoch durchaus namhafte Ensemble wirkt irgendwie seltsam gehemmt. Nicht jede Interaktion der Figuren miteinander würde die berühmte Goldwaage bestehen, die Niedertracht jedoch zieht sich gialloesk durch alle Charaktere. Ein paar Fernweh weckende Naturaufnahmen kontrastieren die wacklige, ruckelnde Kamera, die in vielen Szenen stört und Kopfschmerzen bereitet. Eine gewisse sehnsüchtige Melancholie kann man dem Film nicht absprechen, der weniger sexploitativ, aber auch weniger leidenschaftlich als erwartet ausgefallen ist und insgesamt hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.