Freistatt - Marc Brummund (2015)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3893
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Freistatt - Marc Brummund (2015)

Beitrag von Maulwurf »

 
Freistatt
Deutschland 2015
Regie: Marc Brummund
Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Katharina Lorenz, Max Riemelt, Langston Uibel, Anna Bullard, Justus Rosenkranz, Megan Gay, Katharina Schütz, Uwe Bohm, Ole Joensson, Hendrik von Bültzingslöwen, Enno Trebs, Hans-Peter Korff, Anouk Bödeker, Leonard Boes


Freistatt.jpg
Freistatt.jpg (95.47 KiB) 44 mal betrachtet
OFDB

Und wenn Du nicht artig bist, kommst Du ins Heim. Gibt es in meiner Generation jemanden, der diesen Spruch nicht kennt? Der selbst von liebevollsten Eltern diesen Satz nicht ab und an gehört hat, in den 60ern oder 70ern des vergangenen Jahrhunderts?

Wolfgang hat zwar eine liebevolle Mutter, aber sein Stiefvater will ihn los sein. Und da Wolfgang von Grund auf rebellisch ist, wie so viele Jugendliche zwischen 14 und 18, schickt er Wolfgang ins Heim. Das bedeutet Prügel, jederzeit und ohne Grund. Das bedeutet Zwangsarbeit im Moor beim Torfstechen. Das bedeutet Appellstehen auf dem Hof. Kein Abendessen für alle beim Fehlverhalten Einzelner. Und immer wieder Schläge und Prügel, immer wieder Gewalt. Wolfgang ist hart, Wolfgang ist knallhart, und er lässt sich nicht brechen. Er bettelt um Schläge, und wenn er sie bekommen hat tritt er stahlhart zurück und bekommt daraufhin wieder Schläge. Aber auch Wolfgang kann die seelische und körperliche Folter nicht ewig ertragen, und zusammen mit seinem Zuträger Anton flüchtet er. Doch wohin kann ein 16-jähriger Heiminsasse flüchten? Die Autoritätspersonen haben Ansehen und Recht sowieso immer auf ihrer Seite …

Und aus diesem Grund wird es auch weiterhin die Gewalt sein, die den Alltag Wolfgangs bestimmt. Die Prügel mit der kleinen Peitsche, auch mal ein Schlag mit dem Spaten, oder, in ganz aussichtslosen Fällen, das Aufhängen in groben Hanfseilen, die sich dann unter dem Gewicht des eigenen Körpers immer tiefer ins Fleisch schneiden. Folter wird so etwas genannt. Oder Erziehungsmaßnahme, je nachdem, an welchem Ende des sozialen Spektrums der Sprecher verortet wird. Und Gewalt erzeugt Gegengewalt, das ist nichts Neues. Wolfgang wird systematisch zu einem Menschen erzogen, dessen Sprache Gewalt sein wird. Wo das hinführt? Das sehen wir ziemlich am Ende, wenn der spaßige Griff nach Wolfgangs Kuchen in einer gebrochenen Nase endet. Und auch der Name Hanebuth fällt gegen Ende des Films sicher nicht zufällig.

Es ist aber nicht nur die massive körperliche Gewalt, vielmehr hat die seelische Gewalt den Löwenanteil daran, dass der Film kaum erträglich ist. Der Gruppenzwang als Mittel zur Unterdrückung mag nichts Neues sein, und ist in gedrillten Gemeinschaften aus gutem Grund schon seit Jahrhunderten Mittel zum Zweck, was ihn aber immer noch nicht erträglicher macht; und auch das permanente Antreiben der Häftlinge, Verzeihung, Zöglinge, unter Verwendung ständiger Erniedrigungen, mag vielleicht Usus sein in Straflagern. Gerade durch die Arbeit im Moor, das Torfstechen unter schwersten Bedingungen, und das von den Jugendlichen gesungene Lied „Wir sind die Moorsoldaten ..:“, werden Assoziationen zu Konzentrationslagern aufgebaut; ob das nun berechtigt sein mag oder nicht, allein durch diese Gedankenverbindung kann sich dem Zuschauer schnell der Magen umdrehen. Und wir reden hier, nur zur Erinnerung, immer noch von Jugendlichen. Von jungen halbwüchsigen Männern zwischen, ich sag mal, dreizehn und achtzehn, die in einer rebellischen Zeit einen Hang zum Widerwort hatten, und dadurch im sozialen Raster ganz schnell nach unten durchgereicht wurden. Bis hin eben zu den sogenannten Erziehungsheimen, die sich hier als Straflager mit Zwangsarbeit präsentieren, und für die die Verantwortlichen auch heute noch lebenlänglich weggesperrt gehören. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Heimleiter im Film, den wir recht früh kennenlernen, und der auch bis zum Ende ein zuverlässiger Begleiter des Zuschauers ist, dassddieser Mann sonderlich unrealistisch dargestellt ist. Das Wort Kotzbrocken wäre für so eine Kreatur noch ein Kosename, und dessen Macht gegenüber den „Schutzbefohlenen“ lässt auch im friedlichen Zuschauer schnell Gewaltphantasien wach werden ...

Ich schrieb oben bereits, dass der Film kaum erträglich ist. Die ganze Stimmung, die Gewalt, alles was nur auf das Zerbrechen von Persönlichkeiten ausgerichtet ist, das ist schon beim Zuschauen kaum auszuhalten, und das Wissen, dass diese Vorgänge tatsächlich stattgefunden haben, im deutschsprachigen Raum teilweise auch erst vor wenigen Jahren, macht es nicht besser. FREISTATT ist sehr hartes Brot, und das Zuschauen tut stellenweise verdammt weh. Ein Grund mehr, ihn anzuschauen. Schwer zu schlucken. Und darüber nachzudenken, wie gut es einem geht. Barry Levinsons thematisch sehr naher SLEEPERS ist schon ein bitterer Film, aber FREISTATT toppt diesen durch den Schauplatz in Deutschland, durch seine Heimatbezogenheit und die Umgebung und die Details, die uns alle hier wohlvertraut sind. Ein Film zum hinterher schlecht schlafen …

8/10

Zum tieferen Verständnis:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moorsoldaten
https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/ ... e-dahinter
Der Sieg des Kapitalismus ist die endgültige Niederlage des Lebens.
(Bert Rebhandl)
Antworten