Habe "Es" vorgezogen:

Es
„Bin ich dir immer noch nicht real genug?!“
US-Autor Stephen Kings 1986 veröffentlichter Roman „Es“ ist vielleicht der beste, weil tiefgründigste, berührendste und nicht zuletzt gruseligste Roman der Nachkriegszeit, zumindest ist er es für mich. Ebenso ist Regisseur Tommy Lee Wallace‘ Verfilmung, die in Form eines TV-Zweiteilers 1990 fürs US-Fernsehen produziert wurde, für mich persönlich die qualitativ und inhaltlich hochwertigste TV-Produktion, die ich bisher sehen durfte. Im zarten präpubertären Kindesalter sah ich nämlich die VHS-Fassung des Films von der dreistündigen Warner-Kassette und war völlig hin und weg von diesem Film, den ich mir immer und immer wieder ansah und der dazu führte, dass ich mir tatsächlich die 1.100 Seiten starke Taschenbuchversion des Stoffs lieh und in den Ferien in nur elf Tagen durchackerte. „Es“ ist bis heute meine Lieblingsgeschichte, die mir eine ungeschönte, neue, doch in sich schlüssige Sicht auf die Welt verschaffte und meinen Wertekanon beeinflusste – und die Verfilmung hat für meinen Geschmack alles, was einen guten Horrorfilm ausmacht, denn diese hatte das Genre für mich gewissermaßen definiert. Um es kurz zu machen: „Es“ ist Teil meiner DNA geworden und hat bis heute nicht an Bedeutung für mich eingebüßt.
„Muss man Jungfrau sein, um diesen scheiß Clown zu sehen?!“
Wie mir ging es vielen meiner Generation, sodass Kings Meisterstück und der tanzende Clown Pennywise zum populärkulturellen Gut wurden. Ein Angehöriger der Generation „Es“ dürfte auch der gebürtige Argentinier Andrés Muschietti sein, der 2013 mit einer kanadisch-spanischen Koproduktion, dem Horrorfilm „Mama“, in Genrekreisen auf sich aufmerksam machte – und zwar in positiver Hinsicht. Auf Muschietti fiel die Wahl der „New Line Cinema“-Produzenten, als nach einem Regisseur für die „Es“-Neuverfilmung als hochbudgetierte Kino-Produktion gesucht wurde – welch Mammutaufgabe für jemanden, der erst einen einzigen abfüllenden Spielfilm zu verantworten hatte. Das Drehbuch arbeiteten die unverbrauchten Autoren Chase Palmer, Cary Fukunaga und Gary Dauberman aus. Während in der literarischen Vorlage das Böse in Form des unheilvollen Clowns alle 27 Jahre eine US-amerikanische Kleinstadt heimsucht, änderte man für die Erstverfilmung diese Zeitspanne auf runde 30 Jahre. Dies korrigierte man in der Neuverfilmung, die – tatsächlich – exakt 27 Jahre nach Wallace‘ Version in die Kinos fand und dort bereits manch Rekord brach. Sie passt auch perfekt in diese Zeit, in der Kino- und Serienproduktionen massiv die 1980er-Dekade wiederentdecken, wurde doch die Handlung von den ausgehenden Fünfzigerjahren 30 Jahre in die Zukunft gelegt: Sie spielt in den Jahren 1988 und 1989.
Der sich in seiner Pubertät befindende Bill Denbrough (Jaeden Lieberher, „Midnight Special“) muss den Verlust seines kleinen Bruders Georgie (Jackson Robert Scott) beklagen: Nachdem er ihm an einem verregneten Herbsttag ein Papierschiffchen gebastelt hatte, ist dieser beim Spielen damit spurlos verschwunden. Was der von seinem Stottern geplagte Bill noch nicht weiß, jedoch bald herausfinden wird: Georgie wurde Opfer des „tanzenden Clowns“ Pennywise (Bill Skarsgård, „Atomic Blonde“), jener Inkarnation des Bösen, das die Kleinstadt Derry im nordöstlichen Bundesstaat Maine in unheilvoller Regelmäßigkeit alle 27 Jahre heimsucht, um sich sattzufuttern und sich anschließend wieder in einen langen Schlaf zu begeben. Somit ist Georgie auch nur eines von mehreren vermisst gemeldeten Kindern, die der Grund für eine verhängte Ausgangssperre sind. Bill und seine Schulfreunde, der Jude Stanley Uris (Wyatt Oleff, „Guardians of the Galaxy“), der dem
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom seiner Mutter (Molly Atkinson, „Sam’s Lake“) ausgesetzte Eddie Kaspbrak (Jack Dylan Grazer) und der dickbebrillte Nachwuchskomiker Richie Tozier (Finn Wolfhard, „Stranger Things“) sind Außenseiter in Derry, die von den halbstarken Rowdys um den soziopathischen Polizistensohn Henry Bowers (Nicholas Hamilton, „Der dunkle Turm“) gemobbt und terrorisiert werden. Ähnlich ergeht es dem farbigen Waisen Mike Hanlon (Chosen Jacobs, „Cops and Robbers“), dem adipösen Ben Hanscom (Jeremy Ray Taylor, „Geostorm“) und der rothaarigen Beverly Marsh (Sophia Lillis, „37“), um die sich wilde Gerüchte an der Schule ranken und die unter ihrem offenbar pädophil veranlagten Vater (Stephen Bogaert, „American Psycho“) leidet. Sie alle raufen sich zum „Club der Verlierer“ zusammen und beginnen, sich sowohl gegen Bowers und seine Kumpanen zu wehren als auch nach und nach ihre persönliche Konfrontationen mit dem Horrorclown auszutauschen, sich gegenseitig Mut zuzusprechen – und schließlich den Kampf gegen das Monstrum aufzunehmen…
Was „Es“ für mich zu so etwas Besonderem machte, war die Verquickung mit etwas, das, wie ich später herausfinden sollte, als
Coming of Age bezeichnet wird. Kings 1982er Novelle „Die Leiche“ (1986 von Rob Reiner wunderbar unprätentiös als „Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers“ verfilmt), die frei jeglicher phantastischer Elemente war, stellte eine Art Fingerübung dar, aus dessen Prämisse King später seinen in epischer Breite erzählten Roman gestalten sollte: Eine Clique Heranwachsender, die einen Sommer miteinander verbringt, der alles ändern wird. So fällt es schwer, diesbzgl. hinsichtlich „Es“ von einem Subtext zu sprechen, zu allgegenwärtig sind die Probleme und letztlich die Lösungsstrategien der Kinder, für die der übersinnliche Horror strenggenommen lediglich Beiwerk ist – zumindest was die Aussage des Stoffs betrifft. Letztlich dient er der Visualisierung und Vergegenständlichung der Herausforderungen des Erwachsenwerdens und macht somit eine intelligente, ausgewogene
Coming-of-Age-Horrorgeschichte aus der Kleinstadtstory um den bösen Clown. Wallace‘ Original mit seiner perfekten Fünfziger-Jahre-Stimmung und der Traumbesetzung mit Tim Curry als Pennywise hat sich Szene für Szene in mein Langzeitfilmgedächtnis eingebrannt. Nun trat also ein komplett neues Ensemble an, mit diesem in Konkurrenz zu treten.
Die Neuverfilmung scheint sich zunächst stark an Erstverfilmung und Romanvorlage zu orientieren; als eine erste Abweichung spielt Bills Mutter jedoch nicht „Für Elise“, sondern ein anderes Stück auf ihrem Klavier. Der Prolog mit Georgies Tod ist dann auch in bedrückender Konsequenz und grafisch brutaler umgesetzt worden. Die Sorgen um einen weniger gruseligen Pennywise, der altertümlicher als Currys Interpretation gekleidet ist und alberne Hasenzähne und eine ebensolche schwarzgeschminkte Stupsnase bekam, stellt sich schnell als unbegründet heraus: So lieb er auf den kursierenden Szenenfotos aussah, so abgrundtiefe und hässlich wird er, wenn er seine Rolle als gutmütiger Clown verlässt und seinen Opfern seine wahre Identität preisgibt. Dennoch war Curry in seiner Rolle charismatischer, mit seinem zynischen schwarzen Humor und seinen Sprücheklopfereien in dieser Hinsicht clownesker, doch Skarsgårds Pennywise wurde ein wenig anders angelegt: Er wirkt, als würde er weniger die ganz nahe persönliche Ebene zu den Kindern suchen. Er ist monströser und dialogärmer.
Im Laufe der 135 Minuten verstärkt sich der Eindruck, dass die Autoren gut daran taten, die Schlüsselmomente weitestgehend zu übernehmen und entsprechend zu gewichten, dazwischen jedoch zahlreiche Variationen vorzunehmen: Zum einen betrifft dies die tief sitzenden Ängste, mit denen Pennywise seine Opfer konfrontiert, die, wenn ich nicht irre, komplett neu und angepasst an die 1980er sind, zum anderen die Charakterisierungen der Protagonisten: Nun ist beispielsweise Ben derjenige, der tief in Derrys Stadtgeschichte wühlt, nicht mehr Mike, und Beverly steht stärker im Fokus. Flapsigere Sprüche, insbesondere Richies, und eine an Sex-Appeal stärkere Beverly lassen die Spießigkeit der ‘50er hinter sich, ein „Gremlins“-Plakat im Kinderzimmer und „A Nightmare on Elm Street 5“ auf der Kinoreklame besorgen das Retro-Zeitkolorit ebenso wie weitere popkulturelle Zitate, Frisuren, Kleidung, Farben und erinnern die o.g. „Generation „Es““ an ihre eigene Kindheit. Leider übertrieb man es mit der Integration der unsäglichen Boygroup „New Kids on the Block“ in den Film, deren Fan Ben ist, während einer der Rowdys Anthrax- und Metallica-Shirts trägt – das wäre mir umgekehrt lieber gewesen. Andererseits waren Bowers und Konsorten – wie so viele Antagonisten in Kings Universum – ja auch Teddyboy/Rockabilly-Typen, ohne dass King deren Musik damit beleidigen wollte. Immerhin fanden Metal-Klassiker wie Anvils „666“ und Anthrax‘ „Antisocial“ in den Soundtrack, darüber hinaus in einer besonders schönen Szene auch „Six Different Ways“ von The Cure. Ob man Vokuhila-Schnitte bereits in den ‘80ern auch als solche bezeichnete, sei einmal dahingestellt, doch das mag der deutschen Synchronisation geschuldet sein. Ansonsten scheint man erfolgreich eine nahezu authentische Retro-Parallelwelt erschaffen zu haben.
Sind einem Buch und Erstverfilmung noch so gegenwärtig wie einem Großteil der Zuschauer, besteht das Kunststück für den Regisseur darin, aus den dadurch vorhersehbaren Spannungsszenen
Suspense zu generieren, die aufgrund des Wissensvorsprungs der Zuschauer gegenüber den Protagonisten die Fingernägel in den Kinosessel graben lassen. Dies gelingt Muschietti scheinbar mühelos, indem er nicht in moderne Hektik verfällt, sondern all diese Momente zumindest im Aufbau genüsslich auszukosten scheint und mit dem Vorwissen seines Publikums spielt, das genügend Zeit hat, sich all die Schrecklichkeiten auszumalen, die den bemitleidenswerten Kindern auf der Leinwand gleich zustoßen könnten – und diese dann zu übertrumpfen: mit vielen guten neuen Ideen und kreativen Schreckensszenarien, mit einer sich die Waage haltenden Melange aus Masken- und Make-up-Arbeit sowie akzeptablen, gut umgesetzten
CGI-Effekten, die Pennywise furchterregend bizarr, verzerrt bis animalisch erscheinen lassen, sowie darüber hinausgehenden horriblen SFX, die anatomische und physikalische Gesetze unterlaufen. Jedoch: Wo Wallace mehr auf Atmosphäre setzte, bringt Muschietti verstärkt effekthascherische
Jumpscares ins Spiel, untermauert von der breiten, opulenten Klangkulisse. Nötig gehabt hätte er es nicht. Der neue „Es“ ist generell grafischer und blutiger, was besonders eindrucksvoll die Badezimmerszene Beverlys beweist: Anstelle eines blutigen Waschbeckens beschert uns Muschietti das reinste Blutbad im wahrsten Sinne des Wortes. Und wer Muschiettis „Mother“ gesehen hat, wird sich in der einen oder anderen Inkarnation Pennywise‘ an die (wahrhaft gruselige) Gestalt aus jenem Film erinnern, die Ähnlichkeit ist mitunter (mir etwas zu) frappierend.
Die Unverbrauchtheit, die ich den Autoren attestierte, lässt sich den Jungmimen zweifelsohne ebenfalls zubilligen: Das Kunststück, alle sieben „Loser“-Charaktere mehr oder weniger gleichberechtigt zu berücksichtigen, ist erstaunlich gut gelungen, wenn auch Beverly und Bill im Mittelpunkt stehen, was die Handlung gebietet. Alle Rollen scheinen mir gut und ausdrucksstark besetzt und mit Sophia Lillis fand man für die Rolle der Beverly einen erfrischenden, rothaarigen und sommersprossigen Springinsfeld, der sich mit seiner schauspielerischen Leistung und seiner charismatischen Ausstrahlung offensiv für weitere Rollen empfiehlt. Erstaunlich auch, dass mit Nicholas Hamilton jemand für die Rolle Henry Bowers‘ entdeckt wurde, dessen Gesichtszüge denen des Original-Bowers Jarred Blancard überaus ähnlich sind.
Das Wichtigste aber ist, dass auch diese „Es“-Verfilmung den Ton und die Aussage der Vorlage trifft: Wie durch Freundschaft und Zusammenhalt die Widrigkeiten des Lebens gestemmt werden können, wie sich Heranwachsende von ihrem Elternhaus (teils radikal) emanzipieren und einen eigenen Willen entwickeln, den sie gegen die Erwachsenenwelt verteidigen müssen und wie das Böse sich in erster Linie von Angst nährt – eine Erkenntnis, die angesichts aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen gerade einmal wieder hochaktuell ist. So funktioniert dieser im Übrigen mit diversen wohldosierten humoristischen Momenten angerreicherte „Es“ auch mühelos erkennbar als Metapher auf die Entfremdung vom erwachsenen Umfeld, das hier generell alles andere als gut wegkommt und den Kids keine Hilfe ist, sondern von indifferent bis bevormundend, oppositionell, gefährlich und übergriffig sämtliche negativen Facetten abdeckt, die die Entwicklung der jungen Generation behindern. Die Erwachsenen wirken hier, als hätten sie ihr Leben bereits aufgegeben, wie leblose, fremdgesteuerte Körper, die die Augen vor der Realität verschließen und im krassen Gegensatz zum Lebenswillen ihrer Kinder stehen, den sie erdrücken zu wollen scheinen.
Diese schlagen sich wacker gegen die Gefahren und geben sich gegenseitig Rückhalt in diesem Sommer ihres Lebens, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Dabei wirken sie jedoch bisweilen etwas sehr abgeklärt angesichts des massiven Unheils, mit dem sie sich konfrontiert sehen und hier und da wird’s fast schon
mainstreamig-spielbergesk. Auch die beiden Kussszenen mögen etwas kitschig erscheinen. Dies steht jedoch kaum im Kontrast zu den Aussagen des Films, die dankenswerterweise weder verklausuliert noch mit dem Holzhammer vermittelt werden. Muschietti & Co. gingen offensichtlich mit viel Ehrfurcht vor Kings Roman zu Werke, sodass die Chancen gut stehen, auch eine neue Generation mit der Geschichte um Pennywise und den Club der Verlierer zu prägen – das Potential, manch etwas zu jungen Zuschauer zu traumatisieren, hat der Film allemal. Ob die kalten Schauer, die mich während des Kinobesuchs durchfuhren, mit meinen Erinnerungen an meine damalige Beschäftigung mit dem Stoff zusammenhängen oder genuin auf Muschiettis Film zurückzufuhren sind, vermag ich nicht zu sagen, vermutlich ist es eine Mischung aus beidem.
Auch diese Verfilmung erreicht nicht die Tiefe der literarischen Vorlage und das kann sie auch gar nicht – dafür bräuchte es schon die Erzählzeit und -struktur einer Serie. Deshalb gab es auch keine wirkliche Alternative dazu, bereits mit dem Endkampf der Kinder gegen Es nach 135 nie langatmigen Minuten zu enden und sich den zweiten Teil um die Erwachsengewordenen 27 Jahre später für eine für 2019 angekündigte Fortsetzung aufzusparen, auf die ich mich außerordentlich freue. Mit seinen schon jetzt überragenden Einspielergebnissen dürfte New Line Cinema mit „Es“ einer
der Horrorhits des Jahrzehnts gelungen sein, der einen neuen Meilenstein gesetzt und evtl. eine neue Welle des Genres losgetreten hat. Wenngleich mir Wallace‘ Verfilmung und ihr Ensemble noch immer mehr am Herzen liegen, kann ich zu diesem überaus respektablen neuen Anlauf nur gratulieren. Als selbsternanntes Ehrenmitglied im Club der Verlierer bin ich froh darüber, dass auf diese Weise „Es“ im Bewusstsein einer neuen Generation verankert wird – immerhin wirkt es fast so, als seien vornehmlich diejenigen für die Probleme dieser Welt verantwortlich, die „Es“ nicht gelesen/gesehen oder nicht verstanden haben…