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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Fr 8. Feb 2019, 14:03
von buxtebrawler
Tatort: Alles was Sie sagen
„Ich scheiß‘ auf Regeln!“
Fall zehn für den Hamburger Bundesbullen Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring), der vierte gemeinsame Fall mit seiner neuen Partnerin Julia Grosz (Franziska Weisz): Der „Tatort: Alles was Sie sagen“ aus dem Jahre 2018 wurde vom Hamburger Regisseur Özgür Yildirim („Blutzbrüdaz“) inszeniert, der damit bereits seinen dritten „Falke“ beisteuerte – und zwar nach einem gewitzten, wendungsreichen Drehbuch Arne Noltings und Jan Martin Scharfs.
Die Fahndung nach dem anerkannten Flüchtling, jedoch auch mutmaßlichen Kriegsverbrecher Abbas Khaled (Youssef Maghrebi) führt die Bundespolizisten Falke und Grosz ins niedersächsische Lüneburg und endet mit dem Tod Khaleds Schwester Alima (Sabrina Amali, „Brüder“) in einem leerstehenden Fabrikgebäude. Da der dringende Verdacht besteht, die tödliche Kugel sei aus Falkes Waffe abgefeuert worden, müssen er und seine Kollegin sich getrennt voneinander vor dem internen Ermittler Joachim Rehberg (Jörn Knebel, „Frauen lügen besser“) verantworten. Dabei widersprechen sich die Angaben, die die beiden zu diesem Fall machen, in dem es neben dem bestens integrierten Libanesen, der sich in Stefan Hansens (Moritz Grove, „Krabat“) Flüchtlingsunterrichtsklasse einbrachte, auch um die örtliche organisierte Drogenkriminalität um Clan-Boss Ibrahim Al-Shabaan (Marwan Moussa) geht. Ihm war die Lüneburger Polizei um Einsatzleiter Junker (Gerdy Zint, „Als wir träumten“) schon seit längerem auf der Schliche – entsprechend konsterniert reagierte dieser, als ihm die Hamburger Bundespolizei dazwischenfunkte…
Mit der Flüchtlingsthematik greift dieser „Tatort“ ein noch immer aktuelles Thema auf, das tief in politischen und gesellschaftlichen Debatten verankert ist – u.a. mit der Angst vor Pseudoflüchtlingen, die in ihrer Heimat (oder angrenzend) mitverantwortlich für das Grauen waren, vor dem die Menschen flohen, und die nun möglicherweise auch hierzulande Terror und Verderben planen. In diesem Falle erhärtet sich der Verdacht jedoch nicht, Abbas Khaled stellt sich als unschuldig heraus. Doch damit nicht genug, er entpuppt sich darüber hinaus sogar als Homosexueller, der heimlich mit seinem Lehrer liiert ist – und den die örtliche Drogenmafia auf dem Kieker hat. Hier beschleicht einen das Gefühl, dass es mit den Drehbuchautoren einmal mehr durchging und das einzelne Minderheiten-Stigma des Flüchtlings nicht ausreichte, sondern man unbedingt noch einen draufsetzen musste. Das erscheint mir dann doch etwas arg konstruiert und zu viel des Guten, weniger wäre vermutlich mehr gewesen.
Seinen besonderen Reiz bezieht dieser „Tatort“ aus seiner Erzählweise: dem nach dem rätselhaften Prolog fortwährenden Wechselspiel aus in Rückblenden aus unterschiedlicher Perspektive aufgerolltem Fall und den Vernehmungen durch Rehberg. Was kompliziert klingt, wurde von Regisseur Yildirim clever gelöst; statt Verwirrung zu stiften erzeugt er Spannung, sodass man der Auflösung entgegenfiebert. Hat Falke diesmal tatsächlich unentschuldbare Fehler begangen? Angereichert wird die Handlung von etwas Folklore um die schwierige Dienstbeziehung zwischen Falke und Grosz, um alte Bekannt- bzw. Liebschaften Grosz‘ und um der Korruption und Sabotage verdächtige Lüneburger Kollegen – bis hin zum respektlosen Drogen-Clan, der über dem Gesetz zu stehen glaubt.
Diesem Beitrag zur TV-Krimireihe gelingt es wie keinem zuvor, Franziska Weisz in ihrer Rolle als Julia Grosz in Szene zu setzen, die neben weiteren Puzzlestücken zu ihrer Biographie ihren Charakter weiter ausarbeiten und in durchaus auch emotionalen Kontrast zu Falke setzen kann, was zu diversen Konfliktsituationen führt. Yildirim fand eine tolle Bildsprache für seinen „Tatort“, wer auch immer für den Soundtrack verantwortlich zeichnet, bewies Musikgeschmack (The Clash – Guns of Brixton), und das inhaltliche Niveau der intelligenten Sequenzmontagen ist im deutschen Fernsehen nicht selbstverständlich. Vom überzeichneten ursprünglich Verdächtigen einmal abgesehen ein im positiven Sinne ungewöhnlicher, sehr gelungener „Tatort“, der neugierig auf die weitere Entwicklung dieses Ermittlungsduos und auf weitere Filme Yildirims macht.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 12. Feb 2019, 18:29
von buxtebrawler
Tatort: KI
„Warum, bitte, sollte eine Maschine denn lügen?“
Buzzwords wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind in aller Munde – und diese Themen haben auch in der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-TV-Krimireihe Einzug gehalten. Ausgerechnet die Silver-Surfer-Fraktion in den Personen der Münchener Dauerkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) werden nun nach den Berliner, Saarbrücker und Bremer Kolleginnen und Kollegen ebenfalls mit dieser neumodischen Technik konfrontiert. Verantwortlich dafür zeichnen die Drehbuchautoren Stefan Holtz und Florian Iwersen, für die Regie konnte man „Tatort“-Ausnahmeregisseur Sebastian Marka („Tatort: Es lebe der Tod“, „Tatort: Meta“) gewinnen. Die Erstausstrahlung erfolgte am 21. Oktober 2018, Besucher des Internationalen Filmfests Emden-Norderney kamen bereits am 9. Juni 2018 in den Genuss.
„Wir müssen mit Maria reden!“
Die 14-jährige Melanie Degner (Katharina Stark, „Der Staatsfeind“) verschwindet spurlos, ihre in Scheidung lebenden Eltern Robert (Dirk Borchardt, „Der Felsen“) und Brigitte (Lisa Martinek, „Das Duo“) sind verzweifelt. Da Batic Robert von Berufs wegen her kennt – er ist ein Kollege vom Sittendezernat –, nimmt er zusammen mit Leitmayr die Ermittlungen auf. Auf Melanies Notebook befindet sich ein KI-Chatbot, der sich Maria nennt. Hat er etwas mit Melanies Verschwinden zu tun? Im Garsinger Leibniz-Rechenzentrum stellt sich heraus, dass es sich bei Maria um eine Weiterentwicklung des eigenen Programms „Exmap“ handelt, basierend auf gestohlenem „Exmap“-Quelltext. Jungprogrammiererin Anna Velot (Janina Fautz, „1000 Arten Regen zu beschreiben“) zeigt sich fasziniert davon, dass „Exmap“ die Möglichkeit erhält, in Alltagssituationen mit Menschen zu kommunizieren und dadurch dazuzulernen, statt lediglich unter den strengen Richtlinien ihres Vorgesetzten Bernd Fehling (Florian Panzner, „Kleinruppin Forever“) durch speziell geschulte Probanden gemächlich mit Informationen gefüttert zu werden. Doch wie kommt Maria auf Melanies Notebook? Christian Wilmots (Thorsten Merten, „Bornholmer Straße“) arbeitet vor Ort als IT-Techniker, begeht jedoch Suizid, als die Polizei ihm auf die Schliche kommt. Wurde Melanie möglicherweise Opfer eines Sexualstraftäters? Plötzlich kommt Chatbot Maria für die Polizei als mögliche „Zeugin“ infrage…
Nur sehr bedingt bezieht dieser „Tatort“ etwaige Komik aus dem Umstand, dass die Welt moderner Technologie den nicht mehr ganz frischen Ermittlern fremd sein könnte – glücklicherweise, denn das wäre doch arg ausgelutscht. Stattdessen verhandelt „KI“ die sowohl pragmatische als auch moralische Frage nach technisch Machbarem auf der einen und dem verantwortungsvollen Umgang mit diesen Möglichkeiten auf der anderen Seite. Nicht von ungefähr erinnert der Chatbot an Cortana, Alexa und Co., die von so vielen Menschen reichlich blauäugig eingesetzt und denen intimste Informationen anvertraut werden. Diese Informationen wollen die Ermittler schließlich als Chance begreifen und nutzen, um Julias Verschwinden und Tod auf die Spur zu kommen. Als dank Maria der Hauptverdacht auf einen kürzlich aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter (Michael Stange, „Quellen des Lebens“) fällt, scheint sich „KI“ zu einem indirekten Plädoyer für die dauerhafte Sicherheitsverwahrung von Vergewaltigern zu entwickeln.
Der Weg dorthin weiß aufgrund der Bildästhetik zu gefallen. Der stilsicheren Ausstattung, der Kamera, der man gern folgt, und dem zeitgenössischen Thema gelingt es dann auch beinahe, davon abzulenken, wie wenig es Melanies Leben aus dem Hintergrund, der reinen Funktion als Aufhänger, herausschafft. Wer war Melanie, was genau stellte sie mit oder dank Maria an, welche Sorgen und Nöte quälten das Mädchen? All dies bleibt derart diffus, als sei es uninteressant oder als sei mit der dysfunktionalen Beziehung ihrer Eltern bereits alles erklärt. Das ist schade, zumal auch eine Nebenrolle wie Wilmots genauso schnell abgehakt wird und verschwindet, wie sie Einzug in die Handlung und damit ins Zuschauerinteresse hielt. Auch mit der Charakterisierung Anna Velots tat man sich offenbar schwer, statt Tiefgang stattete man sie mit nerdigen, nassforschen Allgemeinplätzen aus, obwohl ihre Rolle so viel mehr Potential geboten hätte.
Eiskalt erwischt hat mich dieser „Tatort“, über dessen Finale ich hier eigentlich nicht zu viel verraten möchte, mit seiner Wendung gegen Ende (Spoiler-Alarm!): Die Rolle des Sexualstraftäters wird infrage gestellt, es offenbart sich eine ausgemachte Familientragödie – visualisiert in beklemmenden Rückblenden. Nachdem „KI“ bereits grundlegende Fragen nach der moralischen Rechtfertigung von Rache gestellt hatte, wird das unbedarfte Publikum mit einem weiteren Grundsatz konfrontiert: dem des blinden Vertrauens. Obschon man die Hacking-Fähigkeiten der „Exmap“-Entwicklerin durch ihre Spear- Phishing-Attacke auf einen jungen Mitarbeiter der Polizei bereits kennengelernt hatte, erwischt man sich dabei, der künstlichen Intelligenz geglaubt zu haben, ihr vielmehr noch sogar glauben hatte wollen – denn weshalb sollte eine Maschine lügen? Das besiegelte nicht nur einen weiteren Todesfall, sondern ist ein Schlag ins Gesicht des Publikums. So verärgert ich zunächst ob dieser Wendung reagiert habe, als so genial empfinde ich sie im Nachhinein, hält sie einem doch den Spiegel vors Gesicht und warnt eindringlich vor den Manipulationsmöglichkeiten nicht nur von Software, sondern auch von Menschen – von seiner selbst. „KI“ ist all seinen Schwächen zum Trotz faszinierender Technik-Einblick und Abgesang auf zu viel Vertrauen in künstliche Intelligenzen zugleich. Wer ernsthaft plant, eine Software existenzielle Entscheidungen zu überantworten (wie es angesichts manch Aktivität ausländischer Regierungen bereits keine Dystopie mehr ist), sollte einen Film wie diesen gesehen haben. 6,5 von 10 kompromittierten Dateianhängen dafür.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Mi 13. Feb 2019, 17:46
von buxtebrawler

Terrorgruppe - Sündige Säuglinge hinter Klostermauern …zur Lust verdammt
„Großer Parteitag, Reden zum Gähnen / Deshalb fließt das Bier in Strömen / Dann nach Haus im neuen Wagen / Landet man im Straßengraben / Keine Airbags für die CSU / Und FDP und CDU / Auch die SPD dazu / Keine Airbags für die CSU!“
Die TERRORGRUPPE trat Mitte der ‘90er u.a. auf den Plan, um der grassierenden Humorlosigkeit und politischen Korrektheit insbesondere der Hardcore-Szene etwas entgegenzusetzen. Obwohl die Gründungsmitglieder Archi „MC“ Motherfucker und Johnny Bottrop aus Bands wie INFERNO und HOSTAGES OF AYATOLLAH und somit selbst aus der HC-Punkszene stammten, verschrieben sie sich einem melodischeren, eingängigerem Stil, der starke Einflüsse des Orange-County-Punks aufwies – damals fast so etwas wie ein Novum unter deutschsprachigen Bands.
Sie konnten durchaus guten Gewissens als „Funpunk“ bezeichnet werden – jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, nicht wie andere Bands dieses Bereichs sinnentleerte, auf ein jugendliches
Mainstream-Publikum hin ausgerichtete inhaltsarme Songtexte zu verarbeiten, sondern verstärkt relevante Themen mittels Sarkasmus, Ironie und gespieltem Zynismus aufzubereiten und zu provokanten Songs zu formen, gepaart mit in Teilen der damaligen HC-Szene verpönten Themen wie Alkohol-/Drogenkonsum, Hedonismus und Sexualität. Die Band selbst bevorzuge allerdings die Bezeichnung „Aggropop“, womit man sich bereits ein Stück weit der Punk-Polizei zu entziehen versuchte. Die ersten Alben und 7-Zöller sind zu absoluten Klassikern des Genres gereift, die Konzerte waren anarchische Punk-Partys und die extrem humorvolle, selbstironische Band für jeden Unfug zu haben, ohne auch nur ansatzweise in Richtung Ballermann-Publikum zu schielen. In guter Erinnerung sind auch die zahlreichen TV-Auftritte der Band, u.a. in diversen Ausgaben unsäglicher Nachmittags-Talkshows, in denen sich seinerzeit auch gern andere Punkbands oder deren Mitglieder tummelten. So wie die Privatsender ihre skurrilen Gäste zum Quotemachen nutzten, so nutzten die Bands wiederum dieses Medium, um die jeweiligen Formate zu verarschen und/oder Nachwuchs für die Szene zu rekrutieren und damit das Land zu verderben. All das waren echte Lichtblicke in den düsteren 1990ern, die mit dazu beitrugen, dass auch ich mich der Szene anschloss.
Als die TERRORGRUPPE 1998 mit dem „Keiner hilft euch“-Album dann doch versuchte, sich größere Publikumskreise zu erspielen und dafür ihren Sound anpasste, hatte ich den Eindruck, dass man dann doch zu glatt geworden sei und verlor die Band aus den Augen – zumal sie ihre Wirkung als eine von vielen Einstiegsdrogen getan hatte und ich längst tiefer im Untergrund wühlte. Mit ihrem gelungenen Beitrag zum (sehr geilen) Soundtrack des (grottenschlechten) Films „Oi! Warning“ nahm ich sie noch einmal positiv wahr, bevor sie sich 2005 auflöste (um sich 2013 neu zu formieren).
Ein Mammutprojekt war der Dokumentarfilm „Sündige Säuglinge hinter Klostermauern …zur Lust verdammt“ der Regisseurin Nanny Karius, dessen Titel eine Anlehnung an reißerische alte Exploitation-Filmtitel ist und anscheinend mehrere Jahre Arbeit in Anspruch nahm, bevor er 2013 noch vor der Reunion in DVD-Form veröffentlicht wurde. Er dröselt rund zwei Stunden lang streng chronologisch die Band-Geschichte auf und vermengt historische Aufnahmen unterschiedlicher Quellen (Privat- und Amateuraufnahmen, TV) mit Interviews/Statements aktueller und ehemaliger Bandmitglieder sowie unterschiedlicher zeitweiliger Weggefährten der Band wie den BEATSTEAKS, MUFF POTTER, RADIO DEAD ONES oder auch Karl Nagel, Wolfgang Wendland und Bela B. Zwar führt eine
Off-Sprecherin durch den Film, vor allem aber hangelt man sich von Anekdote zu Anekdote, wobei gilt, je absurder oder bizarrer, desto relevanter. Und das ist auch gut so, denn das Letzte, was zur TERRORGRUPPE gepasst hätte, wäre eine staubtrockene Bandbiographie.
Die TERRORGRUPPE stand für den nichts und niemanden und am wenigsten sich selbst erstnehmenden, rotzfrechen Teil der Punkszene, half bei ihrer Verjüngung, verhob sich irgendwann etwas am Ausflug in kommerziellere Gefilde – und macht immer noch Spaß. Ihre alten Songs avancierten zu Evergreens, damals Überhörtes bietet Entdeckungspotential. So wenig ich einst mit einer Nummer wie „Neulich Nacht“ anfangen konnte, so sehr muss ich heute über sie schmunzeln. Dank Bands wie TERRORGRUPPE und ihrem damaligen Semi-Erfolg fand der Spaß in großen Anteilen in die Szene zurück und durfte man mitunter das Gefühl haben, tatsächlich noch mal ein bisschen so etwas wie einer Bewegung anzugehören. Dieses Gefühl fängt „Sündige Säuglinge hinter Klostermauern …zur Lust verdammt“ bestens an, zeigt aber auch, woran sich die Geister damals (wie heute) schieden und woran es der Band mangelt(e). Wer mit der teilweise clownesken Sunnyboy-Attitüde nichts anzufangen wusste, war bei den Berlinern dann doch eher falsch und sah sich anderweitig um. Ich für meinen Teil feiere Songs wie „Keine Airbags für die CSU“, „Gestorben auf dem Weg zur Arbeit“, „Sabine“ oder „Schöner Strand“, nicht zu vergessen die Chaostage-’95-Hymne „Wochenendticket“ bis heute.
Bonusmaterial gibt’s übrigens auch noch en masse in Form von Live-Videos unterschiedlichster Qualität und einer Audio-CD mit rarem Songmaterial. Schöner, kurzweiliger und extrem unterhaltsamer D-Punk-Geschichtsunterricht!
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Do 14. Feb 2019, 19:32
von buxtebrawler

Der Formel Eins Film
„Ich arbeite jetzt bei Formel Eins!“ – „Bist du verrückt?! Das ist doch viel zu gefährlich!“
Nach seinen Punk-Spielfilmen und -Dokus widmete sich der deutsche Regisseur Wolfgang Büld 1983 der
Neuen deutschen Welle in Form des Nena-und-Markus-Vehikels „Gib Gas, ich will Spaß“ und tauchte 1985 mit dem auf dem gleichnamigen Musik-TV-Format beruhenden „Der Formel Eins Film“ endgültig in den musikalischen
Mainstream ein.
Kfz-Mechanikerin Tina (Sissy Kelling, „Blam!“) ist jung, gutaussehend und hat einen Traum: Sie möchte Pop-Sängerin werden. Ihr Demo-Tape Entscheidungsträgern im Musikgeschäfts zuzuspielen gestaltet sich jedoch alles andere als einfach. Als sie es bei der bekannten, von Ingolf Lück moderierten Musiksendung „Formel Eins“ versucht, wird sie immerhin vom Fleck weg zur Betreuung der prominenten Gäste eingestellt. Sie wittert ihre große Chance und lässt sich auf den Job ein, durch den sie Bekanntschaft mit Stars und Sternchen wie Falco, Meat Loaf, Pia Zadora und Limahl macht. Sie verliebt sich in Produktionsassistent Stevie (Frank Meyer-Brockmann, „Die Küken kommen“) und er sich in sie, doch wird er plötzlich zur Bundeswehr eingezogen. In seiner Eifersucht glaubt Stevie, dass Sänger Limahl versuche, ihm Tina auszuspannen. Wütend desertiert er und kehrt ins „Formel Eins“-Studio zurück, in dem der Manager der Funpunk-Band Die Toten Hosen (Dietmar Bär im Rude-Boy-Dress, Kölner „Tatorte“) einen Versuch nach dem anderen unternimmt, seine Schützlinge in der Sendung unterzubringen…
Bevor es in Deutschland klassische Musik-TV-Sender wie Musicbox, MTV oder gar Viva gab, war es an den öffentlich-rechtlichen Sendern, das Publikum mit Musik zu versorgen. Neben Klassik und sog. Volksmusik gab es den „Rockpalast“, der sich vornehmlich um Live-Konzerte zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler kümmerte, außerdem den „Beat-Club“ und dessen Nachfolger, den „Musikladen“, sowie Musik/Comedy-Mischformate wie „Disco“, die „Plattenküche“ und „Bananas“. Die „ZDF-Hitparade“ bediente sich vornehmlich deutschsprachiger Interpretinnen und Interpreten aus dem Schlagerbereich, öffnete sich später aber auch der
Neuen deutschen Welle. „Bio’s Bahnhof“ war eine nur sechsmal jährlich produzierte Nischenshow. Mit „Ronny’s Pop Show“, „Thommys Pop Show“ und „Vorsicht, Musik!“ legte das ZDF Anfang der ‘80er vor. Ab 1983 sendete die ARD schließlich wöchentlich „Formel Eins“, das sich explizit an ein jugendliches Publikum richtete und über die aktuellen Musikverkaufscharts informierte, dabei zahlreiche aktuelle Videoclips anspielte. Studiogäste durften vor Ort in den Kulissen der Bavaria-Film exklusive Playback-Auftritte absolvieren. Die Sendung erfreute sich schnell großer Beliebtheit.
Unter keinem sonderlich guten Stern stand schließlich dieser Spielfilm, der zu gleichen Teilen Persiflage auf das Musikgeschäft im Allgemeinen sowie „Formel Eins“ im Speziellen und Promoschau für die auftretenden Interpretinnen und Interpreten ist: Laut Wolfgang Büld blieben von seinen eigenen Ideen nicht viele übrig, das Drehbuch sei aus unterschiedlichen Quellen zusammengeflickt worden, zu viele fremde Interessen habe man seitens der Produktion zu berücksichtigen versucht und die Zeit sei extrem knapp gewesen. Immerhin gelang es trotzdem, zwischen die Auftritte von Re-Flex („How Much Longer“), The Flirts („Dancing Madly Backwards“), Meat Loaf („Piece of the Action”), Pia Zadora („Little Bit Of Heaven”), Falco („Rock Me Amadeus”), Katrina and The Waves („Red Wine and Whiskey“) und Limahl („Too Much Trouble”) sowie abschließend Tina alias Kelling persönlich („Feel the Motion”) noch Die Toten Hosen unterzubringen: Auf Geheiß ihres Managers lassen sie sich immer wieder ein neues Image verpassen, scheinen im TV-Studio zum Inventar zu gehören, machen sich u.a. im Fitness-Studio zum Affen – und parodieren auf durchaus vergnügliche Art durch ihre ständigen Image-Wechsel unterschiedliche Musikrichtungen, z.B. Heavy Metal, wobei sie wie eine Mischung aus W.A.S.P. und Chastain oder so klingen. Nachzuhören sind diese musikalischen Ausflüge auf der „Battle of the Bands“-Mini-LP der Düsseldorfer.
Doch neben dem musikalischen Teil gibt es ja auch noch so etwas wie eine Handlung. Es dauert eine Weile, bis sie als solche erkennbar ist. Da sabotiert ein Fiesling ständig die Sendung, um seine eigene Band unterzubringen, tritt eine als Panzerknacker verkleidete Schlägerbande auf den Plan und ernährt sich Tina fast ausschließlich von Dickmann‘s, während Stevies Liebe zu ihr in einem blauen Auge für Limahl mündet, nachdem Tina schlecht vom Krieg geträumt und ihr Vater sich als Kenner des Musikmarkts aufgespielt hat. Oder so ähnlich. Das ist auch reichlich egal, denn was viel mehr zählt, ist der alberne, aber liebenswürdige und manchmal auch leicht anarchische Humor, der sich durch den Film zieht. Neben gelungenen Gags um Ingolf Lücks Kurzsichtigkeit und satirischen Verballhornungen des Musik-TV-Rummels beweisen die Stars, allen voran Falco, reichlich Selbstironie und persiflieren die Klischees, die sie ansonsten selbst verkörpern oder ihnen zumindest angedichtet werden. Darüber hinaus wurden einige cineastische Anspielungen untergebracht; so finden nebenan gerade die Dreharbeiten zu „Die unendliche Geschichte“ statt und wird mit einer „Das Boot“-Szene um Heinz Hoenig inkl. Soundtrack-Einspielung ein weiteres Mal Wolfgang Petersen Tribut gezollt.
Es ist wohl kaum gespoilert, wenn ich ausplaudere, dass Tina am Ende doch noch mit ihrem Demo zum Zuge kommt (sie springt spontan für Limahl ein) und bei Weitem zu viel Logiksuche, wenn ich mich darüber wundere, dass sie für ihren Auftritt direkt eine komplette Choreographie inkl. den Toten Hosen am Start hat. Das ist natürlich alles augenzwinkernd und unbedarft
trashig, hat aber Charme und seine Momente. Auch wenn nicht alle Acts ihre jeweils größten Hits darbieten, ist es ein spaßiges Unterfangen, sie dabei zu beobachten, wie sie sich in diesen Film verirrt haben. Heraus sticht am ehesten Pia Zadoras wirklich süßer Auftritt. Auch wie sich hier Laiendarstellerinnen und -darsteller mit aufstrebenden Jungschauspielern und verdienten Profimimen die Klinke in die Hand geben, ist durchaus bemerkenswert. Völlig absurde Szenen wie die in einer taghellen, auffallend leisen Disco hätte man sich hingegen besser gekniffen.
„Der Formel Eins Film“ (inkl. Deppenleerzeichen) zeigt, wie die ‘80er aus Sicht der Popmusik-Industrie gern gewesen wären, aber nie waren, wie man sich aber trotzdem wider besseres Wissen gern an sie zurückerinnert – mit allen Albernheiten, mit Kitsch und
Trash und viel Musik, abkultenswert für beinharte ‘80er-Fanatiker, vermutlich eher schwer verdaulich für alle anderen. Mir fehlt eine Sendung wie „Formel Eins“. Bring back the 80’s!
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Fr 15. Feb 2019, 15:49
von buxtebrawler

Falco – Hoch wie nie
Charisma Kommando
„Diese zwei Stunden sind es wert!“
Die österreichischen Musik-Doku-Regisseure Rudi Dolezal und Hannes Rossacher drehten 1998 einen zweistündigen Dokumentarfilm über „Österreichs einzigen Weltstar“ Johann „Hans“ Hölzel, geboren am 19.02.1957 in Wien, der unter seinem Künstlernamen Falco zu Weltruhm gelangte und in den 1980ern zu einem der bedeutendsten Pop-Künstler und -Interpreten des deutschsprachigen Raums avancierte.
Ein durch den Film führender
Off-Sprecher arbeitet Biographie und Œuvre des im Erscheinungsjahr dieses Films tödlich verunfallten Musikers zusammen mit zahlreichen Freunden, Bekannten und Weggefährten auf. Nach einem einführenden groben Überblick über die Inhalte kommt Falcos Mutter höchstpersönlich zu Wort, die einige Kinderfotos ihres Sohns zur Verfügung stellte. Falcos künstlerische Anfänge mit „Spinning Wheel“ sowie dem Wiener Anarcho-Kollektiv „Drahdiwaberl“ werden mit raren Aufnahmen illustriert. Aus dieser Zeit stammt das so einfache wie geniale „Ganz Wien“, das Falco, eigentlich „Drahdiwaberl“-Bassist, selbst sang und trotz Boykott durch den Rundfunk 1982 auch auf seinem Solodebüt platzierte – mit dem seine unvergleichliche Karriere so richtig durchzustarten begann. Aufgrund seines ersten großen Hits „Der Kommissar“ wurde er vom ORF für einen Wahnsinnigen gehalten und weiterhin boykottiert, doch die von Hölzel erschaffene überzeichnet arrogante und zugleich elegante Kunstfigur ging unbeirrt ihren Weg, schuf zusammen mit Produzent Robert Ponger innovative Musik zwischen New Wave, Hip-Hop und Synthie-Pop und erregte sogar Aufsehen in den USA als „Weißer Rapper“, wo Club-DJ Afrika Bambaata ihn populär machte. Durch seine Zusammenarbeit mit Rob & Ferdi Bolland als Produzenten gelang ihm endgültig der Sprung über den großen Teich; zugleich trieb er bisweilen das inhaltlich für Pop-Musik überraschend provokante Potential seiner Songs weiter auf die Spitze, was ihm manch nettes Skandälchen bescherte.
Falcos erste Alben waren musikalisch am Puls der Zeit, urban und trotz deutscher Sprache (bzw. Falcos unnachahmlichem Sprachmix aus Deutsch, Englisch und Wiener Schmäh) kosmopolitisch, Falcos Auftreten zudem polarisierend genug, um im Gespräch zu bleiben. Schade, dass das Regie-Duo keine Informationen zu den ersten Plattenproduktionen preisgibt, das Zweitwerk „Junge Römer“ gar ganz übersprungen wird. Hingegen wird der Nummer-1-Erfolg in den USA mit „Rock Me Amadeus“ natürlich noch einmal ausgiebig in Erinnerung rufen, immerhin handelte es sich um die erste deutschsprachige Spitzenposition in den US-Charts, Falco schrieb somit mit dickem Filzstift Musikgeschichte. Auf eine Schaffenskrise zu Beginn der 1990er folgte ein fulminantes Comeback mit starken Alben und neuerlichen Chart-Erfolgen. „Falco – Hoch wie nie“ zeigt enorm viele Ausschnitte aus Falco-Interviews und -Statements, seltenes Material wie seinen TV-Auftritt mit einem Peter-Alexander-Chanson sowie Auszüge aus Video-Clips, insbesondere aus dem anlässlich des „Junge Römer“-Albums fürs TV produzierten Videoalbum „Helden von heute“, das bedauerlicherweise noch immer nicht für den Heimkino-Markt ausgewertet wurde. Einer linearen Chronologie folgt der Film dabei nicht, sondern springt von Falcos ersten Aufnahmen über ein paar Eindrücke seines Domizils in der Dominikanischen Republik bis hin zu den traurigen Bildern seiner Beerdigung munter in der Zeit.
Letztlich hätte beinahe jeder Aspekt, den der Film aufgreift, gut und gerne vertieft werden können; sei es die Musik, seien es die Texte, sei es Falcos Persönlichkeit, seine Familienkonstellation, seine künstlerische Krise, sein Comeback oder sein exotisches Exil. Es ist unmöglich, Falcos Geschichte in nur zwei Stunden zu erzählen. Als unverzeihlich empfinde ich hier lediglich die erwähnten Lücken hinsichtlich Falcos erster Albenproduktionen; ansonsten gelingt Dolezal und Rossacher ein faszinierender und inspirierender, in erster Linie als Tribut und Hommage gedachter Überblick über einen der schillerndsten Protagonisten der Pop-Kultur der 1980er- und auch 1990er-Jahre, zu dem der häufig bemühte Vergleich mit einer Kerze, die von beiden Seiten brannte, perfekt passt.
In der Folge wurde es offenbar üblich, zu Falcos Geburts- bzw. Todestags-Jubiläen in zehnjährigen Abständen neues Material zu drehen. 2008 erschien Thomas Roths Biographie-Spielfilm „Falco - Verdammt, wir leben noch!“ mit Manuel Rubey als Falco. Die 2017 im TV-Sender Vox ausgestrahlte, fast dreieinhalbstündige Dokumentation
„Er war Superstar: Falco - Eine Legende wird 60“ habe ich bereits gesehen und ausführlich besprochen, „Falco - Die ultimative Doku“ aus demselben Jahr, eine weitere österreichische Produktion unter der Regie Rudi Dolezals, noch vor mir. Dies zeigt: Die Faszination ist ungebrochen – und Falco unsterblich.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 19. Feb 2019, 14:34
von buxtebrawler

Wunder von Mailand
„Das Leben ist schön! - La la la la!“
Der Name Vittorio De Sica ist eng mit dem italienischen
Neorealismus verknüpft. Mit „Fahrraddiebe“ steuerte er 1948 einen der beliebtesten Beiträge bei, um diese Gattung mit seinem postneorealistischen Märchen „Wunder von Mailand“ drei Jahre später ein Stück weit hinter sich zu lassen. Nichtsdestotrotz arbeitete er zu großen Teilen weiter mit seinem bewährten Stab zusammen, u.a. mit Drehbuchautor Cesare Zavattini, der „Wunder von Mailand“ bereits 1940 verfasst und später zu einem Roman umgearbeitet hatte.
„Was sind das für Leute?“ – „Arme.“
Die alte Lolotta (Emma Gramatica, „Hochwürden Don Camillo“) findet einen kleinen Jungen im Kohlfeld und tauft ihn auf den Namen Totò. Als sie schließlich stirbt, kommt Totò, den sie bis dahin mit viel Liebe aufgezogen hatte, in ein Waisenhaus. Als Volljähriger (Francesco Golisano, „Unter der Sonne Roms“) verlässt er es und stürzt sich mit zunächst auf seine Mitmenschen befremdlich wirkendem Optimismus und naiver Lebensfreude in den Alltag des Nachkriegs-Mailands und versucht, stets eine helfende Hand zu sein. In den Slums am Stadtrand hilft er, eine Obdachlosensiedlung zu errichten. Auf das Landstück hat es jedoch der Kapitalist Mobbi (Guglielmo Barnabò, „Dick und Doof erben eine Insel“) abgesehen. Der Grund: Unter dem Land wurde Erdöl entdeckt. Doch zusammen mit seiner Freundin Hedwig (Brunella Bovo, „Nackt jeden Abend“) und den magischen Kräften, die ihm von seiner verstorbenen Ziehmutter zuteilwerden, wehrt sich Totò gegen Mobbi und dessen Schergen…
De Sica skizziert grob Totòs Entwicklung als Kind und präsentiert bald einen unfassbar hilfsbereiten Jugendlichen und guten Menschen. Im verarmten, sich im Wiederaufbau befindenden Nachkriegs-Italien grüßt er auch alle Unbekannten mit überbordender Freundlichkeit, spricht fremde Kinder an, denen er Aufgaben aus dem kleinen Einmaleins stellt, und malt Rechenaufgaben auf Schilder. In seiner naiven Fröhlichkeit und positiven Lebenseinstellung bewahrt er sogar einen Bekannten vor dem Selbstmord. Als die Kapitalisten mit schwarzen Hüten und Pelzkrägen kommen und sich das Viertel unter den Nagel reißen, halten die einfachen Leute, die sich nicht einfach so fortjagen wollen, zusammen und intonieren voller Hoffnung Arbeiterlieder. Als Herr Mobbi Besitzansprüche erhebt, wollen sich die Bewohner wehren, Totò vermittelt gewaltfrei. Man besucht Herrn Mobbi und singt ihm ein Lied vor, womit man ihn umgestimmt zu haben glaubt. Dies stellt sich jedoch als Trugschluss heraus, Mobbi lässt den Platz räumen. Die Situation scheint aussichtlos, da der Kapitalist mithilfe der Staatsmacht gegen die Aufständischen vorgeht.
Dies ist der Punkt, an dem das eigentliche phantastische Element Einzug in den Film hält. Nachdem Totò die Zaubertaube überantwortet wurde, kann er den Qualm der Rauchgranaten wegpusten und Regenschirme gegen die Wasserattacken der Polizei herbeizaubern. Als die Staatsmacht zu schießen beginnt, lässt Totò Kraft seiner Magie die zur Attacke blasende Polizei singen – und wird daraufhin gefeiert. Schon bald jedoch wähnen sich die Bewohner in einem Wunschkonzert, wollen alles Mögliche von Totò haben, der ja alles herbeizuzaubern zu können scheint, und werden gierig – einem Herrn Mobbi nicht unähnlich. Ständig wird er um Millionen angebettelt. Schließlich werden doch noch alle verhaftet. Seine Hedwig bringt ihm seine Taube, die Engel verabschieden sich und inmitten eines Scharmützels mit der Polizei fliegt Totò zusammen mit Hedwig auf einem Besen davon. Nach und nach tun es ihm alle gleich und singen ihr Arbeiterlied.
Diese Parabel auf gesellschaftliche Kräfte, Klassen und Entwicklungen wurde als kindgerechter Familienfilm angelegt, was eine heillose, eindimensionale Überzeichnungen Totòs als warmherzigen Naivling und himmlischen Heilsbringer zur Folge hat. Dabei entstammen viele Themen und Motive der Welt der Erwachsenenpolitik: Zerstörung und Verelendung durch den
Zweiten Weltkrieg, das Scheitern des Kommunismus sowohl am erbitterten Widerstand der Kapitalisten in Kooperation mit der für sie statt fürs Volk arbeitenden Polizei als auch am menschlichen Wesen: Als Mobbi seine Messer wetzte, standen die Vertriebenen regungslos da und taten keine Mucks – fast als warteten sie auf einen neuen Führer. Und nachdem sie Zeugen von Totòs besonderen Kräften wurden, wollten sie sich in egoistischer Weise an ihnen bereichern.
All das wird nicht subtil, sondern mit dem dicken Pinsel gezeichnet. „Wunder von Mailand“ sollte verstanden werden, von Kindern genauso wie von Erwachsenen. Und das ist in seiner Schwarzweiß-Fotografie schön anzusehen, in seinen Kulissen, mit seinen Schauspielern und Charakterdarstellern – und mit seinen Spezialeffekten wie dem zum ikonischen Bild gewordenen Besenritt. De Sica und seinen Autoren gelingt das Kunststück, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, vom Unvermögen, grundlegende gesellschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen, zu vermitteln und zugleich mit einem märchenhaften
Happy End zu schließen, das Kinder sicherlich zu begeistern vermochte, sein erwachsenes Publikum aber mit einem alles anderen als positiven Gefühl zurückgelassen haben dürfte. Überzeichnung und Kitsch als Bestandteile dieses Films allerdings zerren auch an den Nerven, die gezeigte Naivität ist auch für einen Familienfilm zu unglaubwürdig, um nicht anstrengend zu wirken.
P.S.: Interessanterweise machte sich bereits dieser Film in einer humoristischen Szene über einen Stotterer lustig, wie es später zum Standard italienischer Komödien werden sollte.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Mi 20. Feb 2019, 15:36
von buxtebrawler
Tatort: Vielleicht
Der „Tatort: Vielleicht“ aus dem Jahre 2014 wurde der Abgesang auf den Berliner Hauptkommisssar Felix Stark (Boris Aljinovic) und mit dem 31. nicht nur sein letzter, sondern auch sein einziger Fall, in dem er ohne seinen Kollegen Till Ritter auskommen muss, der bereits nach der vorausgegangenen Episode den Dienst quittiert hatte. Drehbuchautor und Regisseur Klaus Krämer, der zuvor bereits die Berliner Beiträge „Machtlos“ und „Hitchcock und Frau Wernicke“ geschrieben und inszeniert hatte, machte aus Starks Abschied ein Mystery-Kriminaldrama, in dem es parapsychologisch zugeht.
Als die norwegische Psychologie-Studentin Trude Bruun Thorvaldsen (Lise Risom Olsen, „Solness“) bei Stark auf dem Revier vorspricht, weil ihre Alpträume ihr einen zukünftigen Mord an der Studentin Lisa Steiger (Tinka Fürst) verraten, bleiben Stark und sein Team freundlich, nehmen Trude jedoch nicht ernst. Als jedoch zwei Wochen später Lisa tatsächlich vergewaltigt und ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden wird, plagt Stark das Gewissen. Um den Täter (Niels Bormann, „Mondkalb“), der sich als Handwerker ausgegeben und sich so Zutritt zur Wohnung verschafft hatte, ausfindig zu machen, lässt er sich auf eine Zusammenarbeit mit der mysteriösen Norwegerin ein. Doch die sichtlich unter ihrer besonderen Begabung leidende junge Frau sieht eine weitere Bluttat voraus, in die auch Stark verwickelt ist…
Inwieweit es legitim ist, dass ein TV-Krimi wie der „Tatort“ übernatürliche Phänomene aufgreift, ohne sie zu widerlegen, sei einmal dahingestellt, soll an dieser Stelle aber nicht diskutiert werden. Ein Whodunit? gibt es diesmal nicht, dafür eine meist ziemlich verhuscht dreinblickende Norwegerin, die Deutsch mit Akzent spricht und der Polizei mehr Rätsel aufgibt, als es „herkömmliche“ Fälle tun. Trotz ihrer seherischen Fähigkeiten ist für Stark, Polizeipsychologe Robert Meinhardt (Fabian Busch) und die Kolleginnen und Kollegen Paula Wimberg (Laura Tonke), Malte Steiner (Christian Sengewald), Oleg Knipper (Dimitrij Schaad) und Maria Schuh (Anjorka Strechel) viel klassische Ermittlungsarbeit vonnöten, um dem Täter auf die Spur zu kommen. So wird ein Eindruck der ermüdenden Sísyphusarbeit vermittelt, die solche Fahndungen häufig darstellen. Interessanter- und perfiderweise lässt sich der Täter von den im Internet von der Polizei als Warnungen präsentierten Tricks für seine Vorgehensweise inspirieren und gerät irgendwann ausgerechnet an Trude. Bei seiner Verhaftung flucht und schimpft er wie ein Rohrspatz, was irritiert – insbesondere deshalb, weil das Publikum ansonsten nichts über ihn erfährt: Motive und Charakterzeichnung bleiben auf der Strecke, der Zufall spielte zudem eine zu große Rolle. Das ist eines der großen Versäumnisse dieser Episode.
Wer nun glaubt, der „Tatort“ richte seinen Fokus ergo auf den mit Trudes zweiter Vorhersehung verbundenen Fall, behält in gewisser Weise Recht: Dieser wird zu Starks großem Finale, nach dem Verlust seines Fahrrads (typisches Berliner Delikt: Fahrraddiebstahl) scheint er auch den Kampf gegen das Schicksal zu verlieren. Hierbei erfährt man jedoch nicht das Geringste über die Hintergründe der Tat und ihr Motiv, nicht einmal etwas über die Täter – seltsamerweise schien Krämer zu glauben, für diesen „Tatort“ auf all das verzichten zu können.
Dies ist die größte Schwäche dieses Films, der mit seiner melancholischen Atmosphäre, Olsens starkem Schauspiel und der sympathischen Ausstrahlung Starks als einfühlsamem Kommissar punktet. „Vielleicht“ zeigt, welche Bürde eine Begabung wie Trudes darstellen und zu welchen Konflikten sie im zwischenmenschlichen Bereich führen kann. Darüber hinaus erfährt man, an wen man sich wenden kann, droht man an einem Todesfall psychisch zu zerbrechen – und dass es nicht möglich ist, ein Praktikum bei der Polizeipsychologie zu absolvieren. Seine Versetzung hatte Stark übrigens schon vor seiner finalen Konfrontation eingereicht, ein eigentlich unnötiges Handlungselement angesichts des Ausgangs.
„Vielleicht“ ist ein Mystery-Drama mit vielen starken Momenten, dem über weite Strecken der Spagat gelingt, dennoch die knochentrockene Ermittlungsarbeit aufzuzeigen, statt sich in psychedelischen Sphären zu verlieren – der aber auch wichtige Elemente weitestgehend ignoriert, obwohl in Anbetracht seines häufig gedrosselten Tempos Zeit für sie gewesen wäre. Das lässt dieses ungewöhnliche, weil Parapsychologie als real existentes Phänomen behandelnde Berliner Finale leider recht unausgewogen erscheinen.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Fr 22. Feb 2019, 14:22
von buxtebrawler

Pretty Baby
„Ich führe ein gutes altmodisches Hurenhaus, Monsieur!“
Der französische Autorenfilmer und Anhänger der
Nouvelle Vague Louis Malle („Fahrstuhl zum Schafott“) hatte ein Händchen für skandalträchtige Themen. So zeigte er z.B. in „Herzflimmern“ den Inzest zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, ohne ihn zu verurteilen. Mit seiner US-Produktion „Pretty Baby“ widmete er sich 1978 der Prostitution in New Orleans zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen – und der Kinderprostitution eines 12-jährigen Mädchens im Speziellen, verkörpert von der 13-jährigen Brooke Shields („Die blaue Lagune“). Der Film basiert auf den Bildern des Fotografen E.J. Bellocq, der seinerzeit im Rotlichtbezirk Storyville den Bordell-Alltag mit seiner Kamera festgehalten hatte.
„Ich hab‘ nichts übrig für Perverse!“
Puffmutter Nell (Frances Faye, „Doppelt oder Nichts“) ist um die 70 und Betreiberin eines Bordells für Gutbetuchte. Ab und zu muss sie noch selbst ran, das Hauptgeschäft aber besorgen ihre Huren. Inklusive diverser Angestellter, z.B. für den Barbetrieb, ist man wie eine große Familie. Zu dieser gehört auch Hattie (Susan Sarandon, „The Rocky Horror Picture Show“), die im Bordell aufgewachsen ist, weil bereits ihre Mutter dort gearbeitet hatte. Das gleiche Schicksal droht Hatties Tochter, der 12-jährigen Violet (Brooke Shields). Die Entjungferung des aufgeweckten Mädchens wird im Bordell an den Höchstbietenden versteigert – 400 $ ist sie wert. Das Kind lässt die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen und sieht einem Leben als Hure entgegen. Als E.J. Bellocq (Keith Carradine, „Die Duellisten“) im Bordell vorstellig wird, möchte er keine sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sondern seinem Hobby und Broterwerb, der Fotografie, nachgehen. Ein beliebtes Motiv ist Hattie, wodurch auch Violet den Fotografen kennenlernt. Als sich der vermögende Mr. Fuller (Don Hood, „Schwarzer Engel“) in Hattie verliebt, geht sie mit ihm und ihrem neugeborenen Sohn nach St. Louis und heiratet Fuller, verleugnet ihm gegenüber jedoch Violet, indem sie sie als ihre Schwester ausgibt. So bleibt Violet ohne Eltern im Bordell zurück. Wenn sie gerade nicht arbeitet, albert sie mit ihren Freunden Red Top (Matthew Anton, „Andy Warhol's BAD“) und Nonny (Von Eric Thomas) herum. Als sie dem dunkelhäutigen Nonny dabei nach Meinung der Erwachsenen zu nah kommt und man eine „Rassenschande“ befürchtet, wird sie per Prügelstrafe gezüchtigt. Trotzig flieht sie aus dem Hurenhaus und sucht Bellocq auf. Dieser zeigt sich ebenso fasziniert von ihr wie sie von ihm, betrachtet sie als Geliebte und Stieftochter zugleich, hat Sex mit ihr und ehelicht sie schließlich…
„Bin ich für dich ein Kind?“
Malle zeigt die scheinbare Normalität von Prostitution und Kindesmissbrauch in der US-Gesellschaft des frühen 20 Jahrhunderts. Keiner der Beteiligten scheint mit seiner gesellschaftlichen Rolle zu hadern, niemand stellt den Ist-Zustand infrage. Warum auch, ist man angesichts der Bordellbilder von Zusammenhalt und Fröhlichkeit zu fragen geneigt, schließlich sind die meisten Freier höfliche Herren mit dickerem Geldbeutel, schließlich wird zur Musik des schwarzen Klavierspielers gefeiert und viel gelacht, schließlich scheint es den Kindern gut zu gehen, die all das von Beginn an miterleben – und zwar in einem New Orleans voller Zeit- und Lokalkolorit, in prächtigen Bildern eingefangen. Malle ist nicht daran gelegen, einen Softporno aus seinem Film zu machen, am anderen Extrem ist er aber ebenso wenig interessiert, sodass unkaschierte Nacktszenen zum Zuge kommen. Als ein Zuschauer aus dem 21. Jahrhundert würde man nun eventuell erwarten, dass Violets Defloration in letzter Sekunde verhindert werden kann und sie es irgendwie schafft, dem Bordellbetrieb zu entfliehen, doch mitnichten: Malle lässt es geschehen und überrascht, oder besser: erschreckt damit sein Publikum.
Und es kommt noch arger: Wirklichen Schutz findet sie nach ihrer letztendlichen Flucht (wegen einer Misshandlung bzw. eher verletzten Stolzes wohlgemerkt, nicht aufgrund ihrer Kindersexarbeit) bei Bellocq ebenfalls nicht: Zwar scheint er ein guter, moralisch handelnder Mensch zu sein, der sie in seine Obhut nehmen möchte, Sex hat er trotzdem mit ihr. Dies verarbeitet der Film in ebenso selbstverständlicher Weise wie alles Vorausgegangene, mehr noch: Er erlaubt sogar die Lesart, Violet habe dies provoziert. „Pretty Baby“ skizziert das ambivalente Verhältnis beider zueinander. Violet ist Geliebte und Stieftochter zugleich, nennt ihn „Papa“, findet aber nichts Merkwürdiges daran, mit ihm zu schlafen. Bellocq findet sich ebenfalls in beiden Rollen wieder, die er miteinander zu kombinieren versucht, was in seiner Heirat Violets gipfelt – über die sich niemand so recht zu wundern scheint. Die Beziehungskonflikte, die beide miteinander austragen, erinnern dann tatsächlich an eine Mischung aus kindlich trotzigem, aufmüpfigem Verhalten und der gekränkten Seele einer Geliebten, was zu weiteren Verletzungen seiner selbstauferlegten Fürsorgepflicht führt. Malle und sein Team zeigen die blutjunge Shields, die auch äußerlich ganz offensichtlich noch ein Kind und nicht etwa eine körperlich und sexuell entwickelte Frühreife ist, splitternackt, indirekt lässt man sie vor der Kamera posieren, beispielsweise unter Zuhilfenahme des Kniffs, die gemeinsame Fotomodellarbeit mit Bellocq zu zeigen, sie als Alibi also gewissermaßen durch Auge der Fotografen-Figur abzulichten. Als wie aus dem Nichts Hattie mit ihrem Ehemann zurückkehrt, um Violet in ein neues Leben mitzunehmen, endet ihre Beziehung zu Bellocq abrupt. Was letztlich aus ihrem Leben wurde, erfährt das Publikum nicht – selbst hier obliegt es den Zuschauerinnen und Zuschauern, zu entscheiden, ob diese Zäsur als positiv oder negativ für Violet betrachtet wird.
Keine Frage, Brooke Shields hatte weit mehr zu bieten als Erziehungsberechtigte, die offenbar kein Problem darin sahen, sie für einen solchen Film herzugeben und in dieser Weise, zur Lolita geschminkt und unbekleidet lasziv posierend, auf Zelluloid bannen zu lassen. Sie verfügte bereits über erstaunliche schauspielerische Qualitäten und ein breites emotionales und mimisches Spektrum. Es gelingt ihr, ihre Rolle facettenreich auszufüllen. Jedoch zeigt „Pretty Baby“ keinerlei Problembewusstsein, genauso wenig wie seine Protagonistinnen und Protagonisten. Ich möchte angesichts dieser pikanten Thematik niemandem etwas unterstellen und ich habe auch keine Ahnung, ob der echte Bellocq seinerzeit mit einer Präpubertären liiert war. Vielleicht hat der
Katholische Filmdienst ja auch Recht, wenn er resümiert:
„Malle behandelt das heikle Thema weder spekulativ noch moralistisch, sondern erreicht durch seine zurückhaltend-distanzierte Erzählweise eine Ambivalenz, die den Zuschauer in seiner Erwartungshaltung verunsichert und zur Auseinandersetzung zwingt.“ Ausgerechnet aus dem Munde einer der mutmaßlich weltweit größten Pädophilenvereinigungen wie der
Katholischen Kirche provoziert dies aber einmal mehr kritisches Hinterfragen. Möglicherweise wollte Malle in provokanter Weise die ehemals breite gesellschaftliche Akzeptanz von Prostitution, Pädophilie und Kindesmissbrauch aufzeigen, indem er sie in jener selbstverständlichen Normalität nachzeichnet, als die sie seinerzeit, geht man nach diesem Film, offenbar empfunden wurde. Ich fürchte jedoch, dass „Pretty Baby“ auch als Päderasten in ihrer Neigung und ihren Taten bestätigende Wichsvorlage nur zu gut funktioniert. Sollte hier im Zuge einer missverstandenen und ausgebeuteten
sexuellen Revolution eine Lanze für Pädophilie und Kindesmissbrauch gebrochen werden? Diese offene Frage macht es mir zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, diesen Film abschließend für mich zu bewerten.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Di 26. Feb 2019, 00:26
von buxtebrawler
Tatort: Ein Tag wie jeder andere
Regisseur Sebastian Marka und Drehbuchautor Erol Yesilkaya zeichnen bereits für manch gelungenen bis herausragenden Beitrag zur „Tatort“-Krimireihe verantwortlich, den Wiesbadener „Es lebe der Tod“ z.B., oder den Berliner „Meta“. Nun verschlug es sie nach Franken, genauer: nach Bayreuth, wo sie dem Ermittlerduo Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs) einen ganz besonderen fünften Fall auf den Leib schneiderten, der am 31.01.2019 stilecht in einem Bayreuther Kino erstaufgeführt wurde. ARD-Zuschauer kamen am 24.02.2019 in den Genuss.
Mitten in einer Verhandlung des Bayreuther Gerichts greift Rechtsanwalt Thomas Peters (Thorsten Merten, Weimarer „Tatorte“) zur Pistole und erschießt den Richter um Punkt 14:00 Uhr. Nur eine Stunde später findet er sein nächstes Opfer: Die Universitätslaborantin Katrin Tscherna (Katharina Spiering) muss um 15:00 Uhr sterben. Zusammen mit den Kollegen Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) und Sebastian Fleischer (Andreas Leopold Schadt) sowie Michael Schatz (Matthias Egersdörfer) von der Spurensicherung versuchen Ringelhahn und Voss, Peters habhaft zu werden und einen weiteren Mord zu verhindern: Sein nächstes Opfer soll Molkereiunternehmer Rolf Koch (Jürgen Tarrach, „Der Eisbär“) sein. Koch besucht gerade eine Oper im Rahmen der Richard-Wagner-Festspiele und steht offenbar auf Peters Todesliste, weil er einst aus Profitgier vergiftete Milch in Umlauf brachte, durch den juristischen Kniff einer Selbstanzeige aber einer Verurteilung entgehen konnte. Doch Peters war sein Anwalt. Was also ist sein Motiv? Kurz bevor er Koch richten kann, wird er von Ringelhahn erschossen. Die Spur führt zum Ehepaar Martin (Stephan Grossmann, „Tief durchatmen, die Familie kommt“) und Jana Kessler (Karina Plachetka, „Tatort: Level X“), dessen ungeborenes Baby offenbar an Kochs vergifteter Milch starb...
„Langsam reicht mir deine Emo-Ego-Scheiße hier, wirklich!“
Ein klassischer Whodunit?-Krimi ist der extrem tiefstaplerisch betitelte „Tatort: Ein Tag wie jeder andere“ nicht, zunächst vielmehr ein Whydunit?, denn Peters’ Motiv ist vollkommen unklar. Der Fall avanciert schnell zum Thriller, der in eingestreuten Rückblenden seinem Publikum nach und nach Puzzleteile zuwirft, aufgrund derer es einen leichten Wissensvorsprung gegenüber den Ermittlerinnen und Ermittlern bekommt. Zeitlupen stehen im Kontrast zum Zeitraffer, in dem langwierige trockene Fleißarbeiten im Rahmen der Ermittlungen zusammengefasst werden. Dies sind zwei Extreme eines Films, in dem das Timing eine entscheidende Rolle spielt: Vor seinen Taten schaut Peters nervös auf die Uhr, um den richtigen Zeitpunkt genau abzupassen, während die Polizei immer wieder in einen Wettlauf gegen die Zeit gezwungen wird. Die erste Hälfte des zweigeteilten Thrillers endet mit der Erschießung Peters’, die zum nach einem Selbstmordversuch an den Rollstuhl gefesselten Martin Kessler führt, dessen Entführung der Tochter (Jule Hermann, „Wendy – Der Film“) Peters’, die er als Faustpfand zur weiteren Umsetzung eines perfiden Plans behält, die zweite Hälfte bestimmt.
Ist das Motiv nach dem vorläufigen inszenatorischen Höhepunkt in der Oper erst einmal geklärt, werden Fragen nach Gerechtigkeit der Justiz, Schuld und Rache verhandelt, polizeiintern mitunter lautstark. Dadurch erhält der Fall eine letztlich tragische Ebene, die Fragen aufwirft, die manch Zuschauerin oder Zuschauer mit ins Bett nehmen dürfte. Aus Kessler machte man die hochinteressante Figur eines ebenso genialen wie zielstrebig verbissenen Rächers, der nur noch ein einziges Ziel im Leben und selbst fixiert in einer Zelle immer noch ein Ass im Ärmel hat. An den hochspannenden Showdown schließt sich ein Howdunit? an, bevor mehrere Wendungen das Finale aufregend gestalten. Beinahe in der Manier großer Kino-Thriller wurde eine doppelbödige Handlung ausgearbeitet, die bisweilen etwas arg konstruiert wirkt, jedoch ohne grobe Plausibilitätsprobleme über die Zielgerade kommt. Die Einbettung von Lokalkolorit lässt sich Marka natürlich nicht nehmen, die Richard-Wagner-Festspiele drängten sich regelrecht auf. Die düstere Atmosphäre mit ihren Grau- und blassen Blautönen in den ästhetisierten Bildern wiederum passt hervorragend zur traurigen Hintergrundgeschichte um einen sinnlos zerplatzten Lebenstraum, die die Distanz zum eiskalt agierenden Strippenzieher und Mörder aufbricht, Empathie entwickeln lässt und „Ein Tag wie jeder andere“ zur zwischen Sensibilität und Härte wohldosiert changierenden Tragödie macht. 7,5 von 10 Milchtüten dafür.
Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Verfasst: Mi 27. Feb 2019, 18:40
von buxtebrawler

Die Ausgebufften
„Scheiß Land, scheiß Frankreich, überall: Scheiße!“
Nach einer Dokumentation und einem Kurzfilm debütierte Bertrand Blier, Sohn des renommierten französischen Charakterdarstellers Bernard Blier, 1967 mit dem hierzulande weitestgehend unbekannten Drama „Wenn ich ein Spion wäre“. Sein zweiter abendfüllender Spielfilm wurde sieben Jahre später die skandalträchtige, provokante Erotikkomödie „Die Ausgebufften“.
„Nun guck dir bloß diese Schlampe an: Besitzt nicht mal 'nen Schlüpfer!“
Jean-Claude (Gérard Depardieu, „Der Hornochse und sein Zugpferd“) und Pierrot (Patrick Dewaere, „Themroc“) sind zwei Herumtreiber und Kleinganoven, schwanzgesteuert und vulgär. Neben Diebstählen ist ihr Alltag bestimmt vom Sex mit der gelangweilten Friseurin Marie-Ange (Miou-Miou, „Die Abenteuer des Rabbi Jacob“), die beide zugleich ranlässt, ohne dadurch selbst Befriedigung zu erlangen, aber auch mit allen anderen halbwegs attraktiven Frauen, die ihnen vor die Flinte geraten – ob sie wollen oder nicht. Als sie auf die Idee kommen, dass gerade aus dem Knast entlassene Frauen besonders sexhungrig sein müssten, lesen sie die etwas ältere Jeanne (Jeanne Moreau, „Der Boss“) vor der JVA auf, die sich nach dem gemeinsamen Sex im Hotelzimmer erschießt. Sie suchen nach dem Sohn (Jacques Chailleux, „Kommando R.A.S.“) der Toten, finden ihn und müssen bald zur Kenntnis nehmen, dass ausgerechnet er der erste war, der es Marie-Ange zu besorgen verstand. Doch als er bei einem Coup jemanden erschießt, wird das ganze Trio steckbrieflich gesucht…
„Himmel, Arsch und Zwirn! Es muss doch irgendwo eine Möse geben, die auf uns wartet!“
Die beiden Antihelden dieser seltsamen Geschichte nehmen sich sämtliche Freiheiten nach der
sexuellen Revolution heraus, verhalten sich dabei jedoch höchst sexistisch. Dies wird schnell deutlich, obwohl der Schnitt oftmals auslässt und verschleiert, im Unklaren darüber lässt, wie eine Szene ausgeht. Direkt zu Beginn beispielsweise könnte es sich um eine versuchte Vergewaltigung handeln, aber auch um eine vollzogene oder lediglich den fingierten Versuch zwecks Handtaschendiebstahls. Unabhängig davon verkörpern Jean-Claude und Pierrot sämtliche Bürgerschreckklischees, ohne über etwaiges politisches Bewusstsein oder soziale Werte zu verfügen. Der Humor des Films speist sich derweil zu etwa gleichen Teilen aus dem häufigen Misserfolg der beiden Trottel (so sorgt sich Pierrot nach einem Hodenschuss vor möglicher Impotenz) und ihrer permanenten, auf Dauer ermüdenden Sprücheklopferei.
„Wir müssen uns entscheiden: Entweder wir haben Angst vor den Bullen oder wir wollen ficken!“
Aus männlich-heterosexueller Sicht sorgt Miou-Miou, vor allem aber auch Jeanne Pirolle als wunderschöne reife Frau mit ihrer leider wenig freizügigen Sexszene für den Erotikanteil, bevor der Film eine Wendung hin zu einer Kriminalposse nimmt: Ihr Sohnemann Jacques erweist sich als noch wesentlich skrupelloser als die beiden Halunken, plötzlich hat man die Polizei auf dem Hals. „Die Ausgebufften“ ist zu einer Art
Road Movie geworden und gerät nicht nur ad absurdum, sondern auch verdammt langweilig, wenn die 17-jährige Jacqueline (Isabelle Huppert, „Das beständige Gleiten der Begierde“) von ihren Eltern abhaut, sich den Ganoven anschließt und sich auch noch bereitwillig von ihnen entjungfern lässt.
„Macht bloß keine Umstände. Wenn ihr mich bumsen wollt: bitte sehr!“
Ein offenes Ende suggeriert letztlich, dass es für das Trio ewig so weitergehen könnte. Glücklicherweise findet Blier nach über 110 Minuten zumindest ein Ende seines dramaturgisch aus den Fugen geratenen Films, der mich von seinem obszönen Gequatsche ermüdet, aber auch ratlos zurückgelassen hat: Für eine Komödie ist „Die Ausgebufften“ bei Weitem nicht lustig genug, für einen Erotikfilm ist der Erotikanteil trotz allem zu gering und für einen
Road Movie fehlt es ihm an fast allem, was dieses spezielle Genre über die reine Rastlosigkeit hinaus ausmacht. Eine sozialkritische Haltung ist schwer auszumachen, denn obwohl Jean-Claude und Pierrot unzweifelhaft als flegelhafte Idioten dargestellt werden, fehlt jede kritische Distanz zu ihrem Treiben. Ihre Ablehnung der französischen Gesellschaft bleibt weitestgehend unbegründet und somit nebulös, wirkt eher alibihaft zur Rechtfertigung der eigenen egozentrischen Asozialität. Zudem stört das transportierte Frauenbild, das vollständige Fehlen einer starken weiblichen Figur, die den beiden Paroli bieten könnte.
„Habt ihr überhaupt 'ne Ahnung, was Weiber sind? Das ist was Widerliches, Weiches, das auf nichts reagiert!“
Was bleibt, ist ein merkwürdiges bis befremdliches Sittenbild, das frauenverachtende Fantastereien seiner Entstehungszeit widerzuspiegeln scheint, ein aufdrehendes männliches Hauptdarsteller-Duo, das sich für nichts zu schade ist (in diesem Falle durchaus positiv gemeint), eine weichzeichnende, violinenlastige musikalische Untermalung durch Stéphane Grappelli und der betörende Anblick der Schauspielerinnen, die sich für Bliers Drehbuch und Regie erotisch in Szene setzen ließen.