bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Baby Love

„Ich möchte nie alt und hässlich werden!“

Die Verfilmung des gleichnamigen (mir unbekannten) Romans Tina Chad Christians erfolgte auf Grundlage einer Drehbuchadaption, an der gleich fünf Autoren beteiligt waren, und wurde im Jahre 1968 vom Schotten Alastair Reid („Das Haus der Schatten“) inszeniert. Im März 1969 lief „Baby Love“ in US-Kinos an und passte mit seinen Freizügigkeiten zum neuen Zeitgeist nach der sexuellen Revolution, bedient sich als Coming-of-Age-Drama mit Lolita-Thematik und erotischen Anleihen aber auch eines besonders problematischen Themas.

Während die 15-jährige Luci (Linda Hayden, „Wie schmeckt das Blut von Dracula?“), die gerade zaghaft das andere Geschlecht für sich entdeckt, nach der Schule mit einem Jungen knutscht (und auf dem Nachhauseweg noch einen Rentner foppt), begeht ihre Mutter Liz (Diana Dors, „Das Dunkel der Nacht“) Selbstmord. Luci findet ihre tote Mutter und wird anschließend von deren Ex-Freund Robert (Kevin Barron, „Der sechste Kontinent“), einem erfolgreichen und wohlsituierten Londoner Arzt, in dessen Familie aufgenommen. Dort ist Luci zunächst sehr unglücklich und leidet unter Halluzinationen und Alpträumen. Ihre neue Stiefmutter Amy (Ann Lynn, „Das Grauen auf Black Torment“) kümmert sich jedoch aufopfernd und liebevoll um sie und ist sehr verständnisvoll. Sohn Nick (Derek Lamden, „The Scarlet and the Black“) beginnt, sich zu Luci hingezogen zu fühlen, und sogar Amy scheint eine stärkere Zuneigung zu Luci als zu ihrem Mann zu entwickeln. Doch Luci hat andere Interessen…

„Baby Love“ mischt Motive aus Vladimir Nabokovs „Lolita“ und Pier Paolo Pasolinis „Teorema – Geometrie der Liebe“ mit eigenen Ideen und erzählt die Geschichte vornehmlich aus Lucis Perspektive. Regisseur Reid und Kamerachef Desmond Dickinson sind immer wieder stark um eine einzigartige Optik bemüht, inszenieren Lucis Zubettgehen als für sie furchterregende Konfrontation mit den Einrichtungsgegenständen und bedienen sich schneller Zooms und Fischaugenperspektiven, später grüner Farbfilter. Den 15-jährigen Mittelpunkt des Interesses, die von der damals tatsächlich erst 15- oder 16-jährig debütierenden Linda Hayden gespielte Luci, geht mit Amy Klamottenkaufen und zeigt sich davon begeistert – und in Unterwäsche. Mit Nick geht sie ins Kino, wo sie ein älterer Mann belästigt, was sie sich zu Nicks Entsetzen gefallen lässt. Daraufhin knutscht sie mit Nick, der – und damit auch das Publikum – sie abends zuhause nackt von hinten sieht. Beim Besuch eines Rockkonzerts gibt’s die obligatorischen Tanzszenen; und als sie dort Männer kennenlernt, zerrt der eifersüchtige Nick sie raus, womit sich die Kinoszene gewissermaßen wiederholt.

Die Momente, in denen Luci Haut zeigt, werden also eingeordnet in eine Charakterisierung der Beziehung zwischen ihr und Amy sowie Nick, die in erster Linie einhergeht mit mehr oder minder typischer Teenager-Freizeitgestaltung. Zweifelsohne ist Linda Hayden ein bildhübsches, gut entwickeltes junges Fräulein, von Sexploitation kann hier lange Zeit aber keine Rede sein. Je nach Sicht- und Auslegungsweise mag sich dies ändern, wenn sie sich beim Sonnenbanden oben ohne zeigt, wenngleich diese Szene untermauern soll, wie naiv und spielerisch sie mit ihren Reizen umgeht. Stiefvater Robert ist zunehmend genervt, während Sohnemann Nick scharf auf Luci ist, sie ihn aber immer wieder abblitzen lässt. Auch bis hierhin quasi ein gutes Stück weit Teenagerinnen-Normalität und Luci als sich ausprobierende und Grenzen auslotende Göre mit den dazugehörenden Gefühlschwankungen.

Dies wird sich im weiteren Verlauf radikal ändern, wobei als Ausgangspunkt Stiefmutter Amys ungewöhnliches Interesse an Luci betrachtet werden kann. Den eigentlichen Wendepunkt – die Situation eskaliert, nachdem sich Luci erfolglos Robert hinzugeben versucht hat –, mag man als geschmacklos empfinden, doch macht er aus „Baby Love“ einen gruseligen Psycho-Thriller, der auf ein leider eher unpassendes offenes Ende zusteuert. Zumindest bietet „Baby Love“ einigen küchenpsychologischen Interpretationsspielraum und unterhält über die gesamte Zeit in seinen konfliktarmen Szenen ohne nennenswerte Längen angenehm leicht, um in anderen traurig zu stimmen, Spannung zu erzeugen, zu irritieren oder zu verstören. Von der jungen Hayden ist das alles stark geschauspielert, womit sie sich für weitere europäische Genre-Produktionen, vornehmlich im Horrorbereich, empfahl.

Vorsichtige 6,5 von 10 Tänzchen im Rockschuppen für „Baby Love“, vorbehaltlich einer leichten Korrektur nach oben, sofern das Ende im Zuge einer etwaigen Neusichtung doch noch einen besonderen Aha-Effekt bei mir erzeugt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Moderne Zeiten

Auf Rollschuhen dem Abgrund entgegen

„Moderne Zeiten“ war Charles „Charlie“ Chaplins letzter Stummfilm, im Jahre 1936 ein Stummfilm zu unlängst angebrochenen Tonfilmzeiten – bzw. eine Art Hybrid aus beidem. Für Regie, Produktion, Drehbuch, Musik und Schnitt zeichnet Chaplin höchstpersönlich verantwortlich. Der Schwarzweißfilm entstand zu Zeiten der Großen Depression (Weltwirtschaftskrise) und ist mit seiner Kritik an Industrialisierung und Taylorismus weit mehr als eine einfache Slapstick-Komödie, in deren Gewand sie zunächst daherkommt.

Charlie arbeitet am Fließband in einer Fabrik. Erst wird er zum Opfer eines Arbeiterfütterungsmaschinen-Prototyps und damit zum Gespött gemacht. Als er auch noch zwischen die Zahnräder der Maschine gerät, verfällt er dem Wahnsinn, sabotiert die Anlage und wird in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Unmittelbar nach seiner Entlassung wird er aufgrund eines Missverständnisses als vermeintlicher kommunistischer Rädelsführer ausgemacht, verhaftet und in eine Zelle verfrachtet. Nachdem er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, lernt er ein obdachloses Waisenmädchen (Paulette Goddard, „Kid Millions“) kennen und lieben – und versucht, eine Arbeit zu finden, um sich und seine Liebste ernähren zu können. Schließlich vermittelt sie ihm einen Job als Kellner…

Der von einer allgegenwärtigen orchestralen musikalischen Untermalung begleitete Film eröffnet mit Texttafeln, gefolgt von Bildern einer Schafsherde mit einem einzelnen schwarzen Schaf darunter, die in einer Parallel- bzw. Assoziationsmontage übergehen in Aufnahmen zur Arbeit antretender Belegschaft. Diese ist dem modernen „Zeit ist Geld“-Kapitalismus unterworfen, Charlie in seiner klassischen Rolle als Tramp ist hier ein Teil von ihr. Totale Überwachung und „Optimierung“ herrschen vor, und aufgrund der Massenarbeitslosigkeit und den mit ihr verbundenen Ängsten vor Existenzverlust und Hunger lassen die Arbeiter vieles mit sich machen. Mit der monotonen Fließbandarbeit im Akkord geht die Automatisierung der Menschen einher.

Die meiste Zeit ist „Moderne Zeiten“ stumm, der Fabrikchef zunächst der einzige mit einer Stimme. Die Szenen am Fließband sind generell stumm, die Arbeiter haben – nicht nur im übertragenen Sinne von Mitbestimmung – keine Stimme. Als Konzept kristallisiert sich mit der Zeit heraus, dass Toneffekte nur zu dramaturgischen Zwecken eingesetzt werden und gesprochenes Wort nur dann hörbar ist, wenn es über Maschinen vermittelt wird. Der Ton steht somit für Macht und Kontrollausübung, vorbehalten denjenigen, die über die Maschinen – und somit die Produktionsmittel – verfügen, was zugleich eine an Marx gemahnende Kritik an den Besitzverhältnissen darstellt (und an George Orwells erst später entstandenes „1984“ erinnert). Dialoge finden per gesprochenem Wort keine statt. Diese waren ursprünglich eingeplant, doch Chaplin konnte sich mit seinem Konzept durchsetzen. Seine für den Film komponierte Musik gibt den Rhythmus des Films und häufig, ähnlich wie zu Beginn die Fließbandarbeit, auch der Bewegungen seiner Figuren vor. Monotone Bewegungsabläufe gehen in Chaplins Körper über und er braucht etwas Zeit, um die mechanisch wirkenden Bewegungen wieder abzulegen. Mechanismus ergreift Besitz vom Körper und folgt damit einer allgemeinen Humorformel, nach der alles Mechanische (steife, träge, gewohnheitsmäßige, zerstreute, musterhafte, wiederholende etc.) des Menschen komisch ist. Inkongruenzen, also was nicht so ist, wie es sein soll, sind komisch. Wiederholungen sind komisch, Inversionen sind es auch.

Die Fütterungsmaschine, die an Charlie ausprobiert wird, erinnert an industrielle Anlagen zur Massentierfütterung und symbolisiert damit eine weitere Entmenschlichung. In der legendären Szene, in der Charlie ins Getriebe gerät, scheint die Maschine den Menschen im wahrsten Wortsinn aufzufressen. Die Erniedrigung der Arbeiter und der Verlust der Individualität gehen beinahe über in den Verlust des Menschseins, bis sich Charlie durch einen psychischem Stress geschuldeten Sabotageakt auf radikale Weise aus diesem Mechanismus befreit und in eine Nervenklinik eingeliefert wird. Würde der Film an dieser Stelle enden, wäre er bereits eine über jeden Zweifel erhabene, enorm bissige Satire auf Arbeiterausbeutung, geistige Abstumpfung, Optimierungswahn und Effizienzsteigerung. Doch Chaplin geht noch weiter und macht eine Art Gesellschaftsporträt daraus, wenn er von Charlies Inhaftierung, die stellvertretend für den Umgang mit aufbegehrenden Arbeitern in den antikommunistischen USA steht, erzählt. Im Knast konsumiert er versehentlich Kokain, beendet er eine Revolte und richtet er es sich gemütlich ein: Bis auf seine Verdauungsprobleme ist er dort glücklich. Im Gefängnis hat er seine Ruhe; er fühlt sich ironischerweise frei, seit er seine körperliche Freiheit gegen die geistige eingetauscht hat.

Nachdem er begnadigt wurde, versagt er kläglich auf dem Arbeitsmarkt und versucht, wieder ins Gefängnis zu kommen. Doch er lernt ein armes Hafenmädchen kennen, deren Mann erschossen wurde. Man verliebt sich ineinander und träumt den kleinbürgerlichen Traum von einem kleinbürgerlichen Leben, visualisiert als Tagtraum, in dem beide als sorgenfreies, glückliches Paar mit Eigenheim zu sehen sind. Davon angetrieben, bemüht er sich weiter um einen Job. Als sie eine Nacht im Überfluss eines Kaufhauses verbringen, wird es überfallen. Einer der Räuber entpuppt sich als ehemaliger Arbeitskollege Charlies. Sie freundet sich miteinander an und man ist vereint in Armut und Hunger. Nachdem Charlie wieder für zehn Tage inhaftiert war, holt ihn seine Freundin ab und zeigt ihm eine baufällige Bretterbude, die sie zusammen beziehen. Charlie will nun sogar wieder in der Fabrik arbeiten, um ihr ein richtiges Zuhause bieten zu können, doch sorgt er dort wieder für Chaos. Zudem wird gestreikt und er landet abermals im Kittchen. Immerhin erhält sie eine Anstellung als Tänzerin und holt ihn wieder aus dem Gefängnis ab. Sie besorgt ihm einen Job als singendem Kellner. Die Polizei sucht das Hafenmädchen mittlerweile steckbrieflich. Beim Kellnern kommt es zu einem Problem mit einer gerösteten Ente, aber auch zu tollen Tanzeinlagen, doch beim Singen vergisst Charlie den Text. Schließlich singt er einfach irgendetwas Italienischklingendes, was bei den Gästen super ankommt, woraus eine Festanstellung resultiert. Leider macht die Polizei einen Strich durch die Rechnung, als sie das Mädchen verhaften will. Gemeinsam kann man fliehen und schlendert als Tramps in Richtung Sonnenaufgang.

Neben dem wirklich herzallerliebsten barfüßigen Hafenmädchen, das von Chaplins späterer Ehefrau gespielt wird, deren Rolle den beruflichen Durchbruch für sie bedeutete, enthält der beschriebene weitere Verlauf des Films die Sehnsucht nach einem bescheidenen, vollkommen normalen Leben, das stellvertretend für den Großteil der damaligen Arbeiterschaft steht, aber auch das Aufbegehren der Arbeiterklasse durch Streiks. Ein besonderes Augenmerk verdient Charlies bizarre Tanz- und Gesangseinlage. Tanz als Freiheitsausdruck, Léo Daniderffs „Je cherche après Titine“ in einer pseudoitalienischen Kauderwelschversion als Stiche gegen den Tonfilm bzw. den ursprünglichen Druck seitens der Produktion, aus „Moderne Zeiten“ einen solchen zu machen: In dieser Form ist Ton unnütz, oder auch: vorgefertigte Tonfilm-Dialoge nehmen künstlerische Freiheit. Zugleich bedeutete dieser Auftritt Chaplins Abschied vom Stummfilm. Der Traum einer bürgerlichen Existenz zerplatzt am Ende, Charlie ist wieder der Tramp, jedoch kein einsamer mehr.

Chaplins Abrechnung mit den titelgebenden modernen Zeiten wurden natürlich sofort kommunistische Tendenzen unterstellt, was ihren Erfolg jedoch nicht verhindern konnte. „Moderne Zeiten“ hat sich seinen Platz in der Kinogeschichte als eine der bedeutendsten Gesellschaftssatiren gesichert, ist gut gealtert und nicht zuletzt ein filmhistorisches Phänomen, das (wieder-)zuentdecken ich jedem ans Herz legen kann.
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Tatort: Das Mädchen am Klavier

„Wenn Sie mich fragen: Der Brand war billig!“

Der achte „Tatort“ um den Münchner Kriminaloberinspektor Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) entstand nach einem Drehbuch Erna Fentschs, das von TV-Regisseur Lutz Büscher, der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte, inszeniert wurde. Das Kriminaldrama wurde im Sommer 1976 in München und Umgebung gedreht und am 2. Januar 1977 erstausgestrahlt. Im Jahre 1983 folgte mit „Roulette mit 6 Kugeln“ Büschers zweite und letzte „Tatort“-Inszenierung.

„Halt’s Maul und sei lieb!“

Am Münchner Stadtrand brennt nach einer Explosion ein altes, sanierungsbedürftiges Schulgebäude ab, anschließend wird dort die verbrannte Leiche einer jungen Frau gefunden. Es stellt sich heraus, dass nicht das Feuer die Todesursache war, sondern ein Genickbruch. Dies ruft die Mordkommission um Melchior Veigl auf den Plan, der gemeinsam mit Ludwig Lenz (Helmut Fischer) und Josef Brettschneider (Willy Harlander) ermittelt. Um den Hausmeister der Schule, Heinrich „Enrico“ Riedel (Werner Asam, „Eiger“), der mit seiner Frau Sophie (Ruth Drexel, „Die Marquise von O.“) in der Schule lebte, befragen zu können, muss er ihn in dessen Urlaub in einer Ferienhütte aufsuchen. Riedel frönt dort nicht nur dem Wasserski, sondern vergnügt sich auch mit seiner Geliebten Babette Götz (Sissy Höfferer, „Mathias Sandorf“), während seine Frau ihren Vater besucht. Durch den Brand kassieren die Riedels eine erkleckliche Versicherungssumme, zudem ist Riedel vorbestraft, scheint über seine Verhältnisse zu leben und dem abgebrannten Gebäude keine Träne nachzuweinen, was ihn zusätzlich verdächtig macht. Jedoch scheinen alle froh darüber zu sein, dass das marode Bauwerk ein Raub der Flammen wurde: die Schulleiterin Dr. Hildegard Förster (Karin Hübner, „Tatort Berlin“), die sich freut, dass endlich eine neue Schule gebaut werden muss, der in finanziellen Schwierigkeiten steckende Architekt Ruby (Michael Degen, „Supermarkt“), der bereits einen Neubau plante… Und dann sind da noch die türkische Reinigungskraft, die seit dem Feuer verschwunden ist, und die junge Frau, die aus der brennenden Schule floh. Ein Indiz ist eine Brosche, die in den Trümmern gefunden wurde. Wer also war die Tote, warum musste sie sterben und in welchem Zusammenhang steht der Schulbrand mit ihr?

Zu Beginn sieht man das – wie sich später herausstellen wird – Mädchen aus der brennenden Schule laufen, das aufgrund seiner maskulinen Züge auch als Junge durchgegangen wäre. Dass alle das Gebäude gehasst zu haben scheinen, macht die Ermittlungen für Veigl und Konsorten nicht einfacher. Diese Episode nimmt das Tempo bereits früh durch minutenlange Wasserski-Szenen in sommerlichen Idylle heraus, die wie Werbung für die Trendsportart anmuten. Generell erscheint es kurios, an einem 2. Januar eine sommerlich-sonnige Episode wie diese auszustrahlen – ein bewusstes Kontrastprogramm? An Hausmeister Riedels Hütte öffnet dessen Geliebte Babette oben ohne die Tür und auch im weiteren Verlauf zeigt sich die debütierende Sissy Höfferer im knappen Bikini recht freizügig, was zur ungezwungenen Sommerstimmung passt. Riedel entpuppt sich als ungewöhnlicher Hausmeister und hochgradiger Chauvinist, was dazu beiträgt, ihn nicht nur als Hauptverdächtigen, sondern auch als unsympathischen Antagonisten zu zeichnen. Lenz beschattet im weiteren Verlauf Riedel und Babette, in erster Linie wird das Publikum jedoch mittels dialogreicher Ermittlungen, bei denen man oberhalb des Weißwurstäquators auch nicht jedes Wort versteht, ins Koma gequatscht.

Das Tempo bleibt sehr behäbig und wird durch weitere Füllszenen gestreckt; die Vielzahl eingeführter Figuren sorgt für Verwirrung, statt die Handlung interessanter zu gestalten. In einer Rückblende bekommt man es auch noch mit Windsurfen zu tun, bevor im Finale eine resolute Gastwirtin namens Stucki (toll: Helen Vita, „...und noch nicht sechzehn“) neben dem titelgebenden Mädchen eine unglaubwürdig konstruierte Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Auflösung auftischt, was mit einer weiteren Strecksequenz einhergeht: einem Videoclip der Sängerin Barbara (Ulli Günther – nicht zu verwechseln mit dem The-Lords-Sänger), den Kommissaren mittels Schmalspurprojektor vorgeführt. Dass dadurch offenbar nicht die Single eines aufkommenden Schlagersternchens beworben werden sollte, macht die Sache nur noch bizarrer, und dass sich alles als ein großes Drama herausstellt, will so gar nicht zur sommerlichen Atmosphäre dieses „Tatorts“ passen. Alles in allem trotz einiger schauspielerischen Leistungen, die man sich gern ansieht, und einer Handvoll gelungener Szenen ein dramaturgisch misslungener „Tatort“, dafür ein recht wirksames Schlafmittel…
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Halloween III – Die Nacht der Entscheidung

„Sie kommen...“

Die erste Fortsetzung des genredefinierenden Slashers „Halloween – Die Nacht des Grauens“ machte im Jahre 1981 dem bösen Schlitzer Michael Myers allem Anschein nach den Garaus. Produzentenseitig wurde daraufhin das Konzept der Reihe modifiziert: Ab 1982 sollte jährlich ein neuer „Halloween“-Teil in die Kinos kommen, der jeweils eine eigenständige Geschichte ohne Beteiligung Michael Myers‘ erzählt. Gesagt, getan: Man verpflichtete den britischen Autor Nigel Kneale, der zu seligen „Hammer Film Productions“-Zeiten bereits einige erfolgreiche Drehbücher verfasst hatte, eine Geschichte zu ersinnen, und betraute den US-Amerikaner Tommy Lee Wallace („Es“), der bereits den Schnitt des ersten Teils verantwortete (und auch selbst schon das Myers-Kostüm trug), damit, auf dem Regiestuhl zu debütieren. Als Kneals vom Gewaltgehalt des Films erfuhr, wollte er als Autor nicht mehr genannt worden, dafür legten John Carpenter und Wallace noch einmal Hand ans Skript. Das neue Konzept floppte jedoch an der Kinokasse, die Fans vermissten schmerzlich „ihren“ Michael Myers. Daraufhin lag die Reihe erst einmal auf Eis, bis sie 1988 mit „Halloween IV“ ebenso klassisch wie fulminant zurückkehrte. Über die Jahrzehnte hinweg wurde „Halloween III“ von einem Teil des Publikums wiederentdeckt und neu bewertet, so auch vom Verfasser dieser Zeilen.

„Keiner spaltet einen Schädel mit der bloßen Hand, wenn er nicht verdammt stark ist!“

Nordkalifornien, 23.10.: Ein eine Kürbismaske umklammernder Mann wird schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert und faselt etwas von einer tödlichen Gefahr. Kurz darauf wird er ermordet, sein Mörder richtet sich selbst. Der diensthabende Arzt Dr. Dan Challis (Tom Atkins, „The Fog – Neben des Grauens“) versucht zusammen mit Ellie (Stacey Nelkin, „Affen, Gangster und Millionen“), der Tochter des Toten, in Erfahrung zu bringen, weshalb der Mann sterben musste. Die Spur führt zu Conal Cochran (Dan O’Herlihy, „Robinson Crusoe“), der in der Kleinstadt Santa Mira die Silver-Shamrock-Fabrik betreibt, in der jene Halloween-Masken hergestellt werden, die gerade landesweit beworben werden. Cochran hat einen der Monolithen aus Stonehenge entwendet und will wegen der aktuellen Planetenkonstellation zu Halloween wieder Menschenopfer bringen. Dabei sollen ihm die mit einer perfiden Elektronik versehenen Masken helfen…

„Hast du gar nichts für Halloween übrig?!“ – „Nein.“

Der Stilwille des Films ist bereits im Vorspann erkennbar, der nach Art geringauflösender Fernsehbilder gestaltet ist. Unheilschwangere Synthieteppiche und Variationen des klassischen Carpenter-Themas ziehen sich musikalisch durch den Film, ergänzt um das immer wiederkehrende „Silver Shamrock“-Werbe-Jingle. Während der Exposition um den gejagten Mann lässt man es jedoch kräftig blitzen und donnern und greift damit tief in die Klischeekiste. Der Mord an ihm ist brutal und kurze Zeit später wird ein Tippelbruder, der zu viel weiß, garstig enthauptet; den Härtegrad schraubt man also schon früh recht hoch. Schnauzbartarzt Challis‘ Ehefrau lernt man ausschließlich als hysterische Meckerziege, meist übers Telefon, kennen, dafür schläft er bereits in der ersten Nacht mit der jungen, attraktiven Tochter des Toten – ein weiteres Handlungsutensil aus besagter Klischeekiste. Den Arzt nimmt man Atkins in seiner eher an „Tatort“-Kommissar Schimanski erinnernden Rolle ohnehin nicht so recht ab. Umso überzeugender ist O’Herlihy, tatsächlich ein Ire, als sinistrer Herrscher über eine Siedlung und nichts Gutes im Schilde führender Fabrikant, der eine menschlich aussehende Roboterbelegschaft beschäftigt, wie bei einer Führung durch die Maskenfabrik erkennbar wird.

„Geh nicht zu nah an den Fernseher!“

Dass Ellie plötzlich verschwindet, macht Challis zum Einzelkämpfer. Die Roboterfrau, die er zerstört, erinnert an E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Geschichte, angeblich wurde sie 1775 in München hergestellt. Cochran erklärt sich Challis gegenüber schließlich überaus freimütig und macht keinen Hehl mehr aus seinem finsteren Plan, für den er die Familie eines erfolgreichen Maskenhändlers zu Versuchskaninchen instrumentalisiert. Eine Nachbarin hatte es bereits durch eine spektakuläre „Fehlzündung“ eines Maskenchips dahingerafft; in einer beeindruckenden Machtdemonstration kriechen sodann unter Einfluss des Werbesports Insekten und Schlangen unter einer Maske hervor; das Kind, das diese trägt, stirbt. Dass hier tatsächlich Kinder ihr Leben lassen, unterstreicht die Grimmigkeit der Handlung, an deren Klimax Challis die Fabrik mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen versucht. Das offene Ende lässt sich zwar mühelos in der eigenen Fantasie weiterdenken, enttäuscht aber etwas – man hätte gern mehr gesehen.

„Ich bin ein Freund von deftigen Scherzen – und das ist der beste von allen!“

Hätte man zumindest am Slasher-Konzept festgehalten, wäre „Halloween III“ vermutlich ein Erfolg geworden. So aber hat man immerhin einen originellen Horrorfilm mit einem der fiesesten Ohrwürmer, die jemals auf die Zuschauerschaft losgelassen wurden: dem „Silver Shamrock“-Werbe-Jingle des penetranten, omnipräsenten Werbespots. Die Einblendungen des jeweiligen Handlungsdatums verschaffen nicht nur einen Überblick über die Chronologie der Ereignisse, sondern haben auch etwas von einem Countdown zum Halloween-Fest respektive zur Apokalypse. Die Spezialeffekte und die Make-up-Arbeiten sind gelungen; der Film hat seine düstere Stimmung und bemüht sich viel um Spannungsaufbau, wirkt dabei aber manchmal etwas langatmig. „Halloween III“ verbindet Stonehenge-Mystik und heidnische Opferrituale mit einer Allegorie auf Medienmanipulation, Konsumterror und schurkenhafte Großindustrielle mit zu viel Macht – und nicht zuletzt eine Welt, in der permanent irgendwo aggressiv Werbung dudelt. Der Elektronik-Science-Fiction/Mystery-Horror-Mix ist ambitioniert, aber durchaus gewöhnungsbedürftig – nicht gänzlich geglückt, aber besser, als die Verrisse manch Michael-Myers-Fans nach der Erstsichtung vermuten lassen.
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All Hallows' Eve – Komm raus und spiel!

„Was ist das?!“ – „Eine Videokassette!“

US-Filmemacher Damien Leones („Terrifier“) Langfilmdebüt „All Hallows' Eve – Komm raus und spiel!“ aus dem Jahre 2013 vereint als Episodenhorrorfilm drei Kurzfilme Leones mit einer Rahmenhandlung und steht in der Tradition an Halloween spielender und Halloween thematisierender Genrefilme. Es etablierte den Horrorclown Art (Mike Giannelli) als mystische Mörderfigur.

„Babysitten an Halloween – das schreit doch nach Ärger!“

Die junge Babysitterin Sarah (Katie Maguire, „Der Weihnachtsmuffel“) passt auf die Kinder Tia (Sydney Freihofer) und Timmy (Cole Mathewson, „Hello Again“) auf, die neben reichlich Süßigkeiten auch eine VHS-Kassette von ihrer Halloween-Tour mitbringen. Bereits mit einem etwas mulmigen Gefühl sehen sie sich den ersten enthaltenen Kurzfilm gemeinsam an, woraufhin Sarah ob des gruseligen und blutigen Inhalts die Sichtung abbricht und beide Kinder ins Bett schickt. Doch bei Sarah überwiegt die Neugier, also schaut sie sich auch die weiteren Filme an, bis sich Fiktion und Realität miteinander zu vermischen scheinen…

„Ich hab‘ genug stumpfe Gegenstände, um ihn zu verprügeln!“

Der erste Film „The 9th Circle” ist eine um 2006 von Leone noch auf analogem 35-mm-Material gedrehte, hier leicht gekürzte Geschichte um die Entführung einer jungen Frau. Der pantomimische Clown Art betäubt sie mit Drogen und verschleppt sie zu seinen anderen angeketteten Opfern in eine Höhle, wo sie im Rahmen eines satanischen Rituals zum Futter eines monströsen Dämons werden. Dessen Gestaltung ist prima gelungen, andere Masken und die Spezialeffekte bewegen sich hingegen auf Amateurniveau und nehmen der kruden Handlung und den mit ihr verbundenen Gewaltakten einiges an Wirkung. Ein netter Kunstgriff ist, dass zwischendurch immer mal wieder die Reaktionen Sarahs und der Kinder auf das Gesehene gezeigt werden. Dass der Film-im-Film nicht in VHS-Qualität läuft, nimmt dem Ganzen leider den Retro-Charme.

Die zweite Episode wurde eigens für diesen Film gedreht und handelt von Caroline (Catherine A. Callahan, „A Buddy Story“), die gerade ein neues Haus in einem ländlichen Gebiet bezogen hat. Nachts stürzt ein Ufo ab, wodurch der Strom ausfällt. Das außerirdische Wesen (Brandon deSpain, „Der gute Hirte“) macht Jagd auf Caroline, Clown Art taucht lediglich als Malerei auf einem Gemälde auf. Eine nette, wenn auch nicht sonderlich spektakuläre Man-in-Suit-Alien-Home-Invasion-Geschichte, leider ebenfalls nicht in VHS-Qualität. Im Anschluss bemerkt Sarah, dass sich noch jemand im Haus zu befinden scheint…

„Terrifier“ lautet der dritte Film, den Leone 2011 fertigstellte und nun Art den Clown in den Mittelpunkt stellt. Einer Kostümdesignerin (Marie Maser) geht auf einer Landstraße das Benzin aus. An einer Tankstelle wird sie Zeugin, wie Art dem Tankwart den Kopf absägt. Als sie panisch flieht, befindet sich Art mit ihr im Auto und versucht, sie zu erwürgen. Durch eine beherzte Vollbremsung wird sie ihn vorübergehend los, doch als sie Zuflucht in einer kleinen Hütte sucht, folgt ihr die Horrorkreatur. Einmal mehr erweist sich die Frau als äußerst wehrhaft. Doch als endlich Hilfe naht, ist Art erneut nicht weit und es kommt zur ultimativen Katastrophe…

Spätestens in diesem Betrag wird deutlich, dass Art offenbar über unmenschliche Kräfte verfügt und nicht von dieser Welt ist. Die Sägeszene ist überraschend gut getrickst, generell ist die Maskenarbeit hier gelungen. Diese Episode bildet mit ihrer fiesestmöglichen Pointe den Höhepunkt des Films, und: endlich (imitierte) VHS-Qualität! In der Rahmenhandlung wird die VHS zur Realität und die Realität zur VHS, was nicht nur gut gemacht, sondern auch verdammt unheimlich ist. Zugleich darf dieser Clou sicherlich als Hommage an die besonderen Magie der Horrorfilm-Hochzeit in den 1980ern in Kombination mit dem erschwinglich gewordenen Heimkino verstanden, aber auch als augenzwinkernder Seitenhieb auf die von restriktiven Sittenwächter(innen) immer wieder hervorgebrachte Behauptung, Genrefans könnten „solche Filme“ nicht von der Realität unterscheiden.

Weitere Ehrerbietungen ans Horrorgenre ziehen sich durch den ganzen Film: Die klassische Babysitter-Rahmenhandlung ist seit „Halloween – Die Nacht des Grauens“ Usus, bevor die VHS-Kassette eingelegt wird, läuft „Die Nacht der lebenden Toten“ im Fernsehen, „The 9th Circle“ zitiert „Rosemaries Baby“ und Episode 2 „Die Besucher“, während das Finale an „Das Grauen kommt um 10“ angelehnt ist. So überwiegen die positiven Eindrücke dieser größtenteils ordentlich geschauspielerten, letztlich reichlich harten, aber eben auch inkosistenten und zuweilen unpassend trashigen Anthologie, die im Jahre 2015 eine Fortsetzung und 2016 einen ebenfalls „Terrifier“ betitelten Ableger erhielt. Dafür verteilte ich nächstes Halloween 6,5 von 10 VHS-Kassetten unheimlichen Inhalts aus meiner Sammlung an naschsüchtige Gören…
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Nägel mit Köppen

„Mann, sind wir hier im Mittelalter!“

Die von Lars Jessen inszenierte TV-Kulturclash-Liebeskomödie „Butter bei die Fische“ aus dem Jahre 2009 erhielt im 2013 erstausgestrahlten „Nägel mit Köppen“ eine Fortsetzung, deren Drehbuch erneut von Hauptdarstellerin Ulrike Krieners Ehemann Georg Weber stammt. Mit der Regie wurde diesmal Manfred Weber („Meine Tochter, ihr Freund und ich“) betraut.

Nachdem Petra Koslowski (Ulrike Kriener, „Kommissarin Lucas“) aus dem Ruhrpott mit Pastor Petersen (Peter Heinrich Brix, „Neues aus Büttenwarder“) zusammengekommen ist und das schleswig-holsteinische Landleben des Dorfs Toestrup zu schätzen lernte, leben beide unverheiratet miteinander zusammen. Dies wird zum Politikum, als Toestrup mit der Nachbargemeinde Norderup zusammengelegt werden soll, wo man ein Leben in „wilder Ehe“ nicht gern sieht, schon gar nicht bei einem Kirchenmann! Petras Freundin Stefanie (Elena Uhlig, „Swimming Pool – Der Tod feiert mit.“), die ebenfalls das Ruhrgebiet für die Landliebe hinter sich gelassen hat, ist mit Bauer Heinrich (Bjarne Mädel, „Stromberg“) liiert und Mutter geworden, doch sind beide von finanziellen Sorgen geplagt. Petras Yuppie-Sohn Mikis (Oliver Wnuk, „Stromberg“) wiederum versetzen seine Prostataprobleme in Todesangst, weshalb er seine Mutter aufsucht und Nachforschungen zu seinem Vater anstellt…

Die Pottpomeranzen aus dem Vorgänger leben nun also glücklich mit ihren Landeiern zusammen. Nachwuchs ist da, Baby Willi wird getauft. Diese Harmonie nimmt der Handlung doch einiges von ihrer Kultur-Clash-Komik, die in „Butter bei die Fische“ noch allgegenwärtig war. Stattdessen wird deutliche Kirchenkritik geübt, ausformuliert von Petra. Petersen wird zu heiraten unter Druck gesetzt, weil er nur dann in der fusionierten Einheitsgemeinde Pastor bleiben könne. Von Teilen des Landvolks wird er boykottiert, nur, weil er unverheiratet ist, sodass er sogar in Erwägung zieht, sein geliebtes Dorf zu verlassen. Kriener überzeugt als freche und selbstbewusste Powerfrau, die auch schon mal öffentlich ihre Brüste zeigt und sich gegen den ihr aufoktroyierten Heiratsdruck wehrt, die sich aber auch mit ihrem Sohn herumplagen muss. Dieser ist hier in erster Linie für ein paar Witzchen unter der Gürtellinie gut, sorgt aber auch dafür, dass sein Vater auf der Bildfläche erscheint.

Der macht den Kohl jedoch auch nicht fett und eigentlich ist das Figurenensemble bereits groß genug. Wie der schüchterne Knud (Jan Peter Heyne, Borowski-„Tatorte“) seinem Schwarm Inge (Gerburg Jahnke, „Die Oma ist tot“) näherkommt, ist ganz putzig, zudem ist es gelungen, die Figuren in all ihrer Verschrobenheit ernster zu nehmen als zuvor, statt sich über sie lustig zu machen, ihren liebenswerten Kern zu würdigen und damit das „Gegensätze ziehen sich an“-Prinzip, das den Filmen zugrunde liegt, zu unterfüttern. Leider ist „Nägel bei die Köppe“ bei all dem – und trotz seiner Kritik an Kirche und Konservatismus – wesentlich langatmiger als „Butter bei die Fische“ geworden und bietet kaum mehr als durchschnittliche, gefällige TV-Berieselung, die es letztlich allen recht machen will, jedoch schnell der Vergessenheit anheimfällt.
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Unter Männern – Schwul in der DDR

„Vielleicht hilft das manchen anderen...“

Ringo Rösener erlebte, 1983 in Anklam geboren, die DDR bewusst nur noch in ihren letzten Zügen. Zusammen mit Co-Regisseur Markus Stein („Balkan Traffic – Übermorgen Nirgendwo“) – einem „Wessi“ – geht er in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Unter Männern – Schwul in der DDR“ der Frage nach, wie sich schwules Leben in der DDR gestaltete. Beim im Jahre 2012 auf der Berlinale uraufgeführten und daraufhin regulär im Kino gelaufenen und später in unregelmäßigen Abständen im Fernsehen gezeigten Film handelt es sich nicht nur um Röseners Regiedebüt, sondern auch um den ersten Film überhaupt, der dieses Thema in nichtfiktionaler Form aufgreift.

„Wenn man Liebe sucht und mit dem Tod bedroht wird...“

Rösener und Stein porträtieren sechs schwule Männer aus der DDR, die sie in O-Tönen zu Wort kommen lassen. Sie berichten mal mehr, mal weniger freimütig von ihren persönlichen Erfahrungen. Implementiert werden einige Ausschnitte aus Heiner Carows Spielfilm „Coming Out“, der ersten DEFA-Produktion, die sich vorrangig dem Thema männlicher Homosexualität widmete (und zufälligerweise am 9. November 1989 seine Kinopremiere erfuhr). Man erfährt, dass Schwulsein nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verboten war. In der DDR wurde zwar niemand mehr dafür eingesperrt, doch es war gesellschaftlich geächtet. Die rechtliche Situation änderte sich 1968, von nun an stand Schwulsein in der DDR nicht mehr unter Strafe – einer jener Punkte, in denen die DDR tatsächlich progressiv war; dieser Liberalisierung hinkte die BRD noch etliche Jahre hinterher.

Zeichner und Grafiker Jürgen Wittdorf verdingte sich in den 1950ern als Aktzeichner und gestand sich erst mit 31 Jahren ein, homosexuell zu sein. Nach einem One-Night-Stand wurde er von seinem Sexualpartner erpresst. Auch Sportlehrer Christian Schulz, Jahrgang 1934, hielt sich mit einem Coming-out zurück – aus Angst, entlassen zu werden. Er überlegte es sich auch gut, überhaupt bei diesem Film mitzumachen. Ein Psychiater versuchte, ihn zu „heilen“ – natürlich erfolglos. Schulz ist generell skeptisch, zweifelnd, zurückhaltend, bezeichnet sich selbst als feige. Er hadert damit und hätte gern eher die Chuzpe gehabt, zu sich und seiner Sexualität zu stehen. Der gleichaltrige Helwin Leuschner kommt als Sohn deutscher Einwanderer in Chile zur Welt und siedelt erst zu Beginn der 1970er in die DDR über. Er berichtet, in der DDR keinesfalls verfolgt worden zu sein, jedoch seien seine Eltern homophob gewesen. Lebensgefährliche Diskriminierungen habe er während seiner Zeit in Chile erlebt, die DDR sei dagegen ein Paradies gewesen – womit er die Erfahrungen der anderen ein Stück weit in Relation setzt. In der DDR hat er zudem die Liebe seines Lebens gefunden, die sich – eine kleine Überraschung innerhalb des Films – als Christian Schulz entpuppt. Beide tauchen nun auch zusammen vor der Kamera auf und haben direkt eine kleine Meinungsverschiedenheit, weil Leuschner nach Schulz‘ Empfinden das Leben in der DDR etwas zu unkritisch darstellt. Doch für Leuschner bedeuteten bereits die FKK-Strände ungewohnte Freiheiten. Die beiden sind ein herrlich gegensätzliches Paar: Leuschner sehr offenherzig und spontan, Schulz eher ruhig, introvertiert, verkopft. Im Alltag dürften sich beide also prima gegenseitig ergänzen.

Jüngeren Semesters ist der Berliner Humoristensohn und Friseur Frank Schäfer, der die FDJ-Klamotten sexy fand und betont furchtlos und selbstbewusst aufgetreten ist. Er tauchte in die Punk-Subkultur ein, schnitt seinen Kundinnen und Kunden entsprechende Frisuren und geriet immer wieder in von ihm als cool empfundene Konflikte mit der Polizei – bis er sich so sehr verliebte, dass er dafür die DDR verließ. Mit Berliner Schnauze und ohne jeden Anflug von Schwermut, dafür mit ungebrochen nonkonformer Haltung und Humor steht Schäfer hier für den selbstbewusstest möglichen Umgang mit dem Thema. Spannend ist auch Eduard Stapels (* 1953) Geschichte: Als Theologiestudent möchte er eigentlich die Priesterweihe erlangen, die ihm jedoch versagt bleibt – was zunächst einmal, das hätte der Film möglicherweise deutlicher herausstellen sollen, ein Problem der Kirche, nicht des Staats war. Die evangelische DDR-Kirche ermöglichte ihm jedoch eine Anstellung, von der ausgehend er ein bedeutendes Netzwerk homosexueller Gruppen zu weben begann und sich politisch für Schwulenrechte und Gleichberechtigung einzusetzen begann. Dies rief die Stasi auf den Plan, die darin oppositionelle Arbeit sah und Stapel daraufhin das Leben zur Hölle machte. Er zeigt seine Akten und berichtet von den Zersetzungsaktivitäten des MfS – hier zeigt sich dann auch die dunkelste Seite der DDR. Starker Tobak, fürwahr. Schriftsteller Jürgen Lemke zitiert aus seinen Werken, die wiederum frei in der DDR veröffentlicht wurden, bekundet seinen Respekt gegenüber Stapel und steht ebenfalls Rede und Antwort.

Der 1968 geborene John Zinner berichtet seine negativen Erfahrungen, die er im Dorf Lauscha tief in der thüringischen Provinz machen musste. Er traute sich aus gutem Grunde nicht, offen zu seiner Sexualität zu stehen und die Grenze zur BRD in unmittelbarer Nähe war verlockend. In letzter Sekunde verwarf er jedoch seinen Fluchtplan und blieb der Liebe wegen im Dorf. Nach seinem Coming-out stellte er sich der Herausforderung, statt zumindest die Flucht in die liberalere Großstadt anzutreten. Dokumentarfilmer Rösener erzählt seine eigene Geschichte zu Teilen aus dem Off und führt bisweilen kommentierend durch den Film. In den Interview-Situationen sieht man ihn ebenfalls nicht, dafür hört man mitunter seine Fragen (während diese in anderen Dokumentarfilmen oftmals weggeschnitten werden). Er besuchte seine Interview-Partner zu Hause bzw. in deren Heimat, im Café oder auch während einer Zugfahrt. Friseur Schäfer trifft er auf dem Alexanderlatz, wo ihn einst Volkspolizisten mitnahmen, um Sex mit ihm zu haben…

Durch mehrere Erzählungen ziehen sich FDJ-Erfahrungen, viele alte Fotos werden gezeigt, Insiderwissen geteilt: Es habe in der DDR problemlos homosexuelle Universitätsprofessoren gegeben und bevor es Schwulenclubs gab, traf man sich auf „Klappen“, womit öffentliche Toiletten gemeint waren. Man merkt aber: Vieles davon ist eher wenig DDR-spezifisch, dürfte in der BRD oder in anderen Staaten ganz ähnlich gewesen sein. Denn, so der Eindruck nach dieser Doku, staatlicherseits war Schwulsein offiziell und inoffiziell in Ordnung und keiner Aufregung wert, theoretisch konnte man viele Freiheiten genießen. Aktivismus für darüberhinausgehende Anerkennung ging für die Stasi jedoch zu weit und – und hier dürfte es die meisten Überschneidungen geben: die gesellschaftliche Akzeptanz stand noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.

Generell ist es sicherlich nicht Röseners und Steins Anliegen gewesen, eine vollumfängliche, keinerlei Fragen offenlassende Bestandsaufnahme der männlichen Homosexualität in der DDR abzuliefern. Vielmehr handelt es sich um einen groben Überblick über verschiedene Lebenswege, -entwürfe und Sozialisationen, geht es mehr um Menschliches denn um harte Fakten und nicht zuletzt um subjektive Perspektiven unaufgeregt porträtierter, allesamt sehr sympathisch wirkender Menschen, die weit mehr sind als nur ihre sexuelle Ausrichtung. Gelungen!
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Tatort: Der Boss

„So’ne Rakete, und da sitzt so’n Würstchen drin!“

Nicht nur aufgrund seiner kurzen Laufzeit von nur 56 Minuten ist der frühe „Tatort: Der Boss“, der am 19. Dezember 1971 erstausgestrahlt wurde, ein Kuriosum. Der erste von insgesamt zwölf Beiträgen des Regisseurs Heinz Schirk („O süße Geborgenheit“) zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe bedeutete den Einstand des glücklosen West-Berliner Kriminalhauptkommissars Kasulke (Paul Esser, „Blut an den Lippen“), der nach seinem zweiten Fall „Rattennest“ ein Jahr später bereits wieder abgesetzt wurde. Das Drehbuch verfasste Johannes Hendrich.

„Na warte, du Scheißer!“

Die Jugendlichen Achim (Hugo Panczak, „Luftschlacht um England“) und Peter (Ronald Nitschke, „Josefine, das liebestolle Kätzchen“) arbeiten als Fliesenleger auf einer Baustelle, lassen sich aber auch bei der Schwarzarbeit von ihrem Chef (Gerhard Wollner, „Ein Polterabend“) erwischen. Dieser schimpft zwar, ist in der Regel jedoch auch sehr nachsichtig. Am Abend lernen sie in einer Disco zwei Mädchen (Elke Aberle, „Witwer mit fünf Töchtern“ und Barbara Hampel, „Doppelgänger“) kennen, vor denen sie angeben und an die sie sich heranzumachen versuchen. Man geht zusammen zum Bowling, feiert weiter und wagt schließlich eine übermütige Trunkenheitsspritztour. Diese mündet in einen Unfall, bei dem zwar niemand verletzt wird, der Wagen jedoch die Schaufensterscheibe eines Pelzgeschäfts zerstört. Achim nutzt spontan die Gelegenheit und stiehlt einen der sündhaft teuren Mäntel, den er gewinnbringend an einen Hehler veräußert. Dadurch auf den Geschmack gekommen, stehlen Achim und Peter nun weitere Mäntel, wobei Achim die treibende Kraft ist und das Ganze immer größer aufzieht, bis er mit weiteren Bandenmitgliedern regelmäßig gewerbsmäßigen Pelzdiebstahl begeht. Doch Achim hat sich immer weniger unter Kontrolle, prahlt mit seinem Geld und läuft Gefahr, aufzufliegen. Seine Kumpanen schmieden daher einen Plan, um Achim ein für alle Mal loszuwerden…

„Haste wat, machste wat! Haste nüscht, gehste ein!“

„Der Boss“ wuchert mit geballtem deutschem frühsiebziger Zeitkolorit, von der zeitgenössischen Rockmusik über die Frisuren, die Kleidung und die Autos bis hin zum primären Thema Pelzmäntel und zum sekundären, der Berliner Mauer bzw. der innerdeutschen Systemgrenze. Hinzu kommen die freche Berliner Schnauze der Jugendlichen und nicht zuletzt die zahlreichen Italo-Filmplakate (vornehmlich „Django“-Western), mit denen Achim sein Zimmer tapeziert. Der Hehler ist ein neureicher feiner Pinkel, der sich gleich mehrere Doggen hält, die Polizei hingegen ist kaum präsent und so spielt auch Kasulke hier kaum eine Rolle. Interessanterweise telefoniert er zwischendurch einmal mit dem Münchner Kollegen Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer), der in der nächsten „Tatort“-Episode „Münchner Kindl“ seinen Einstand als Ermittler feiern sollte.

„Ich hör‘ immer nur Nerz! Ich träum‘ schon von Nerz!“

Ansonsten schienen sich Autor Hendrich und Regisseur Schirk wesentlich stärker für die juvenilen Delinquenten zu interessieren; Kasulkes Präsenz wirkt gar wie nachträglich implementiert, um einen „Tatort“ aus der Handlung zu machen. „Der Boss“ hat das hohe Tempo eines knackigen 45- bis 55-minütigen TV-Krimis, die Handkamera einer aktionsbetonten Erzählweise und den ebenso perfiden wie unwahrscheinlichen Plan eines reißerischen Trivialromans. Achim und Konsorten scheinen mehr aus Abenteuerlust, Geltungsdrang und Langeweile kriminell zu werden, weniger aus Geldgier oder gar -not. Fuchtelt Achim betrunken mit seinem Revolver herum, wird er vom abgeklärten Halbstarken zum gefährlichen Dilettanten. Und kann er bei einem Mädchen nicht landen, entwickelt er eine beunruhigende Aggressivität. Dass einem tiefere Einblicke in die Figuren verwehrt bleiben, die möglicherweise Charaktere aus ihnen gemacht hätten, ist der kurzen Laufzeit geschuldet und ein bisschen schade, denn die Jungdarsteller(innen) zeigen sich sehr spielfreudig.

Wie überflüssig der bedauernswerte Kasulke hier ist, unterstreicht dann auch das Ende, aus dem die Täter als Sieger hervorzugehen scheinen – doch während bereits der Abspann läuft, wird es noch flugs zu einem eher offenen Ausgang modifiziert, fast, als habe ein Programmverantwortlicher im letzten Moment eingegriffen und entschieden, dass es anders nicht gehe und dem Publikum nicht zuzumuten sei. All das macht „Der Boss“ zu etwas Besonderem, das aber auch fernsehgeschichtsvergessen als Zerstreuung bietende Räuberpistole konsumiert vorzüglich unterhält. Dass hier ausgerechnet mit unendlichem Tierleid verbundene Pelzmäntel begehrte Luxusartikel sind, wird übrigens mit keiner Silbe problematisiert – ‘68er hin oder her, die Zeiten waren andere…
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Tatort: Und immer gewinnt die Nacht

„Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht selbst hätte begehen können.“

Am Pfingstmontag des Jahres 2021 feierte das neue Bremer „Tatort“-Ermittlungstrio aus Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Mads Andersen (Dar Salim) sowie BKA-Beamtin Linda Selb (Luise Wolfram) seinen Einstand, wobei Selb bereits aus dem vorausgegangenen Bremer „Tatort“-Strang bekannt ist und im neuen Team mehr Präsenz erhält. Der zweite Fall „Und immer gewinnt die Nacht“ wurde am 12. Dezember 2021 erstausgestrahlt und entstand im Frühjahr desselben Jahres unter der Regie Oliver Hirschbiegels („Das Experiment“), der mit dieser Verfilmung eines Drehbuchs Christian Jeltschs nach zwei Beiträgen aus den 1990ern erstmals wieder für die öffentlich-rechtliche TV-Krimireihe verpflichtet wurde.

„Und was ist der dunkle Punkt auf seiner Seele?“

Dr. Björn Kehrer (Markus Knüfken, „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“) ist ein guter Mensch: Der Arzt behandelt Arme und andere Menschen vom Rande der Gesellschaft ohne Honorar in seiner daher hochfrequentierten Praxis. Dennoch wird er eines Abends im Bremer Hafen überfahren und anschließend totgeschlagen. Wer tut so etwas und warum? Liv Moormann und Linda Selb ermitteln, dass das Tatfahrzeug jenes von der Zigarrenfabrikantentochter Vicky Aufhoven (Franziska von Harsdorf, „Égalité“) als gestohlen gemeldete sein könnte. Diese ist zum Entsetzen ihrer Mutter Charlotte (Karoline Eichhorn, „Der Felsen“) mit Ann Gelsen (Anna Bachmann, „Wolfsland“) aus der Unterschicht liiert, die bereits eine Haftstrafe verbüßte, nachdem sie jenen Mann erschlagen hatte, der betrunken ihren Bruder Hendrik (Ole Bramstedt) angefahren hatte. Hendrik ist seither behindert – und liegt jetzt im Koma, weil er, nachdem er an Kehrers Praxis abgewiesen wurde, auf der Straße mit einer Hirnblutung zusammengebrochen war… Mads Andersen hält sich derweil in Kopenhagen auf, wo er vom jungen arabischstämmigen Adil Helveg (Issa Khattab, „Shorta – Das Gesetz der Straße“) verfolgt wird. Dieser will sich dafür rächen, dass Andersen einst seinen Vater erschoss.

„Was ist Kopenhagen gegen Bremen?“

Die Exposition lässt Selb Goethe zitieren und zeigt ein Panoptikum beinahe aller Figuren, die in den folgenden knapp 90 Minuten eine Rolle spielen werden, ohne diese bereits in größerem Umfang vorzustellen. Wenn der junge Mann, der sich später als Hendrik herausstellen wird, zunächst nicht zuzuordnende Satzfetzen vor sich hin rufend durch Bremens Straßen geht, Vicky und Ann containern und zusammen auf ihrem Fahrrad davonbrausen, Charlotte Aufhoven mit gleichsam nachdenklichem und entschlossenem Blick eine Tasche packt, ein Mann (Ernst Stötzner, „Tatort: Der wüste Gobi“) – ihr Ehemann – blutig in ein Taschentuch hustet und sich genüsslich eine dicke Zigarre ansteckt, Dr. Kehrer jemandem auf der Straße erste Hilfe leistet und eine andere Frau (Lisa Jopt, „Tanze Tango mit mir“) weinend in ihrer Küche sitzt, mutet das wie der neugierig machende Auftakt einer Kettenreaktion an, die jedoch ausbleibt. Stattdessen setzt dieser „Tatort“ all diese Puzzleteile im weiteren Verlauf zu einem großen Ganzen zusammen – und all diese interessanten Figuren in Beziehung zueinander.

Der Nebenhandlungsstrang um Andersens Besuch in Kopenhagen, wo er einen Vortrag über Integration hält und seinen jungen Verfolger wahrnimmt, wird mit den Bremer Ermittlungen zusammengeführt, als Andersen einen Bürojob in der dänischen Metropole ablehnt und in die deutsche Hansestadt zurückkehrt. Da die raubeinige Besatzung der gerade im Hafen liegenden „Always Lucky“ etwas mit dem Tötungsdelikt zu tun haben könnte, man sich dort aber bedeckt hält, schleicht er sich kurzerhand ein, was in eine actionreiche Kampfchoreographie an Bord mündet und das Profil dieser Figur ebenso schärft wie sein nachsichtiger, regelrecht pädagogischer (und Informationen über Andersens geheimnisumwitterte Vergangenheit preisgebender) Umgang mit Avil, den er auf den Pfad der Tugend zurückzuführen hilft. Andersen ist hart im Nehmen, kann auch gut austeilen, unter der rauen Schale aber steckt ein Kern voller Menschlichkeit.

Dualismus und Ambivalenz ziehen sich hier durch viele Figuren: Dr. Kehrer war depressiv, hatte mit Schuldgefühlen zu kämpfen und fügte sich selbst Brandwunden zu. Seine Sprechstundenhilfe Kirsten Beck, jene alleinerziehende Mutter, die zu Beginn weinend in der Küche saß, hat es alles andere als leicht, ist – dadurch bedingt? – jedoch charakterlich auch nicht zu 100 Prozent integer. Ann gibt eine selbstbewusste, rebellische „Kampflesbe“, neigt jedoch dazu, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und hat bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen. Für Vicky scheint sie ungeachtet dessen die große Liebe zu sein. Und Familienpatriarch Claas-Heinrich Aufhoven träumt realitätsvergessen vom großen Comeback seiner Tabakdynastie und fabuliert über die Besonderheit seiner Zigarren, doch wer will es ihm angesichts seiner Diagnose verdenken? Laut seinen Ärzten dürfte er eigentlich schon gar nicht mehr am Leben sein.

Die junge Kommissarin Moormann hingegen kommt – ebenso wie Ann – von recht weit unten und hat sich hochgekämpft. Ihre Herkunft und damit einhergehende Selbstzweifel scheint sie überzukompensieren, indem sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Kombinationsgabe hervorkehrt, was die ihre Gegenüber nervende Macke zur Folge hat, deren angefangene Sätze selbst zu beenden. Derartigen Dialogen mit der autistisch anmutenden Selb wohnt immer mal wieder etwas Humor inne, es überwiegt jedoch eine gereizte Grundstimmung, die überall vorzuherrschen scheint und zum einen frösteln lassenden Nordic-noir-Touch dieses „Tatorts“ beiträgt. In ihm geht es um Schuld(-gefühle), Emanzipation und Kompensation, um Sühne und Selbstkasteiung, um glückliche und, mehr noch, unglückliche Liebe.

Beim die Lösung vorantreibenden, plötzlich auftauchenden Video spielt leider Kommissar Zufall eine etwas übertriebene Rolle und die Täterschaft ist relativ vorhersehbar (was indes andere anders zu empfinden scheinen und von einer unvorhersehbaren, überkonstruierten Auflösung sprechen), deutsch (und zum Teil mit Interpunktionsfehlern) untertitelte dänische Dialoge sind zudem an einem sonntäglichen Fernsehabend sicherlich nicht jedermanns Sache. Dafür ist es Hirschbiegel und Jeltsch jedoch gelungen, trotz des großen Ensembles kein Übermaß an Konzentration einzufordern, damit das Publikum nicht den Überblick verliert, und Bremen ein urban-tristes Erscheinungsbild angedeihen zu lassen, in das die Stadt nicht allzu häufig getaucht wird. Bauer ist in ihrer Rolle noch etwas gewöhnungsbedürftig, doch zwischen Moormann und Selb scheint sich eine interessante Chemie zu entwickeln. Großartig spielt Bachmann als Ann, die dem Fall zu ein wenig Ghettoromantik verhilft, und nach der alles aufdröselnden Rückblende gegen Ende stand für mich fest: 7,5 von 10 kubanischen Tabakmischungen gehen diesmal nach Bremen.
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Für eine Handvoll Blei

„Ich bin kein Pferd, dem man die Sporen geben kann!“

Der italienische Regisseur Tanio Boccia war ein echter Genre-Arbeiter: Ab 1960 diente er sich einige Jahre lang dem Sandalenfilm an, um nach einer Ritterromanze und einem Eurospy-Beitrag auf Italo-Western umzusatteln. Hierzulande erlangte sein 1967 gedrehter „Die sich in Fetzen schießen“ als Vorlage der psychedelischen „Willkommen in der Hölle“-Neuverfilmung eine gewisse Bekanntheit, seinen Einstand im Genre feierte er jedoch bereits ein Jahr zuvor mit dem Sergio-Leone-inspirierten „Für eine Handvoll Blei“.

„Mein Colt ist immer bereit und ich halte mein Pulver trocken!“

Familie Griffith terrorisiert eine amerikanische Kleinstadt, bekommt jedoch unangemeldeten Besuch von Kopfgeldjäger Ringo (Rod Dana, „Gigant des Grauens“), der sich als violinespielender Jerry ausgibt und der Familienbande die Möbel geraderückt, indem er deren Spross Spot (Fabrizio Moroni, „Im Staub der Sonne“) mitsamt dessen Männern in Notwehr tötet. Von Familie Drumont, auf deren Ranch nur noch die attraktive Tochter Lisa (Elina De Witt, „Isabella – Mit blanker Brust und spitzem Degen“) zusammen mit ihrem Cousin Steve (Tony Rogers) und ihrer Großmutter (Mary Land, „My American Wife“) lebt, erfährt er vom ganzen Ausmaß der verbrecherischen Griffith’schen Umtriebe, während der feindliche Patriarch Jonathan Griffith (Furio Meniconi, „Kathargo in Flammen“) den Auftragsmörder Baltimore Joe (Gordon Mitchell, „3 Kugeln für Ringo“) anheuert, um Spot zu rächen. Und auch auf Lisa hat es die Bande bald abgesehen…

„Hier fliegt einem verdammt viel Blei um die Ohren!“

Die Exposition könnte klassischer kaum sein: Ein Jüngling tanzt dem Sheriff (Andrea Bosic, „Arizona Colt“) auf der Nase herum; ein fremder Violinenspieler betritt den Saloon, wo eine Prügelei zur Schießerei wird, sich der Fremde als äußerst wehrhaft erweist und dem Jungspund samt dessen Kumpanen eine Lektion erteilt. Bei jenem Jüngling handelt es sich um Spot Griffith, vor dessen krimineller Familie alle Angst haben, da sie ständig Überfälle begeht und ihre Mitmenschen bedroht. Der Fremde, der sich Jerry nennt, lernt Lisa kennen, in die jedoch auch Chester (Alberto Farnese, „Aladins Abenteuer“), Anführer der Griffith-Bande, verliebt ist. Somit spielt nun auch Eifersucht eine Rolle, die – natürlich – in einem Duell „verhandelt“ wird. Und natürlich geht Jerry als Sieger hervor, indem er als echter Revolverheld alle erschießt. Zunächst blieb noch Spot übrig und eigentlich hätte man erwartet, dass es in einem Showdown gegen Ende zu einem finalen Kampf Ringos (wie Jerry eigentlich heißt) gegen Spot kommt. Doch an dieser Stelle überrascht die Handlung damit, dass Ringo kurzerhand auch Spot den Garaus macht und die Handlung um neue Antagonisten ergänzt wird.

So kommt es zur Konfrontation mit Baltimore Joe, die Ringo ebenfalls für sich entscheidet, was schließlich den Sheriff auf den Plan ruft, dem das alles nicht geheuer ist. Er hat Ringos wahre Identität herausgefunden und will, dass er verschwindet. Der Sheriff vertritt damit einen klassischen Konservatismus, der die alten Verhältnisse restaurieren und festigen will. Damit baut er folgerichtig auf Sand, denn dass Chester Ringo dafür in Ruhe lassen werde, entpuppt sich als dreiste Lüge: Ringo wird – ein weiteres klassisches Genremotiv – misshandelt und bis zum Hals eingegraben, um ihn langsam und qualvoll sterben zu lassen. Doch wie in jeder dieser Geschichten ist es ein großer Fehler der Schurken, ihn nicht kurzerhand zu erschießen, und so wird Ringo gefunden und vom alten Petrack (Beniamino Maggio, „Die Gezeichnete“) aufgepäppelt, während Chester für gut Wetter bei Lisa zu sorgen versucht (und ist sie nicht willig, so braucht er Gewalt). So weit, so traditionell, aber auch grundsolide. Interessanter wird die Handlung, wenn Chester eine Hochzeit und ein großangelegtes Mordkomplott plant. Eine Rufmordkampagne ist ein weiterer aufgegriffener Topos: Es wird die Mär kolportiert, Ringo habe Gesetzeshüter auf dem Gewissen.

Der Showdown auf der Hochzeitsfeier, für den sich Ringo mit dem Sheriff verbündet, ist ein würdiges Finale dieses passablen Genrebeitrags, dessen aus Ringos Mund kommende Kalendersprüche spätere Produktionen durch gehobene Sprücheklopferei persiflierten, während hier Lisas mürrische, keifende Oma und Petrack, also wie so oft die Alten, für etwas Humor sorgen. Die streicherlastige musikalische Untermalung changiert zwischen hörenswert angemessen und unpassend fröhlich, während der Handlung das große Überraschungsmoment der Genregrößen ebenso fehlt wie US-Amerikaner Rod Dana und seiner Rolle das Geheimnisvolle bis Abgründige echter Italo-Western-Antihelden und die Handlung nur schwerlich aus dem Wust ähnlicher, sich an „Für eine Handvoll Dollar“ und „Django“ orientierender Drehbücher hervortut.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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