bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Nevermind Kurt (alias „All Apologies - Kurt Cobain“)

Eine der ersten Regiearbeiten des britischen Musik-Dokumentations-Produzenten und -Regisseurs Jon Brewer war der 2006 veröffentlichte, nur rund einstündige Dokumentarfilm „All Apologies: Kurt Cobain 10 Years On“, auf deutscher DVD auch bekannt als „Nevermind Kurt“. Dieser setzt sich noch einmal mit einigen Jahren Abstand mit dem ehemaligen Kopf der US-Grunge-Band NIRVANA, Kurt Cobain, auseinander, der 1994 im Alter von nur 27 Jahren Suizid begangen hatte, nachdem er mit seiner Band zu weltweitem Erfolg gelangt war.

Das Besondere an dieser Doku, wenn man denn so will, ist die Personenauswahl: Brewer ist es gelungen, Menschen vor die Kamera zu bekommen, die noch nicht in jedem zweiten Beitrag über NIRVANA ihr Gesicht in die Linse halten und ihre Statements abgeben durften: Da wäre allen voran Chad Channing, Dave Grohls Vorgänger am Schlagzeug, der aus den Zeiten vor dem kommerziellen Durchbruch zu berichten weiß. Außerdem kommen neben Cobains Ex-Freundin Tracy und seinem Großvater (!) diverse Leute aus dem Musikgeschäfts bin hin zu Journalisten zu Wort, die im Laufe der Bandentwicklung Cobains Weg kreuzten bzw., wenn überhaupt, über einen gewissen Zeitraum begleiteten, vornehmlich ein für die PR zuständiges Duo. Dieses erscheint recht sympathisch und wenig kapitalistisch abgewichst, was nicht zuletzt einen differenzierteren Blick darauf erlaubt, wie Cobain die Band vermarktet wissen wollte und dem Klischee widerspricht, er sei gänzlich uneitel und in keiner Weise an kommerziellem Erfolg und Popularität interessiert gewesen.

Andere wiederum äußern sich ungewohnt kritisch über ihre Zusammenarbeit oder -treffen mit Cobain, was bisweilen erfrischend, hin und wieder aber auch durchaus befremdlich wirkt. Spätestens dann stellt sich auch die Frage, inwieweit man es hier mit Menschen zu tun hat, die Cobain wirklich näher kannten und sich ein Urteil erlauben können bzw. in welchem Ausmaße ihre persönlichen Erfahrungen Rückschlüsse auf die Person Kurt Cobain zulassen – und ob Brewer nicht vielleicht auch schlicht in Ermangelung von Alternativen auf diese Interviewpartner zurückgegriffen hat.

Letztendlich bleibt eine eher an der Oberfläche kratzende, zeitweise inhaltlich mit Vorsicht zu genießende Aneinanderreihung von Interview-Sequenzen in Statement-Form (also ohne die jeweiligen Fragen ebenfalls abzubilden), gespickt mit einigen alten Videoaufnahmen und Fotoeinblendungen, die sich für Fans und sonstige Interessierte evtl. nicht schlecht als Ergänzung zu anderem, tiefergehendem Material anbietet, zweifelsohne aber daran scheitert, den Menschen, Künstler, Partner und Vater Kurt Cobain anhand seiner Weggefährten adäquat zu porträtieren.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Deutschland – Ein Sommermärchen

Nach der unsäglichen Ribbeck-Ära hatte 1990-Weltmeister und Publikumsliebling Rudi Völler das Ruder der deutschen Fußballnationalmannschaft der Herren übernommen, die 2002 eine beachtliche WM in Japan und Südkorea spielte (man ihr aber auch viel Losglück nachsagte), bei der EM 2004 in Portugal aber bereits unrühmlich in der Vorrunde ausschied. Völler trat zurück, alles wieder auf null, Neuanfang. Völlers Weltmeister-Kollege Jürgen Klinsmann übernahm und wurde zunächst überaus skeptisch beäugt, stand u.a. wegen vermeintlicher Amerikanisierung und unpatriotischen Verhaltens (wie des nicht erfolgten Umzugs aus den USA zurück nach Deutschland) in der Kritik. Doch er verjüngte die Mannschaft, musste zum FIFA-Konföderationen-Pokal 2005 antreten und wurde Dritter. Offenbar konnte Klinsmann nun die ersten Früchte der Nachwuchsarbeit ernten und machte zusätzlich mit unorthodoxen Trainingsmethoden von sich reden. Ein Jahr später folgte die WM im eigenen Land und was bereits zuvor nicht gerade klein gewesen war, wurde nun so richtig groß. Deutschland hatte nun die ganze Welt zu Gast, das öffentliche Interesse am Turnier war groß wie selten zuvor. Und siehe da, die Mannschaft um Michael Ballack wirkte nicht nur überaus sympathisch, sondern lieferte auch erfrischenden und erfolgreichen Offensiv-Fußball. Im Viertelfinale kam es zum Elfmeter-Krimi gegen grobe Argentinier, bevor man im Halbfinale gegen Italien ausschied. Vom „Weltmeister der Herzen“ war im Zusammenhang mit den Deutschen die Rede und was ich in Hamburg miterleben durfte, war nicht nur ein Volksfest, sondern ein Fest der Völker. In diesem geilen Sommer verschlug es mich zwar nicht ins Stadion, aber ich verfolgte die Spiele so gut es ging und genoss den Trubel auf den Straßen, auf denen Menschen aus aller Herren Länder jubelnd und feiernd umherliefen und die Einheimischen mehr aus sich herauskamen als je zuvor: Südländisches Flair herrschte, als sich alle Welt zum „Public Viewing“ getauften Rudelgucken zusammenfand, Kneipen, Biergärten und Außengastronomie bevölkerte, die Straßen belebte und tatsächlich einmal alle Vorurteile von „steifen Deutschen“ etc. Lügen strafte. Das Turnier hatte Deutschland fest im Griff und es schien ihm gut zu tun. Ich habe tolle Erinnerungen an das „Sommermärchen“ und war nicht zuletzt auch regelrecht begeistert vom Spiel der deutschen Mannschaft mit Klose, Schweinsteiger, Podolski & Co. Was 2006 in Deutschland stattgefunden hatte, war überragende Werbung für den Fußball und konnte zu Recht endlich einmal stolz machen.

Ein Wermutstropfen ist zweifelsohne, dass die WM-Vergabe nach Deutschland offenbar innerhalb des korrupten Fifa-Systems mit Bestechungsgeldern gekauft worden war, was rund zehn Jahre später herauskam und dazu führte, dass zahlreiche DFB-Funktionäre ihren Hut nehmen mussten, nachdem sie, mit den Vorwürfen konfrontiert, ein klägliches Bild abgaben, als sie sich in Widersprüche verstrickten und sich gegenseitig zu beschuldigen begannen. Dabei sind die geflossenen Millionen m.E. gar nicht das Problem; angesichts dessen, wie viel Geld wofür sonst so verjubelt wird, war es wohl gut investiert und wenn derartige Verfahrensweisen in der Fifa leider längst Usus geworden und andere faktisch gar nicht mehr möglich waren: Was soll’s? Der DFB hätte im Nachhinein selbstbewusst damit umgehen und die Chance nutzen sollen, genau das anzuprangern, statt sich in ein wackliges Lügengebäude zu flüchten. Das eigentliche Problem ist nämlich ein ganz anderes: Es floss anscheinend nicht nur Geld, man musste auch Zugeständnisse an Staaten wie Katar machen, wo entgegen jeglicher Vernunft sowie unter denkbar schlechten Bedingungen und unter unmenschlicher Ausbeutung die WM 2022 stattfinden soll.

Von all dem wusste der deutsche Filmemacher und Fußball-Fan Sönke Wortmann („Das Wunder von Bern“) freilich noch nichts, als er 2006 die Erlaubnis bekam, die deutsche Mannschaft und den ganzen dazugehörigen Trainer- und Organisationsstab mit seiner Handkamera zu begleiten – und zwar bis in die Kabinen und Hotelzimmer hinein. Mit dem fertigen Dokumentarfilm „Deutschland – Ein Sommermärchen“ schenkte Wortmann dem deutschen Fußball und seinem Volk ein schönes Andenken an eine große Zeit und lieferte in diesem Ausmaße nie zuvor gesehene intime Einblicke hinter die Kulissen.

Dabei beginnt er zunächst einmal mit betrübten Gesichtern in der Kabine nach dem verlorenen Halbfinale, bevor er – wie eine Art Rückblende – zu Beginn des Turniers einsteigt. Er vermittelt Eindrücke von Spielvorbereitungen mit Gegneranalysen etc. sowie von der Arbeitsteilung zwischen Klinsmann und Löw: Während Klinsmann als psychologisch versierter Motivator auftritt und damit überrascht, welche Autorität er entwickelt hat, entpuppt sich Löw als gewiefter Taktiker, der tief in die Details geht und der Mannschaft auch einiges an Kopfarbeit abverlangt. Begleitet von vielen Privataufnahmen einzelner Spieler schafft Wortmanns Film zudem ein Bewusstsein für den ganzen Stab, der an einer Nationalmannschaft dranhängt, für den logistischen und organisatorischen Aufwand, wie ein Rad ins andere greift – und greifen muss. Oliver Neuville folgt er sogar bis zum Urintest. Die wichtigsten Spiele werden in Zusammenschnitten gezeigt, wobei ein besonderes Augenmerk natürlich auf die Eskalationen nach dem Argentinien-Spiel gerichtet wird, die eine Sperre gegen Frings nach sich zogen. Nach der Niederlage gegen Italien steigt Wortmann mit der öffentlichen Feier und dem versöhnlichen Sieg im tollen Spiel gegen Portugal um den dritten Platz wieder ein. Ergänzt wird der Film von einigen Interview-Passagen mit Jürgen Klinsmann, die ungefähr einen Monat nach dem Turnier entstanden sind.

Dabei ist „Deutschland – Ein Sommermärchen“ keinesfalls als vollumfängliche Dokumentation des Turniers misszuverstehen! Wortmanns Anspruch war ein ganz anderer: Vornehmlich das zu zeigen, was man woanders eben nicht zu sehen bekommt. Um das möglichst unverfälscht zu erreichen, hält sich Wortmann meist vollständig im Hintergrund, so dass es durchaus nachvollziehbar scheint, dass er für die Spieler u.a. tatsächlich nach einer kurzen Gewöhnungszeit „unsichtbar“ wurde. Auch im fertig geschnittenen Werk gibt es keinen Sprecher o.ä., Wortmann lässt die aneinandermontierten Szenen für sich sprechen und greift lediglich bisweilen durch musikalische Untermalung ein. Was stört, ist die Omnipräsenz der Musik Xavier Naidoos, wenngleich „Dieser Weg“ dann doch auch mit der Zeit und dem Turnier verbunden ist, sicherlich nicht nur wegen Naidoos etwas hilflos umgetexteter Version, die er live im ZDF vorm Halbfinale schmetterte – vielmehr ist es die melancholische Stimmung, die insbesondere der Hintergrundchor erzeugt.

Nichtsdestotrotz wären, gerade aus heutiger Sicht mit einigen Jahren Abstand, Nennungen oder Einblendungen der jeweiligen Spielergebnisse wünschenswert gewesen, denn die Erinnerung verblasst natürlich im Laufe der Zeit. Diese und andere Feinheiten wären sicherlich möglich gewesen, ohne den rohen, authentischen, fokussierten Eindruck des Films zu gefährden. Doch auch ohne formvollendeten dokumentarischen Charakter ist „Deutschland – Ein Sommermärchen“ ein schönes Zeugnis einer Zeit, in der der Grundstein für den Weltmeistertitel 2014 gelegt wurde. Und angenehmerweise ist es auch so gar nichts für sportdesinteressierte „Party-Patrioten“, denn fragwürdige nationale Selbstabfeierei findet hier wenn überhaupt nur am Rande statt und chauvinistische Selbstbeweihräucherung haben weder die Mannschaft noch Wortmann nötig. Befremdlich wird es immer dann, wenn die Politik versucht, auf der Euphoriewelle mitzuschwimmen und das Turnier für eigene Interessen zu instrumentalisieren, doch den Großteils der Bezugnahmen Merkels & Co. auf Mannschaft und Film verbannte man in das Bonus-Material (das mir dann auch wirklich zu viel des „Guten“ ist).

Auch wenn sie damals keinen Titel holte, ist die Elf um später nicht mehr nominierte Spieler wie Odonkor, Metzelder, Frings u.a. noch immer legendär und durch Wortmanns Film auch ein bisschen unsterblicher geworden als andere.

Diese Rezension widme ich allen Einwohnern Deutschlands, die seinerzeit dazu beigetragen haben, dass es ein solch weltoffener Fußballsommer (und nicht nur das) wurde und appelliere gleichzeitig an alle fremdenfeindliche Tendenzen aufweisenden Mitbürger, die zu Zeiten dieser Zeilen scharenweise auf rechte Demagogen hereinfallen, einmal in sich zu gehen und sich an jenen Sommer zurückzuerinnern – und zu prüfen, ob vom damaligen Lebensgefühl nicht vielleicht doch noch etwas übrig ist.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Die Mannschaft

„Wenn man Geschichte schreibt, dann ist das auch irgendwie was Faszinierendes.“ –- Jogi Löw

Während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2014 in Brasilien begleitete das DFB-Kamerateam bestehend aus Ulrich Voigt, Martin Christ und Jens Gronheid den Weg der deutschen Mannschaft bis zu den Feierlichkeiten zum vierten Weltmeistertitel. Zusammengeschnitten zum rund 90-minütigen Dokumentarfilm „Die Mannschaft“ kam das Material im Herbst desselben Jahres ins Kino.

Thomas Müller stolpert erst beim Freistoß-Training und anschließend beim Freistoß im Achtelfinalspiel gegen Algerien, anschließend hagelt es sieben Tore gegen den Gastgeber im legendären Halbfinale – mit diesen bemerkenswerten Bildern eröffnet der vom DFB und der FIFA produzierte „Die Mannschaft“, der die WM fortan aus Sicht des deutschen Kaders chronologisch Revue passieren lässt: Trainingslager in Südtirol, Anreise nach Brasilien, die Spiele der Gruppenphase (u.a. das pikante Spiel gegen die USA, deren Trainer ausgerechnet Jürgen Klinsmann war) und der Finalrunden, der glorreiche Sieg in der Verlängerung des hart umkämpften Finals gegen Argentinien und die öffentliche Titelzelebration in Berlin.

Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Der nachträglich mit einigen Aussagen des Managers Oliver Bierhoff und Trainers Joachim Löw sowie diverser Spieler angereicherte „Die Mannschaft“ ist ein Werbefilm für die deutsche Nationalmannschaft: Mit Zooms und Zeitlupen aufgehübschte und von Helmut Zerlett mit stimmungsvoller Musik unterlegte Hochglanzbilder zeigen vornehmlich fröhliche Gesichter, attraktive Szenen der deutschen Spiele, sympathisches Auftreten der Mannschaft und viel Spaß, beschwören Teamgeist und Zusammenhalt – und lassen keinen Raum für Kritik. Zwischen Spielausschnitten, Statements, Trainingsbildern und Schnipseln aus Pressekonferenzen verliert Müller eine Golfwette und muss anschließend ein Dirndl tragen, versucht sich Christoph Kramer mehr schlecht als recht als Sänger und wird immer wieder geflachst und gescherzt, bis es erneut, gern auch in kraftvollen Motivationsreden und Kabinenansprachen von Trainer Löw, Kapitän Lahm oder DFB-Niersbach, um die Fokussierung auf dem Platz, um das Weiterkommen im Turnier geht (wenn nicht gerade der Zeugwart bei der Arbeit, ähnlich wie im Bonusmaterial zu Sönke Wortmanns „Sommermärchen“-Film, gezeigt wird). Die deutsche Delegation zeigt sich außerdem als respektvoller, an Land und Leuten interessierter Gast, der einen Indianerstamm ebenso besucht wie Sportschulen, während sich die hochdotierten Kicker als Stars zum Anfassen geben. Und nachdem man den Gastgeber und Favoriten mit 7:1 aus dem Turnier gefegt hat, lässt man sich nicht etwa zu demütigenden Gesten und Jubelarien hinreißen, sondern spendet den Verlierern Trost, zeigt Verständnis und seinerseits Demut.

Klar, das war tatsächlich so und ist auch zweifelsohne sympathisch, nur ist es eben nicht die ganze Wahrheit dieser WM. In Brasilien formten sich seit 2013 massive Proteste gegen die exorbitant hohen Kosten, die das Land bereitwillig ausgab, statt sich um sein marodes Gesundheits- und Bildungssystem zu kümmern und zu versuchen, die Armut der Bevölkerung endlich in den Griff zu bekommen. Zwangsumsiedlungen und Entrechtungen waren die Folge hoher FIFA-Auflagen, bei den Bauten der protzigen und nach der WM zumeist nutzlosen Prunkstadien starben Arbeiter etc. Die Proteste waren nicht nur verständlich, sondern auch ernstzunehmen, die Polizei Brasiliens ging überhart gegen Demonstranten vor und die Stimmung war regelrecht vergiftet – kein gutes Omen für eine friedvolle WM im Zeichen des Sportsgeists und der Völkerverständigung. Die WM-Berichterstattung war zumindest zunächst noch geprägt von Berichten über den Unmut der brasilianischen Bevölkerung und die Kombination aus FIFA-Gier, Gleichgültigkeit der brasilianischen Regierung und Brutalität der Exekutive war und ist beschämend.

Nun geht es indes in „Die Mannschaft“ vorrangig um dieselbe und da ist eben das Maximum an kritischer Auseinandersetzung mit der Außenwelt das Interview mit Per Mertesacker nach dem schwierigen Algerien-Spiel, in dem er (zurecht) dem Reporter erfrischend ungekünstelt sein Unverständnis für die Fragestellung demonstriert. Dass die viel mit ihren Smartphones beschäftigten Spieler sicherlich auch anderes aufgeschnappt und diskutiert haben, lässt sich anhand dieser Dokumentation lediglich erahnen. Natürlich kann man darüber streiten, inwieweit es Pflicht dieses Films gewesen wäre, die Veranstaltung auch kritisch zu betrachten, ob man das überhaupt erwarten kann und darf, ob eine Dokumentation über das DFB-Team vom DFB selbst überhaupt eine gute Idee ist oder ob nicht gerade die Konzentration auf die titelgebende Mannschaft die besondere Stärke dieses Films ist, der sich damit von anderen, die WM als Ganzes behandelnden Filmen abhebt.

Eines ist „Die Mannschaft“ in jedem Falle: Ein Zeugnis des aktuellen bzw. „damaligen“ Selbstverständnisses der DFB-Auswahl, der Außenwirkung, die man transportiert und pflegt und der Ideale, die man verkörpert bzw. verkörpern möchte: Zusammengefasst zum „Geist von Campo Bahia“ hat das viel mit Respekt, Raum für Individualität, Balance und Ausgleich und eben mit taktischer Intelligenz, Kampf- und dem bereits genannten und hier besonders herausgekehrten Teamgeist zu tun, was auf entwaffnende Weise präsentiert und schmackhaft gemacht wird – und allen während dieser Turniere aufkeimenden Nationalismus-Debatten zum Trotz ohne Hurra- und Party-Patriotismus oder sonstige fragwürdige Auswüchse auskommt.

Primär aber ist „Die Mannschaft“ noch einmal etwas anderes: Ein sich nah an inszenatorischer Perfektion orientierender kompakter Rückblick auf das Turnier für Fans der DFB-Auswahl, die 90 Minuten lang noch einmal Freudentaumel und Gänsehaut, Exotik und Pathos und nicht zuletzt ihren Lieblingssport auf welthöchstem Niveau nachempfinden können, mit einigen intimen Bildern à la Wortmann aus den Kabinen oder angetrunkenen Busfahrten und Bar-/Disco-Besuchen nach dem Titelsieg, nicht nur deshalb viel Spaß, etwas Dramatik, doch diesmal ohne Tragik. Am Ende gibt’s den Schulterschluss zu den vorausgegangenen Generationen mit Bildern vorheriger deutscher WM-Siege und Andreas Bouranis „Ein Hoch auf uns“, jene inoffizielle deutsche WM-Hymne, erklingt noch einmal. „Die Mannschaft“ ist die filmgewordene Begeisterung für die Nationalelf, diese emotionale Angelegenheit, die einen wider jeder Vernunft alles andere ausklammern und mit elf Bolzern tausende Kilometer weit entfernt mitfiebern lässt – gewissermaßen aber auch perfektes Propaganda-Kino. Wie gut, dass es da „nur“ um die wichtigste Nebensache der Welt geht.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Adalmar
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von Adalmar »

Wieder mal sehr gut geschrieben, Hut ab!
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buxtebrawler
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Adalmar hat geschrieben:Wieder mal sehr gut geschrieben, Hut ab!
Vielen Dank :verbeug:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Schulmädchen-Report, 8. Teil - Was Eltern nie erfahren dürfen

„Benehmt euch wie Menschen, wenn’s auch schwerfällt!“

„Schulmädchen-Report“, der zweite – aus dem Jahre 1974, versteht sich. Insgesamt war man bereits bei Teil 8 angelangt, für den Ösi-Schmierfilmer Ernst Hofbauer abermals auf dem Regiestuhl platznahm. Den Eindruck eines tatsächlichen Reports versucht man erst gar nicht mehr zu erwecken, sondern präsentiert einen recht herkömmlichen Episodenfilm mit für diese Filmreihe ausgedehnterer Rahmenhandlung.

Diese besagt, dass sich eine Schulklasse auf der Fahrt ins Landschulheim befindet – mit dabei ein neuer Lehrer, auf den sofort alle Mädels scharf sind: Dr. Steinbach (Claus Tinney, „Auch Ninotschka zieht ihr Höschen aus“). Dies animiert die Backfische offenbar, untereinander ihre sexuellen Erfahrungen auszutauschen, die in meist albern-komödiantischen, Slapstick-lastigen Episoden visualisiert werden, so auch in der ersten, von fiesem saarländischen Dialekt geprägten: Gisela (Christine Szenetra, „Ferdinand, der Pussyschreck“) gelingt es endlich, den Gärtner-Azubi daheim zu verführen, nachdem sie zuvor schon halb verzweifelt drohte: „Wenn’s heute nicht klappt, dann strick‘ ich mir aus meiner Muschi ‘nen Schal!“

Ausgiebigen Nackedei-Zeitlupenplanschereien darf man beiwohnen, als je zwei Weibchen und Männchen dem Nacktbaden frönen und sich in nun rheinländischem Dialekt Dialoge liefern à la „Ich muss pinkeln!“ – „Das kannst du später im See machen!“ – „Nee, da werden die Fische geil!“ Weiter geht’s u.a. mit der Sexualisierung des spießigen Mauerblümchens von Biologie-Lehrerin Irene Eberhardt (Elke Deuringer, „Der Ostfriesen-Report: O mei, haben die Ostfriesen Riesen“), die nach ihrer Verführung durch Hans Weimann (Jürgen Schilling, „Die dressierte Frau“) zur Sexbombe mutiert. Susanne (Yvonne Dwyer, „Hurra, die Möse brennt!“) bändelt mit dem Geschäftsfreund ihres Vaters an und kommentiert im Billard-Duktus, wie sie’s mit ihm treibt. Als sie’s unter freiem Himmel tun, bekommt der Gute jedoch Bandscheibenprobleme…

Nach einer Stunde kommt man endlich im bayrischen Landschulheim an, in dessen Nähe Annettes (Manuela Widman, „Schüler-Report - Junge! Junge! Was die Mädchen alles von uns wollen!“) Freund zeltet, der sie geschwängert hat. Evi (Puppa Armbruster, „Alpenglühn im Dirndlrock“) schleicht sich nackt in Dr. Steinbachs Zimmer und stürzt sich wollüstig auf ihn. Dieser hat indes anscheinend keinen der vorausgegangenen „Schulmädchen-Reports“ gesehen und deshalb nicht die der Reihe eigene Moral verinnerlicht, dass er diese Situation prima ausnützen könne und solle, sondern wehrt sich und scheucht seine Schutzbefohlene heraus. Doch durchtrieben, wie diese Biester nun mal sind, sinnt sie auf Rache. Ihre pubertär-wirren Eifersuchtsphantasien, dass er es mit einer Mitschülerin treibt, werden natürlich ebenfalls filmisch verdeutlicht. Es stellt sich heraus, dass Dr. Steinbach mit Schülerin Ingeborg (Gisela Schwartz, „Beim Jodeln juckt die Lederhose“) verheiratet und eine treue Seele ist.

Als spektakulärer erweist sich allerdings ein Nebenkriegsschauplatz, denn Annette und ihr zeltender zukünftiger Vater ihres Ungeborenen werden zusammen von der Lehrerin erwischt und Annettes Erzeuger (Wolf Ackva, „Venus im Pelz“) eingeschaltet – und der ist nicht nur kräftig auf Zinne, sondern zu allem Überfluss auch noch Staatsanwalt. Schnell beschließen Annette und ihr Freund, dem Lotterleben den Rücken zu kehren und zu heiraten, so dass alsbald wieder alles in bester deutscher Ordnung ist. Oder wenigstens fast.

Der achte Teil der fragwürdigen Reihe ist bei weitem nicht mehr so frauenverachtend wie seine Vorgänger, sogar eher im Gegenteil. Vielmehr handelt es sich um eine handelsübliche billige Sex-Klamotte, die nach der Rückkehr zu ihrer Rahmenhandlung ernstere Töne anschlägt und sich generell stärker auf selbstbewusste junge weibliche Sexualität mit ihren Licht- und Schattenseiten konzentriert als auf die Beleidigung von Teenagerinnen als dauergeile Flittchen, die es insbesondere auf Herren mittleren Alters abgesehen haben – wenngleich der Film nicht ohne letzteres auskommt, jedoch im ersten Fall – zumindest gemessen an vorherigen Filmen – fast entwaffnend natürlich und im zweiten den männlichen Part moralisch integer agieren lassend sowie das Verhalten der Schülerin als klar grenzüberschreitenden Ausnahmefall deklarierend; all das selbstverständlich unter der Prämisse des Sexploitation-Kinos und unter Beachtung von dessen Regeln. Die großangelegte, ärgerliche und entlarvende Heuchelei wurde hier glücklicherweise endlich einmal zurückgeschraubt, wohlgemerkt ohne darüber hinaus auf auch nur irgendeine Weise einen filmisch wertvollen Wurf zu landen, sich stattdessen einreihend in typische deutsche Sexfilm-Produktionen mit ihrem abtörnenden, aus der ursprünglichen Verklemmtheit resultierenden Humor und mit immer austauschbarer wirkenden Nackt- und Softsex-Szenen nach wie vor etwas unbeholfen hantierend.

Der Sprecher aus dem Off klingt dann auch etwas verräterisch, als er mit versöhnlichen Worten schließt und seine Betonung darauf schließen lassen könnte, es habe sich um den ersten „Schulmädchen-Report“ gehandelt, der wirklich auf Tatsachen beruht… Aber mehr als 3,5 von 10 notgeilen Fischen bringen da auch keine Tinte auf den Füller.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von karlAbundzu »

Ich finde es wunderschön, wie Du die anderen Filmtitel erwähnst, in denen die Schauspieler noch so mitspielen, :lol:
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

karlAbundzu hat geschrieben:Ich finde es wunderschön, wie Du die anderen Filmtitel erwähnst, in denen die Schauspieler noch so mitspielen, :lol:
Das hebe ich mir immer bis ganz zum Schluss auf, macht nämlich am meisten Spaß :mrgreen:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

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Amok Train

Produzent Ividio G. Assonitis jagte 1989 den US-Amerikaner Jeff Kwitny ins heute ehemalige Jugoslawien, um eine krude Mischung Okkult- und Splatter-Horror, Fantasy- und Katastrophenfilm zu drehen, die tatsächlich in italienisch-US-amerikanisch-jugoslawisch-niederländischer Koproduktion entstand und von ihm als dritter Teil der vollkommen zusammenhanglosen „Beyond The Door“-Pseudoreihe vermarket wurde. Kwitny hatte zuvor lediglich den Horror-Thriller „Iced – Tod auf Skiern“ inszeniert und war im Anschluss anscheinend lediglich noch zweimal Anfang der ‘90er als Regisseur in Erscheinung getreten.

Unter Führung Professor Andromoleks (Bo Svenson, „Overkill – Durch die Hölle zur Ewigkeit“) reist eine Studentengruppe ins ländliche Jugoslawien. Was sie nicht ahnt: Andromolek steht im Bund mit dem Teufel, der sich Studentin Beverly (Mary Kohnert, „Das bucklige Schlitzohr“) als Braut ausgesucht hat. Während eines alles andere als zufälligen Großbrands in der ersten Nacht fliehen einige Studenten und springen auf einen vorbeifahrenden Zug auf. Doch dieser wird vom Gehörnten persönlich gesteuert...

So entpuppt sich der Amok-Train als das exakte Gegenteil der beispielsweise vom Hamburger Verkehrsverbund eingesetzten Zugmaschinen und bringt nicht etwa bei der kleinsten Unwägbarkeit die komplette Infrastruktur zum Erliegen, sondern benötigt nicht einmal durchgehende Gleise, springt behände über Stock und Stein und rast geschwind durchs Dickicht, stets den engen Zeitplan im Blick. Das erinnert zeitweise an eine besondere Gaga-Variante des „Speed“-Sujets und ist trotz durchaus eindrucksvoll anzusehenden, altertümlichen Stahlungetüms von einem Zug in der Tat reichlich trashig ausgefallen – insbesondere, wenn der Amok-Zug in manch Szenen plötzlich durch nicht einmal halb so eindrucksvolle Miniaturmodelle ersetzt wird. Dafür macht er aber quasi keine Gefangenen und zersplattert manch Fahrgast fieser als ein ICE in Eschede.

Die Handlung gibt unterdessen nicht sonderlich viel her, zeichnet die ländliche Bevölkerung Jugoslawien als kauzige, unheimliche Gruselgestalten und verfällt auch gern mal in befremdlichen Fantasy-Kitsch. Da „Amok Train“ aber ohne sonderliche Vorkenntnisse durchaus als krude Melange Genrefreunden Laune bereitet, will ich gar nicht zu sehr auf die etwas schwachbrüstige Dramaturgie eingehen, um nicht Gefahr zu laufen, sie sämtlicher Spannung zu berauben. Als Spät-’80er-Genre-Beitrag in außergewöhnlichem Ambiente ist „Amok Train“ in jedem Falle von Interesse und sein Härtegrad mit seinen launigen Spezialeffekten trägt das Übrige zu seinem Unterhaltungswert bei.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Sleep Tight

„Ich kann einfach nicht glücklich sein!“

Regisseur Jaume Balagueró ist zu einem der großen Namen des spanischen Thriller- und Horror-Kinos der jüngeren Vergangenheit avanciert und scheint spätestens mit „[•REC]“ ein gewisses Faible für Wohnblocks entwickelt zu haben, wie zumindest sein 2011 entstandener Psycho-Thriller „Sleep Tight“, ein Home-Invasion-Film der subtileren Art, Glauben machen könnte. Achtung: Die folgenden Notizen enthalten Spoiler.

César (Luis Tosar, „Allein unter Nachbarn“) ist akut suizidgefährdet und nicht in der Lage, wie andere Menschen Glück und Freude zu empfinden. Seine alte Mutter vegetiert im Krankenhaus, wo er sie regelmäßig besucht und mit ihr redet, ohne dass sie etwas erwidern könnte. In seiner dunklen Wohnung hört er psychotherapeutische Call-in-Radiosendungen, in denen andere ihre Probleme schildern. Doch seinen Job als Hauswart eines Wohnblocks in Barcelona kann er nutzen, den Mietern unbemerkt das Leben schwer zu machen. Besonders abgesehen hat er es auf die junge, lebenslustige Clara (Marta Etura, „DunkelblauFastschwarz“), deren sonniges Gemüt ihn zu kreativen Höchstleistungen motiviert, um sie endlich innerlich zu brechen – denn nur am Unglück anderer kann er sich noch ergötzen; nur aus der Pein, die er verursacht, schöpft er seinen Lebensmut...

„Ich will, dass diese scheiß Schlampe das Lächeln verlernt!“

Im Prolog sehen wir César am Rand eines Häuserdachs stehen, im Begriff, seiner irdischen Existenz ein Ende zu bereiten. Aus dem Off hört man ihn sinnieren, dass er einfach nicht glücklich sein könne. Doch fehlt es ihm zur letzten Konsequenz und so tritt er morgens um 5:00 Uhr erneut seine Schicht als Hauswart an. Balagueró verwendet relativ viel Zeit darauf, Césars Charakter zu skizzieren, beginnend mit dem Kontrast zwischen seiner düsteren und tristen Wohnung und dem sonnendurchfluteten, lebendig wirkenden Pendant der fröhlichen Clara. Ein kleines Nachbarsmädchen lässt sich für sein Schweigen von César bezahlen, der wiederum Ärger mit seinem Vorgesetzten hat. Dieser hat ihn auf dem Kieker und reagiert auf jede Verspätung mit Kündigungsandrohungen – was César nach ein paar Ausreden herunterschluckt. Nach außen hin ist er freundlich und hilfsbereit, bei den Bewohnern beliebt. Clara jedoch schickt er täglich anonyme Briefe und belästigt sie mit anonymen SMS – was vergleichsweise harmlos gegen seine nächtlichen Aktivitäten in ihrer Wohnung ist: Berufsbedingt verfügt er über Schlüssel zu sämtlichen Mieteinheiten und so lauert er in aufgrund der langsamen Entfaltung des Sujets besonders gruseligen Szenen unter ihrem Bett, wo er wartet, bis sie eingeschlafen ist, um sie anschließend zu chloroformieren. So kann er in Ruhe ihre Kosmetika vergiften, dass sie Ausschlag bekommt oder für eine Kakerlakenplage in ihrer Wohnung sorgen – und sich zu ihr ins Bett legen...

„Zum ersten Mal hatte ich wirklich einen Grund zum Leben!“

Unaufgeregt und mit dem Zuschauer als Komplizen – die Handlung wird fast komplett aus Césars Sicht erzählt – entspinnt „Sleep Tight“ ein soziopathisches Beispiel für extremes Nachstellen, bei dem es dem Stalker nicht mehr darum geht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich am erzwungenen Kontakt zu laben, sondern um pure Destruktivität ohne jeglichen amourösen Hintergrund. Damit einher geht hier ein Spiel mit Urängsten wie der unterm Bett lauernden Gefahr und dem unbemerkten völligen Verlust von Privatsphäre. Wochentagseinblendungen dienen der Orientierung und so weiß man, dass es Dienstag ist, als das neunmalkluge Nachbarsgör César erwischt und neue Forderungen stellt. César plauscht häufig mit der älteren einsamen Hundeliebhaberin Verónica (Petra Martínez, „Das Novembermanifest“) aus dem Haus, der er schließlich mit nur wenigen seine negative Weltsicht ausdrückenden Sätzen den Lebensmut nimmt. Zwar scheint die Polizei César aufgrund der Briefe und SMS auf die Schliche zu kommen, doch gelingt es ihm, erfolgreich den Verdacht auf den Sohn der Putzfrau zu lenken. Die lebenslustige und sich scheinbar durch nichts aus der Ruhe bringen lassende Clara bringt César indes in eine wahre Bredouille, als sie unerwartet mit einem Freund nach Hause kommt und Sex mit ihm hat, während César unter ihrem Bett liegt. Als er aus Versehen sein eigenes Chloroform einatmet, entwickelt sich eine kreuzgefährliche Situation, ein Ablauf an Hochspannungsszenen zwischen Suspense und Thrill: Er will fliehen, kommt jedoch nicht aus der Wohnung, schläft in der Badewanne, wird am nächsten Morgen nass und beinahe entdeckt. Kurz darauf wird er tatsächlich gestellt, redet sich aber mit viel Geschick heraus.

Diese Sequenz, in deren Anschluss er an Claras positiver Grundeinstellung verzweifelt und sich erneut am Dachrand wiederfindet, zählt zu den Höhepunkten des Films, der sich daraufhin langsam in Richtung Finale bewegt und die Schraube der Gemeinheiten weiter anzieht: Clara ist schwanger, doch ihr Freund hat stets mit einem Kondom verhütet... Dieser ist es schließlich, der Beweismittel gegen César findet und ihm eine Falle stellt, die tödlich endet – jedoch nicht für César, der es wie Selbstmord aussehen lässt. Dennoch wird die Schlinge um Césars Hals langsam enger – Nachbarsmädchen und Polizei sind ihm auf der Schliche –, aber erneut gelingt es ihm, sich herauszuwinden, was den Zuschauer auf eine wahnsinnige Achterbahnfahrt der Gefühle schickt. Mit einer bösen Pointe endet „Sleep Tight“ und manch Zuschauer wird sich mit Einsatz des Abspanns verdutzt fragen, ob er in den Szenen, in denen César aufzufliegen drohte, tatsächlich mit ihm gefiebert hat. In der Tat gelingt es Balagueró und Co., das Publikum mindestens zeitweise entsprechend zu manipulieren, und zwar ganz ohne niedere Instinkte anzusprechen, die es Clara ebenfalls hassen lassen würden. Hierzu führt die eingeengte Perspektive – während César recht umfassend charakterisiert wird (wenn auch ohne seine Lebensgeschichte aufzurollen und „Gründe“ zu liefern), bleibt Clara tatsächlich über weite Teile das fröhliche, aufgeweckte, aber eben auch oberflächliche Mädchen von nebenan. Als Zuschauer pendelt man so zwischen schwarzhumorigem Amüsement, Empathie und Abscheu. Luis Tosar ist zudem ein perfekter Schauspieler in zweierlei Hinsicht: Darin, wie er seinem gesamten Umfeld permanent etwas vorspielt und wie er sich als Darsteller in den von ihm getragenen Film einfügt bzw. vielmehr durch ihn führt. Auch ohne ein umfassendes Psychogramm darzustellen, schürt „Sleep Tight“ die diffuse, latente Sorge vor diesem einen einzelnen Irren, der, sobald sich einmal die Wege kreuzen, nicht mehr von einem lässt und nicht davor scheut, Existenzen zu zerstören. Wie „Sleep Tight“ nach und nach eskaliert und schließlich auch an Tempo gewinnt, ist dramaturgisch fesselnd und sein längere Zeit gezügeltes Erzähltempo einmal mehr eine iberische Absage an hektisch geschnittene Hollywood-Prätentiösen. Trotz seiner genregerechten Übertreibungen und sich zumindest bei näherer Überlegung als gröbere Unwahrscheinlichkeiten herauskristallisierenden entscheidenden Details ist Balaguerós Film ein unbedingt sehenswerter Psycho-Thriller, der sich ferner auf stilvolle Weise dezent vor Inspirationen à la Polanski u.ä. verbeugt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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