bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Tatort: Mordgedanken

„Wer verarscht Sie?“

Nach Kriminalhauptkommissar Brammers (Knut Hinz) erstem Fall, dem enttäuschenden „Kneipenbekanntschaft“, ging es in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover am 6. Juli 1975 mit „Mordgedanken“ sogar noch schwächer weiter. Der angeblich authentische Fall misslang Regisseur Bruno Jantoss („Frau Brückl muss sich umstellen“) und den Autoren Rainer Boldt und Rüdiger Humpert leider gründlich. Ob es an der Romanvorlage „Mord im September“ aus der Feder Stefan Murrs lag, kann ich nicht beurteilen, denn diese ist mir unbekannt. Es handelte sich um Jantoss‘ erst zweite Regiearbeit und es sollte seine letzte innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Krimireihe bleiben.

„Liebe – was ist das schon…“

Irgendjemand verpackt Teile einer Frauenleiche in Kartons und schickt diese mittels Güterzügen auf Reisen nach nirgendwo. Kommissar Brammer, gerade aus dem Urlaub zurück, versucht, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Derweil reist die attraktive junge Daniele Bontoux (Silvia Reize, „Der Steppenwolf“) von Brüssel in den niedersächsischen Ort Rhüden, um Wurtstfabrikant Edmund Freese (Gunnar Möller, „Hunde, wollt ihr ewig leben?“) zu treffen, zu dem sie eine Affäre unterhält. Während ihrer Reise stellt ihr Bundesbahnoberrat Sperling (Ulrich Matschoss, „Tatort: Strandgut“) nach. Freese möchte sich von seiner zurzeit verreisten Frau Tina scheiden lassen. Sein Schwager Alfred Georgie (Peter Herzog, „Ermittlungen gegen Unbekannt“) wiederum trauert um Freeses jüngst verstorbene Schwester. Georgies Tochter Ricki (Jutta Speidel, „Die letzten Ferien“) hingegen ist ein Verhältnis zum Familienanwalt Robert Kenzie (Herbert Bötticher, „Tatort: Acht Jahre später“) eingegangen, Freeses Sekretärin Frau Kotelecki (Angela Hillebrecht, „Der Pendler“) schwor einst einen Meineid für ihren Chef und sieht daher eher sich denn Daniele als Tinas Nachfolgerin an seiner Seite – und wer durch all diese komplizierten Beziehungskisten noch vollumfänglich durchsteigt, dem sei mein Respekt versichert. Sperling konnte zwar nicht bei Daniele landen, kann aber dem zunächst nur Bahnhof verstehenden Brammer helfen, indem man gemeinsam ermittelt, dass alle Leichenteilewege zurück nach Rhüden führen. Sperling konstruiert einen Zusammenhang mit Daniele und so landet irgendwie Brammer in all dieser Mischpoke…

Nach dem kruden Leichenteilkartonfund im Prolog verfärbt sich das Bild mit einem Animationseffekt effektheischend blutrot und beteuert ein Lauftext die Authentizität des Gezeigten, nur die Namen und Orte habe man geändert. Schon bald wendet man irrsinnig viel Zeit dafür auf, Daniele und ihre Familie zu Hause vorzustellen – die französischen Dialoge werden untertitelt –, bis sie endlich auf Reisen geht. Handelt es sich um Rückblenden zu den letzten Minuten der Toten, stammt der abgetrennte Arm von ihr? Schon zu weit gedacht: An dieser Stelle wird schlicht einer von mehreren parallelen Handlungssträngen etabliert. Bahnblockwart Sperling erweist sich als verschlagener Stalker, verschwindet jedoch erst einmal aus der Handlung. Dafür kommt Herr Freese ins Spiel, dem gegenüber Daniele mal mit französischem Akzent spricht, diesen aber nicht konsequent durchhält. Ein Indiz in einem Mordfall? Wieder zu weit gedacht, denn es handelt sich offenbar schlicht um schauspielerisches Unvermögen.

Zu Daniele, Sperling und Freese gesellen sich nach und nach die zahlreichen weiteren Figuren aus der Inhaltsangabe, bis das Seifenoper-Ensemble mit seinen komplizierten Verhältnissen, durch die kaum noch jemand durchsteigt, komplett ist. Brammer, der junge Kommissar in Lederjacke, bekommt einen Rüffel wegen Verstoßes gegen die Vorschriften, was wie ein hilfloser Versuch wirkt, ihm Charakter angedeihen zu lassen. Aufhorchen lässt da eher der Kirschlikörkonsum Sperlings, der, kaum greift die Handlung diesen Bahnfuzzi wieder auf, bedenkliche Ausmaße annimmt. Was seiner Figur eine tragische Note verleihen soll, avanciert zu einer Art Running Gag. Dafür arbeiten Sperling und Brammer nun eng zusammen, und auf den Badener „Tatort“-Kommissar Gerber (Heinz Schimmelpfennig) entfällt der damals obligatorische Gastauftritt – als sei das Figurenensemble noch nicht groß genug. Immerhin hat er den Überraschungsmoment auf seiner Seite, denn angetäuscht wurde zunächst ein weiterer der unzähligen Gastauftritte Kommissar Veigls aus München.

So plätschert die Handlung ohne erkennbaren roten Faden lange vor sich hin, frei von jeder Action, kaum spannend und von einer derart drögen, seifigen Stimmung, dass man inständig darauf hofft, die Auflösung möge es noch herausreißen. Im Finale lässt man noch ein enervierend lautes Uhrenticken über sich ergehen, um schlussendlich zu realisieren, dass (Achtung, Spoiler!) es hier nicht einmal einen Mord gibt! Brammer klugscheißt unangenehm belehrend am Schluss, doch woran die Tote letztendlich verstorben ist, behält dieser „Tatort“ für sich. Ein weiterer Lauftext verkündet am Ende die Gerichtsurteile. Pickt man sich nur die Rosinen unter den Wiederholungen klassischer „Tatort“-Episoden heraus, läuft man Gefahr, zu vergessen: Auch so war der bundesdeutsche Kriminalfilm damals – bieder, hölzern, ereignisarm und langweilig. 3,5 von 10 Leichenteilen behalte ich, der Rest geht postwendend an den NDR retour!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Polizeiruf 110: Das Licht, das die Toten sehen

„Der Schlittschuh-Mörder von der Isar?“

Im Münchner „Polizeiruf 110“-Arm hatte es Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) in ihrem vierten Fall „Bis Mitternacht“ zur Oberkommissarin bei der Mordkommission gebracht. Regisseur Filippos Tsitos („Tanze Tango mit mir“) verfilmte für Eyckhoffs am 15. Mai 2022 erstausgestrahlten fünften Einsatz ein Drehbuch Sebastian Brauneis‘ und Roderick Warichs und schuf damit eine ungewöhnliche Mischung aus Kriminalfilm und Psychodrama.

„Hey, nicer Drop!“

An einem Waldstück wird der in Plastikfolie eingepackte Leichnam Laura Langhammers gefunden, einer Jugendlichen, die in ihrer Freizeit gern den Münchner Eistanz-Palast aufsuchte. Oberkommissarin Eyckhoff wird von Caroline Ludwig (Anna Grisebach, „Heiter bis tödlich – Koslowski & Haferkamp“) darauf gestoßen, dass Parallelen zum Fall ihrer vor zwei Jahren spurlos verschwundenen Tochter Anne existieren. Tatsächlich sahen sich beide Mädchen sehr ähnlich und in beiden Fällen wurde ein weißer Transporter gesichtet. Die Ermittlungen Eyckhoffs und ihres ihr bereits aus Streifendienstzeiten bekannten neuen Kollegen innerhalb der Mordkommission, Dennis Eden (Stephan Zinner), führen jedoch ausgerechnet zu Caroline: Überwachungskamerabildern zufolge hatte sie sich kurz vor deren Ermordung mit Laura an der Schlittschuhbahn unterhalten. Caroline ertränkt seit Annes Verschwinden ihren Kummer im Alkohol und stellt Mädchen, die ihr ähnlichsehen, nach – so auch Stefanie Reither (Zoë Valks, „Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“), die mit ihrem dauerbekifften und sehr anhänglichen Halbbruder Patrick Kundisch (Aniol Kirberg) zusammenlebt und Drogen vertickt. Eyckhoff tastet sich vorsichtig an die Gemengelage heran und versucht, sich einen Gesamtüberblick über sämtliche Verstrickungen zu verschaffen…

„Das Licht, das die Toten sehen“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Nicht nur der Leichenfund gibt Rätsel auf (Täter? Motiv?), sondern auch die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen den drei jungen Frauen und zwischen den Müttern der verschwundenen bzw. toten Mädchen. Nicht minder rätselhaft ist die Beziehung zwischen der attraktiven, selbstbewussten Stefanie und ihrem nichtsnutzigen, schmalbrüstigen Halbbruder, der die gemeinsame Wohnung nie zu verlassen scheint. Undurchsichtig sind auch Carolines familiäre Verhältnisse um ihre Tochter und ihren Ex-Mann (Gerhard Wittmann, „Die reichen Leichen. Ein Starnbergkrimi“). Offensichtlich hingegen sind ihre Trauer sowie die quälende Ungewissheit den Verbleib Annes betreffend, an der sie endgültig zu zerbrechen droht. Zugleich macht sie sich verdächtig. Hat sie eines der Mädchen auf dem Gewissen? Oder gar beide?

Da Tsitos’ erster „Polizeiruf 110“-Beitrag alles andere als geschwätzig ist, wird die mysteriöse Grundstimmung lange aufrechterhalten und in ein urbanes Ambiente eingebettet, in dem Hochhausschluchten auf Stroboskop und Kälte der Eislaufbahn treffen, jugendliche Verunsicherung und Langeweile mit Drogen bekämpft werden und die Manipulation von Mitmenschen als besonderer Kick herhalten muss. Erzählt wird diese Geschichte in zwei lange Zeit parallel verlaufenden Handlungssträngen (inklusive einer Rückblende), die nach und nach immer mehr Berührungspunkte aufweisen, bis sie im Finale aufeinanderprallen. Dieses bestreitet Eyckhoff mit psychologischer Finesse und Empathie in einer Art klassischer Verhörsituation, ohne dass dieser „Polizeiruf 110“ dadurch auch nur annährend angestaubt oder langatmig wirken würde. Stattdessen vermengen sich Spannung und Suspense zu einer reizvollen Melange. Melancholie und Tristesse bestimmen die besondere frühherbstliche Atmosphäre dieses Falls, zu der Eyckhoff mit ihrer Menschlichkeit und positiven Lebenseinstellung einen Gegenpol bildet.

Die fein austarierte, neugierig machende Figurenpsychologie fordert etwas Konzentration ab. Gelingt es, sie aufzubringen und sich auf die Figuren einzulassen, sich zu versuchen, in sie hineinzudenken, wird dies mit unheimlichen guten schauspielerischen Leistungen sowie einem beeindruckenden Stilwillen Tsitos‘ und Kameramann Netzers belohnt. Zoë Valks ist die Entdeckung dieser Episode und deren visuelle Ausgestaltung eine Klasse für sich, ohne in Artyfarty-Niederungen abzudriften. Auf der horizontalen Erzählebene scheint man in Eyckhoff/Eden ein ungleiches Ermittlerduo etablieren zu wollen, das grundverschieden (menschelnd empathisch versus sachlich distanziert), aber dennoch in der Lage zur konstruktiven Zusammenarbeit ist. „Das Licht, das die Toten sehen“ beantwortet am Ende viel und doch so wenig – was jedoch seinen Teil dazu beiträgt, ihn zu einem der auf eine böse Weise faszinierendsten Fälle dieser öffentlich-rechtlichen Krimireihe zu machen, der lange in mir nachhallt.

8,5 von 10 Schlucken direkt aus der O-Saft-Flasche rinnen dafür meine Kehle hinunter.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Die verrückten 80er – Das Lieblingsjahrzehnt der Deutschen

Im Jahre 2016, also zwei Jahre, bevor der WDR eine Sendereihe mit Themenschwerpunkt auf den 1980ern begann (die laut WDR von 1980 bis 1989 reichten, 1990 als eigentliches zehntes Jahr der Dekade also ausgespart wurde), die u.a. die zehnteilige Dokureihe „Unser Land in den 80ern“ und Marion Förschings abendfüllenden Dokumentarfilm „Generation Walkman – Unsere Jugend in den 80ern“ hervorbrachte, war es an Heiko Schäfer, innerhalb eines ganz ähnlichen Formats das Jahrzehnt Revue passieren zu lassen: Sein rund 90-minütiger Dokumentarfilm „Die verrückten 80er – Das Lieblingsjahrzehnt der Deutschen“ verfolgt ein ähnliches Konzept und ist ebenfalls eine WDR-Produktion, die der in der (meist westlichen) Retrospektive zum Kult gewordenen Dekade huldigt. Es handelt sich um die Fortsetzung von „Die verrückten 70er – Das wilde Jahrzehnt der Deutschen“. Im Jahre 2021 reichte der WDR „Die verrückten 60er – Das spektakulärste Jahrzehnt der Deutschen“ nach.

In chronologischer Reihenfolge und mit zeitgenössischen Musikstücken unterlegt wird Globales mit Lokalem, Politik mit Popkulturellem, Technologisches mit Gesundheitlichem kurz und knackig, aber eben auch entsprechend oberflächlich miteinander vermischt und abgehandelt. Die Perspektive ist, wie der Titel schon suggeriert, eine deutsche, allein schon deshalb, weil fast ausschließlich deutsche Prominente zu Wort kommen, die auf anhand zahlreicher Archivaufnahmen präsentierter Ereignisse und Phänomene reagieren. Begleitet werden sie dabei von Susanne Hampl, die alte Originalaufnahmen süffisant aus dem Off kommentiert.

Vor der Kamera versammelt haben sich die Schauspieler(innen) Annette Frier, Ann-Kathrin Kramer, Hannes Jaenicke und Susanne Pätzold, Kabarettist Frank Goosen, die Kölschrock-Musiker Peter und Stephan Brings sowie der Politiker und ‘80er-Bundesminister Norbert Blüm. Einen US-amerikanischen Blickwinkel ergänzt der Komiker John Doyle.

Folgende Themen werden angerissen:
  • Russischer Einmarsch in Afghanistan (ultrakurz)
  • Gründung der Partei „Die Grünen“
  • Zauberwürfel
  • Ronald Reagan (ultrakurz)
  • John Lennons Ermordung
  • Walkmen
  • LCD-Telespiele und Senso
  • Attentate auf Reagan, den Papst und Anwar al-Sadat
  • „Tatort“-Kommissar Schimanski (Götz George)
  • Lady Dis und Charles‘ Heirat
  • Friedensbewegung
  • Fernsehserie „Das Traumschiff“
  • Der DeLorean aus „Zurück in die Zukunft“
  • Mode
  • Falkland-Krieg
  • Sängerin Nicoles Grand-Prix-Sieg
  • Deutscher Regierungswechsel
  • Aerobic
  • Atari-Konsolen
  • C64 (ultrakurz)
  • Kindersendung „Spaß am Dienstag“
  • Audio-CD
  • BMX-Fahrräder
  • Bundestagswahl 1983, Grüne im Bundestag
  • Volkszählung
  • Rheinhochwasser
  • Vermeintliche Hitler-Tagebücher
  • Aids
  • Punks versus Popper und Subkulturen allgemein
  • Frisuren
  • Waldsterben
  • NDW (ultrakurz)
  • BAP in DDR (ultrakurz)
  • Gurtpflicht in Kfz
  • Ghettoblaster und Breakdancing
  • Trivial Pursuit
  • „Masters of the Universe”-Actionfiurenreihe
  • Massentourismus
  • Smogalarm
  • Turnschuhe im Alltag
  • Markenwahn
  • Sowjet-Politiker Gorbatschow (ultrakurz)
  • Tennisspieler Boris Becker
  • Fernsehserie „Schwarzwaldklinik“
  • Fernsehserie „Lindenstraße“
  • Mikrowelle
  • Skateboards
  • Explosion der Challenger
  • Kölsch-Konvention
  • Gorbatschow in DDR
  • Tschernobyl
  • Falsche Neujahrsansprache Helmut Kohls
  • Türkeiöffnung Richtung Westen
  • Rusts Flug auf roten Platz
  • Tennisspielerin Steffi Graf
  • Würmer in Speisefischen (!)
  • Uwe Barschel
  • Birkenstock-Latschen
  • Kinofilm „Dirty Dancing“
  • Abrüstung
  • Kälbermast-Hormonverseuchung
  • Ben Johnsons Doping bei den olympischen Spielen 1988 (ultrakurz)
  • Gladbecker Banküberfall und Geiselnahme
  • Ramstein-Flugschaukatastrophe
  • Brillen
  • CD-Rekorder
  • Videorekorder
  • Computerviren
  • gewaltsame Protestniederschlagung in China
  • Kommunalwahlen in der DDR und die Folgen
  • Lambada-Tanz
Es handelt sich also um einen unheimlich viel abdeckenden Rundumschlag, der für manch Thema nicht mehr als einzelnen Satz übrighat. Die chronologische Sortierung aber ist gut gelungen und bei der Auswahl der Prominenten gab man tendenziell angenehmen Zeitgenossinnen und -genossen den Vorrang gegenüber fragwürdigen C- bis Z-Sternchen – wenngleich manch Bekanntheitsgrad der Beteiligten außerhalb des WDR-Einzugsgebiets rapide abfallen dürfte. Dass auch vor unangenehmen Erscheinungen der 1980er nicht Halt gemacht wird, ist in einer solchen auf Unterhaltung und Kurzweil ausgerichteten Doku nicht selbstverständlich und bewahrt vor Verklärung. Die Balance zwischen unerfreulichen Ereignissen/Entwicklungen und Zeiterscheinungen, in die man sich gern sentimental zurücknostalgiert oder die für Amüsement sorgen, wird passabel bewahrt, ohne den Eindruck zu vermitteln, das eine mit dem anderen aufwiegen zu wollen. Die Gewichtung der Themengebiete wird jeder unterschiedlich empfinden, meines Erachtens vielleicht etwas überrepräsentiert sind reine Medienereignisse wie Fernsehserien, viel zu kurz hingegen kommt der Fußball (der schlicht nicht stattfindet – Schäfer scheint eher Tennisfan zu sein). Für das, was es sein will, ist „Die verrückten 80er“ eine sehenswerte Retrospektive, die einen groben, aber breitgefächerten, boulevardesk bunten Überblick vermittelt, der dazu einlädt, als interessant empfundene Teilbereiche mithilfe anderer Produktionen oder Medien zu vertiefen.
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The Wolf of Wall Street

„Seid eine Armee von Telefon-Terroristen!“

Nach seinem Familien-Fantasy-Abenteuer „Hugo Cabret“ besann sich der US-amerikanische Ausnahmeregisseur Martin Scorsese wieder auf das, was sein eigentliches Markenzeichen ist: eine radikale Kinosprache, die viel über die USA und ihre menschlichen wie sozialen Abgründe erzählt. Der 2013 veröffentlichte „The Wolf of Wall Street“ ist eine als Biographieverfilmung Jordan Belforts getarnte, böse, ätzende Satire auf den US-Finanzmarkt und die pathologische Habgier, die dieser befeuert. Zum wiederholten Male arbeitete Scorsese mit seinem Lieblingsschauspieler der Neuzeit, Leonardo DiCaprio, auf äußerst fruchtbare Weise zusammen.

„Es war ein Irrenhaus, eine Orgie der Gier, zu gleichen Teilen auf Kokain, Testosteron und Körperflüssigkeit!“

Der aufstrebende Börsenmakler Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio, „Gangs of New York“) arbeitet erfolgreich für Mark Hannas (Matthew McConaughey, „Texas Chainsaw Massacre - Die Rückkehr“) Unternehmen, als der „schwarze Montag“ den schönen Traum zerplatzen lässt und Belfort plötzlich ohne Job dasteht. Doch dann wird er auf die Möglichkeiten aufmerksam, die der Handel mit Pennystocks bietet, bei dem eigentlich weitestgehend wertlose Aktien Privatanlegern als sichere Geldanlagen verscherbelt werden und der Händler satte Provisionen einstreicht. Belfort verdient sich dumm und dämlich und gründet zusammen mit seinem Bekannten Donnie Azoff (Jonah Hill, „Bad Sitter“) die Firma „Stratton Oakmont“, die rasant wächst, immer mehr Händler anzieht, die für sie arbeiten wollen, und sich streng am Zynismus orientiert, den Belfort bei Hanna gelernt hat: Nimm die Kunden aus und führe ein Lotterleben in unermesslichem, protzigem Reichtum, feiere die dekadentesten Partys und zieh dir durch die Nase, was die Scheidewand aushält. Doch das FBI in Person Patrick Denhams (Kyle Chandler, „Super 8“) kommt „Stratton Oakmont“ und somit dem vom Familienmenschen zum „Wolf of Wall Street“ mutierten Belfort langsam auf die Schliche…

DiCaprio als Belfort markiert nicht nur die Hauptrolle des Films, sondern tritt auch als Erzähler aus dem Off in Erscheinung, der Film ist also – wie die ihm zugrundeliegende Autobiographie – aus Belforts Perspektive erzählt. „The Wolf of Wall Street“ ist typisch Scorsese: Kriminelle Lebenswege, Antihelden, einst unschuldige Hauptfiguren, die sich in gierige Monster verwandeln, und (ohne zu viel vorwegzunehmen) nach dem Erklimmen der Spitze der eigenverantwortete Absturz. Die narrativen Parallelen zum Gangsterfilm sind kein Zufall, sondern dienen dazu, Belfort in die Riege jener skrupelloser Mafiosi einzureihen, von denen Scorsese in seinen Filmen schon so oft erzählt hat. Nur handelt es sich diesmal um jene ‘80er-Jahre-Yuppies, jene American Psychos, die ihre ahnungslosen Kunden auspressen, die wiederum auch nicht unbedingt besser sind als sie.

Generell hat „The Wolf of Wall Street“ viel von „American Psycho“, jener an die Nieren gehenden Überzeichnung des neoliberalen Yuppie-Unwesens – mit dem Unterschied, dass „Wolf“ übertrieben und überzeichnet wirken mag, es den Überlieferungen zufolge jedoch offenbar gar nicht ist. So viel hier auch mit Drogen hantiert wird, die eigentliche Sucht ist der Wertpapierhandel und der Reichtum, der mit ihm einhergeht. Auf jeden sich auf dem Konto bemerkbar machenden Kick muss der nächstgrößere folgen, und umso exzessiver muss er gefeiert werden. Die Fische, die Belfort und Co. ausnehmen, werden entsprechend größer. Wie Scorsese diese Vorgänge ebenso verständlich wie unterhaltsam audiovisualisiert, ist nahezu perfekt.

Dies geht einher mit verdammt offenen Dialogen, die nichts beschönigen und vor Vulgärsprache strotzen bei gleichzeitiger – auch offen formulierter – Verweigerung, die genauen Finanzmarkthintergründe aufzudröseln, um das Publikum nicht zu langweilen. Dass Belfort und Co. ins Visier des FBI geraten und schlechte Presse bekommen, stört Belfort kaum, im Gegenteil: Durch den Artikel im Forbes-Magazin avanciert er zum Supermann, für den von nun an jedes Arschloch unbedingt arbeiten will – was mehr als nur ein Indiz für den verkommenen Zustand zumindest von Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft während der Reaganomics ist. Die Partys der Finanzyuppies werden immer exzessiver, Drogenmissbrauch (unglaubliche Szenen…) und Prostituiertengebumse galore, von Scorsese mit viel nackter Haut inszeniert. Die Trennung Belforts von seiner Frau (Cristin Milioti, „How I Met Your Mother“) ist logische Konsequenz, die relativ knapp abgehandelt wird; viel Zeit wird hingegen dafür aufgewandt, die Beziehungsanbahnung zum Mannequin Naomi (Margot Robbie, „Suicide Squad“) darzustellen. Robbie ist hier unverschämt sexy und freizügig, ihre Beziehung zu Belfort jedoch auch alles andere als frei von Konflikten.

Geschäftlich werden fast ausschließlich illegale Praktiken betrieben, vorangetrieben mit einer unglaublichen Aggression, einhergehend mit einer fast beängstigenden schauspielerischen Leistung DiCaprios. Wie Belfort und Co. ihre Opfer völlig gleichgültig sind, sind sie es konsequenterweise diesem Film auch. Der Fokus liegt auf Individuen, nicht auf dem System – und schon gar nicht auf den Opfern. Diese bleiben unsichtbar. Auf kontrovers aufgefasste Weise ästhetisiert Scorsese u.a. mit Zeitlupen, Freeze Frames und Tracking Shots die Unmoral und macht oberflächlich betrachtet aus echten Verbrechen Unterhaltungskino, sodass der Verdacht aufkeimen könnte, es er verherrliche sie. Der Film lacht über, aber auch mit Belfort. Wer hätte keine Lust auf einen solchen Exzess, zumal wenn einem kaum Konsequenzen blühen?

Doch genau dies, die Hineinsteigerung in Materialismus und Oberflächlichkeit, ist die implizite Systemkritik, die „The Wolf of Wall Street“ zur Gesellschaftssatire macht. Zyniker Belfort verliert zunehmend seine menschlichen Züge, wird zu einer Grimasse und Karikatur, zu einer Verzerrung – was bereits das erste Bild des Films andeutet. Zugleich bietet dieser viele visuelle Attraktionen, denen man sich zumindest eine Weile gern hingibt. Ob der Repetitivität des Gezeigten wird mit der Zeit daraus jedoch Ekel. Scorsese schien seinen Film mit drei Stunden Laufzeit bewusst zu lang zu gestalten und immer noch einen draufzusetzen, bis ein Großteil seines Publikums endgültig abgestoßen ist von einem weiteren Exzess, noch einer Party, noch mehr Nackedeis – ein zunächst als persönlich empfundenes Gefühl, das irgendwann in Systemekel umschlägt. Komödiantische Höhepunkte wie der des unzuverlässigen Erzählers, während Belfort unter starkem Drogeneinfluss Auto fährt, verblassen schließlich gegen die Empörung, dass Belfort mit einer lächerlich geringen Haftstrafe davonkommt und anschließend weiterhin Menschen an seinen Lippen hängen, wenn er als schmieriger Motivationstrainer auftritt.

Der bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzte und geschauspielerte Film trifft Überlieferungen zufolge den Ton der geschriebenen Biographie Belforts, welcher übrigens grinsend an der Filmpremiere teilnahm und auch noch Profit aus der Verfilmung schlug. Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sicherlich dies. Einen Film ohne jegliche positive Identifikationsfigur drei Stunden lang durchzustehen, ist nicht jedermanns Sache, schon gar nicht, wenn der größte Kotzbrocken auch noch die vierte Wand durchbricht und einen direkt anspricht. Scorsese wagte ein Vabanquespiel und ging das Risiko ein, missverstanden zu werden. Davon unbeirrt provoziert sein u.a. mit Punk- und New-Wave-Songs unterlegter und sogar Tod Brownings „Freaks“ zitierender Film heftige Reaktionen in verschiedene Richtungen, verwendet vor allem aber Belforts Biographie, um eindrucksvoll zu veranschaulichen, was in diesem Gesellschafts-, Polit- und Finanzsystem möglich war und ist – möglicherweise gar ohne, dass Belfort dieser Umstand, gewissermaßen von Scorsese für dieses Anliegen benutzt worden zu sein, bewusst wäre.
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Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Luis Buñuel („Pesthauch des Dschungels“), spanischer, als Meister des surrealistischen Films geltender Autorenfilmer, lieferte mit der Satire „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ im Jahre 1972 seinen drittletzten Spielfilm – einer seiner besten, sagen viele. Er wurde spanisch-französisch-italienisch koproduziert, von Jean-Claude Carrière mitgeschrieben und für diverse Auszeichnungen nominiert, von denen er u.a. den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann.

Szenen aus der Bourgeoisie: Botschafter Don Rafael Acosta (Fernando Rey, „French Connection“), sein Freund Thévenot (Paul Frankeur, „Die Milchstraße“), Thévenots Frau Simone (Delphine Seyrig, „Blut an den Lippen“) und Simones Schwester Florence (Bulle Ogier, „Der Salamander“) besuchen die Sénéchals (Stéphane Audran, „Neun im Fadenkreuz“ und Jean-Pierre Cassel, „Der Riss“), die eine Einladung zum gemeinsamen Essen ausgesprochen hatten. Unangenehmerweise haben diese sich jedoch offenbar im Datum geirrt: Monsieur Senechal ist gar nicht da und seine Frau hat nichts vorbereitet. Kurzerhand sucht man ein Restaurant auf, bekommt jedoch auch dort nichts zu essen, denn der Besitzer ist gestorben, sein Leichnam befindet sich aufgebahrt in einem Nebenraum. Das Essen wird verschoben und ein neuer Termin vereinbart. Doch ein ums andere Mal entfällt aufgrund von skurrilen Zwischenfällen der Gaumenschmaus…

Dies ist einer der Running Gags des Films, ein anderer sind von Geräuschen überlagerte und damit unverständliche Begründungen. Der Filmaufbau ist episodisch, alle männlichen Hauptpersonen werden sequenziell abgehandelt. Alle drei haben Dreck am Stecken, den sie hinter ihrer bürgerlichen Fassade zu verbergen versuchen – was der Titel wohl mit „diskretem Charme“ meint. Alle drei sind in Rauschgiftschmuggel verwickelt und Acosta entpuppt sich nicht nur als Nebenbuhler Thévenots, der seinem Freund schließlich Hörner aufsetzt, sondern auch als korrupter Botschafter der Militärdiktatur des (fiktionalen) lateinamerikanischen Staats Miranda, deren Verbrechen er kleinredet oder verleugnet.

Die Buñuel-typisch surreale Note erhält „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, indem sich jede Sequenz als entlarvender Alptraum je eines der Männer herausstellt bzw. die gesamte Handlung als ausgedehnter Traum Acostas, der die Träume der anderen sowie gar die visualisierten Rückblenden einer weiteren Figur enthält: die Spukgeschichten des Lieutenants. Verbunden werden die Episoden durch Szenen, in denen die Gruppe eine Straße entlanggeht – was auch immer Buñuel damit auszudrücken versucht.

Buñuels Abrechnung mit der Bourgeoisie, ihrer aufgesetzten, heuchlerischen Etikette und ihrer willigen Zusammenarbeit mit Faschisten verzichtet weitestgehend auf eine echte Dramaturgie, präsentiert seine Gags leider meist ohne wirkliche Pointe und innerhalb einer zwar präzisen und ökonomischen, jedoch arg nüchternen Mise en Scène. So ist man dann mehr bei Freuds Psychoanalyse – langatmig und irgendwie witzlos – denn bei einer garstigen Verächtlichmachung der Bourgeoisie, die auf zum Auslachen animierende Weise der Lächerlichkeit preisgegeben würde.

Mit seinem Hang zum Surrealismus bleibt Buñuel zudem übermäßig diffus, was mit dem Faschismus in seiner spanischen Heimat zu tun gehabt haben kann, dem Film aber gewissermaßen das angedeihen lässt, was er an seinen Figuren kritisiert: einen bürgerlichen „diskreten Charme“. Bedenkt man, dass Buñuel selbst dem Bürgertum entstammt (und erst später Kommunist wurde), schwingt bei der Rezeption des Films unterschwellig mit, er sei für ein ebensolches Publikum gedreht worden, für eines, das sich selbst in den Figuren wiedererkennt – und nicht für die breite Masse, die sich über diese lustig machen möchte.

Apropos diffus: Der Handlungsort wird nie genannt, angeblich soll es sich jedoch nicht um Frankreich handeln. Weshalb er dann mit französischen Schauspieler(inne)n besetzt wurde, die französische Rollen spielen, bleibt ein Mysterium…

So richtig gepackt hat mich „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ seiner Thematik, mit der man bei mir offene Türen einrennt, zum Trotz leider nicht, weshalb ich mich mit einer diskreten Durchschnittsnote aus der Affäre ziehe.
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Tatort: Fortuna III

„Um jeden Preis… um jeden!“

Fall Nummer 8 des Essener „Tatort“-Kommissars Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und dessen Assistenten Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge), die einmal mehr von Stammregisseur Wolfgang Becker inszenierte Episode „Fortuna III“, wurde nicht wie üblich an einem Sonntag gesendet, sondern ausnahmsweise an einem Montag: dem Pfingstmontag des Jahres 1976. Das Drehbuch verfassten Hanuš Burger und Wolfgang Mühlbauer.

Der zwölfjährige Paul Starczik (Oliver Urlichs) ist ein echter Lausebengel, an dem sein Vater (Ferdinand Dux, „Chinesische Mauer“), Platzwart eines Betriebssportvereins, verzweifelt. Schon oft ist Paul weggelaufen und hat sich auf dem Gelände der verlassenen Zeche „Fortuna III“ versteckt, wo er Ruhe vor seinem Vater hat. So auch an diesem Abend, als er Zeuge wird, wie der angetrunkene Likörfabrikbesitzer Jul (Gerd Böckmann, „Jeder stirbt für sich allein“) die neue Vereinsheimsaushilfe Ellen Schelle (Evelyn Palek, „Der gestohlene Himmel“) auf ihrem Heimweg belästigt und zu vergewaltigen versucht, sie dabei versehentlich totschlägt. Wie soll Paul sich nun verhalten? Jul ist einer der wenigen, die immer zu ihm gehalten haben. Er hat ihm eine Lehrstelle in seiner Fabrik in Aussicht gestellt und ist außerdem mit Pauls großer Schwester Birgit (Gracia-Maria Kaus, „Das Spukschloss von Baskermore“) verlobt. Paul verspricht Jul auf dessen Drängen hin, Stillschweigen zu bewahren. Kommissar Haferkamp und dessen Assistent Kreutzer nehmen die Ermittlungen auf und treten dabei auch an den widerborstigen Paul heran. Mit Paul, der mittlerweile von seinem überforderten Vater ins Erziehungsheim gesteckt wurde, war auch vorm Totschlag nicht gut Kirschen essen: Seit sein bester Freund Ali zusammen mit seiner Familie nach Australien ausgewandert ist, hat er gar keine Freunde mehr. Am liebsten würde er auch nach Australien abhauen, benötigt dafür jedoch 2.000 Mark. Die sollten Jul Pauls Schweigen doch wert sein, oder…?

„Er mag eben keine Bullen!“

„Fortuna III“ erobert mit seinen authentischen Ruhrpott-Bildern, die von einer Kamera mit viel Verve eingefangen werden, die Herzen des Publikums – insbesondere in der Retrospektive mit ein paar Dekaden Abstand. Vergewaltigungsversuch und Totschlag werden in allen Details gezeigt und bereiten angemessenes Unwohlsein, Täter und Motiv stehen dadurch jedoch von vornherein fest. Dafür entbrennt ein ungleiches Psychoduell zwischen Jul, der Paul unter Druck setzt, ihm Angst macht und droht, und Paul, der sich zwischen Loyalität zu Jul, etwaigen unangenehmen Folgen, Zusammenarbeit mit der Polizei oder Ausnutzen der Situation für seine eigenen Zwecke entscheiden muss. Das ist von Jungdarsteller Oliver Urlichs fantastisch gespielt, dessen einzige Filmrolle diese Verpflichtung blieb. Anhand der zerrütteten Beziehung zwischen Pauls Vater und Paul wird das Versagen autoritärer Erziehungsmethoden offenbar, und dass Paul seinem Umfeld entkommen und alles hinter sich lassen möchte, ist nur allzu verständlich: Der Junge braucht eine Art Neuanfang.

„Sie sind gegen mich!“

Haferkamp hat als einziger den richtigen Riecher, dass Paul etwas mit dem Fall zu tun hat. Eigentlich kann er mit Kindern nicht umgehen, muss aber einen Zugang zu Paul finden – was zum einen die Kommissarsfigur weiter charakterisiert und zum anderen einen besonderen Reiz dieser Episode ausmacht. Kreutzer recherchiert entscheidende Hinweise, Haferkamps Ex-Frau Ingrid hingegen taucht diesmal überraschenderweise nicht auf. Paul fährt bereits selbst Auto und raucht, Hafi gibt ihm sogar Feuer, um sich mit ihm gutzustellen – und beißt doch immer wieder auf Granit. Damit nicht genug: Paul lernt die „Hot Wheels“ kennen und wird zum Rocker gemacht, wenngleich die es nur auf sein Geld abgesehen haben. Dafür sieht er nun aus wie einer von Judas Priest. Der Showdown an der Autobahn ist spannend und brutal, der Fall am Ende gelöst, das eigentliche Ende aber offen.

„Ehrenwort gegen Bullen zählt nicht!“

Auffallend hübsch sind die die Frauen in diesem „Tatort“. Evelyn Palek als Ellen verschwindet zwar recht bald aus der Handlung, dafür ist Gracia-Maria Kaus als Birgit in jeder ihrer Szenen ein Hingucker. Der Fall ist insgesamt etwas sehr konstruiert und mit ein paar Unwahrscheinlichkeiten gespickt, hat aber Stil, ist gut und relativ temporeich erzählt und verbreitet mit seiner Geschichte vom juvenilen Delinquenten, der tapfer gegen die Erwachsenenwelt und ihn überfordernde Entscheidungen ankämpft, diese spezielle Außenseiter-Abenteuer-Stimmung. Vivaldi und Black Sabbath („Laguna Sunrise“) spielen den Soundtrack dazu, und am liebsten würde man sich nach dem Abspann in eine Ruhrpottpinte setzen und mit Haferkamp das eine oder andere Pilsken heben.
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Tatort: Liebeswut

„Warum war da dein Kopf im Kleid?“

Das noch junge Bremer „Tatort“-Trio schrumpft für seinen dritten Einsatz auf Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram), denn Mads Andersen (Dar Salim) ist diesmal nicht dabei. Das Psycho-Thrill-Kriminaldrama „Liebeswut“ wurde von Martina Mouchot geschrieben und von Anne Zohra Berrached inszeniert, die im Jahre 2017 mit der Episode „Der Fall Holdt“ innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Ihr zweiter „Tatort“, „Das kalte Haus“, wird erst am 06. Juni 2022 gesendet; vorgezogen wurde ihre dritte „Tatort“-Regiearbeit, die im Herbst 2021 gedreht und am 29. Mai 2022 erstausgestrahlt wurde.

„Loben Sie mich!“

Ein Feuer hat in einer Wohnung gewütet, doch das Schlafzimmer ist unversehrt. Im Bett liegt eine Frau (Ilona Thor), tot, möglicherweise Selbstmord. Am Körper trägt sie ihr knallrotes altes Hochzeitskleid, an die Wände sind dubiose Botschaften von sprechenden Teufeln gekritzelt. Was war hier los? Kommissarin Liv Moormann und BKA-Ermittlerin Linda Selb ermitteln im Umfeld der Toten. Als sich herausstellt, dass beide Töchter der Toten, die sie mit ihrem getrenntlebenden Mann Thomas Kramer (Matthias Matschke, „Pastewka“) hatte, spurlos verschwunden sind, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – der dadurch erschwert wird, dass die Ermittlungen Flashbacks in Moormanns Kindheit auslösen. Der Fall triggert sie, ohne dass sie genau wüsste, weshalb…

„Was ist da unten?“ – „Der Teufel.“

Bilder in knalligem Rot, Moormann aus dem Off sprechend – so beginnt dieser „Tatort“, der kurz darauf Moormann zeigt, wie sie ihren Kopf im knallroten Brautkleid der Toten versenkt und vom ersten von mehreren (visualisierten) Flashbacks mental durchgeschüttelt wird, die sich als wiederkehrendes Element durch den gesamten Fall ziehen werden. Regisseurin Berrached bemüht sich redlich um eine mystisch-düstere Atmosphäre, oder besser: Was zunächst noch etwas bemüht wirken mag, ist lediglich ein wenig gewöhnungsbedürftig und entfaltet sich bald zu einer unheiligen Stimmung, zu der auch die durch die Bank weg unangenehm schrägen Figuren passen: Während Thomas Kramer noch einen recht zurechnungsfähigen Eindruck macht, entpuppt sich seine neue Lebensgefährtin Jaqueline Deppe (Milena Kaltenbach, „Tatort: Die Kalten und die Toten“) als die Ermittlungen behindernde Narzisstin mit peinlich infantilem, der Realität entrücktem Manga-, K-Pop oder Was-auch-immer-Fetisch. Schulhausmeister Joachim Conradi (Dirk Martens, „Die Liebe des Hans Albers“) ist ein Pädophiler, der gern an Mädchenkleidung schnüffelt und sich erhängt, nachdem die Empathie noch übende Autistin Selb ihn dabei beobachtet und harsch konfrontiert hat. Nun hat sie einen Suizid mitzuverantworten. Die Eltern der Toten, Sybille (Ulrike Krumbiegel, „Nächste Ausfahrt Glück“) und Burkhard Dobeleit (Thomas Schendel, „Lammbock – Alles in Handarbeit“), haderten zeitlebens mit ihrem Schwiegersohn und sind ebenfalls keine große Hilfe. Ganz zu schweigen vom Nachbarn Gernot Schaballa (Aljoscha Stadelmann, „Harter Brocken“), einem übergewichtigen, verwahrlosten Speiseeis-Junkie im speckigem Unterhemd, der mit seiner pflegebedürftigen Mutter zusammenlebt und Moormann in ihren Flashbacks verfolgt. War er in ihrer Kindheit ihr gegenüber übergriffig geworden?

Moormanns und Selbs Verdächtigungen gehen zunächst in unterschiedliche Richtungen, bis sie auch ganz ohne männliche Hilfe durch Andersen gemeinsam an einem Strang ziehen, um nach und nach Licht ins Dunkel dieses vertrackten Falls zu bringen – und dabei doch ständig auf der Stelle zu treten scheinen. Ihnen begegnen menschliche Abgründe, Moormann wird zudem mit ihren eigenen konfrontiert, doch von den Kindern weiterhin keine zielführende Spur. „Liebeswut“ kommt ohne einen parallel erzählten Handlungsstrang aus, sein Publikum verfolgt fast ausschließlich die Polizeiarbeit – die dennoch sehr spannend und mit manch Überraschung gespickt ausfällt. Die finale Wendung ist zwar vielleicht eine zu viel, dafür ging ihr ein wahrlich unheimliches Finale voraus. Berrached und Co. ist ein starkes Kriminaldrama mit durchstilisierten Bildern, hervorstechender Farbsymbolik, beeindruckenden schauspielerischen Leistungen und begnadeter Kameraarbeit mit stets korrespondierender musikalischer Untermalung gelungen, das falsch verstandene Liebe auf mehreren Ebenen thematisiert. Die aus ihre resultierende „Liebeswut“ stellt sie eklatantem Liebesmangel gegenüber, der offenbar Moormanns Psyche prägte. So abgedroschen das Sujet privat involvierter Ermittler(innen) mit Psychoknacks mittlerweile auch sein mag, so hochwertig ist dieses weitere Beitrag zum Kanon.

Trotzdem würde ich mir wünschen, dass Kripo- und BKA-Beamtinnen skeptisch werden, wenn man ihnen einen quasi leeren Heizungskeller als den privaten Kellerraum präsentiert. Da dies für die Handlung jedoch keine Rolle spielte, scheint dies am Set niemandem aufgefallen zu sein…?
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Die nackte Kanone

„Hier gibt’s nichts zu sehen!“

Nach der eher konventionellen (nichtsdestotrotz gelungenen) Komödie „Die unglaubliche Entführung der verrückten Mrs. Stone“ besann sich das US-Trio David Zucker, Jim Abrahams und Jerry Zucker (kurz: „ZAZ“) wieder auf seine Fähigkeiten im Spoof-Bereich und wärmte eine Idee wieder auf, die bereits ein paar Jahre auf dem Buckel hatte: die der US-Polizeifilm-Parodie, die bereits 1982 in Form der kurzlebigen und offenbar nicht sonderlich erfolgreichen Serie „Police Squad“ umgesetzt wurde – schon damals mit Leslie Nielsen in der Hauptrolle. „Die nackte Kanone“ ist der Titel des abendfüllenden Kinofilms, der von alle dreien geschrieben und von David Zucker inszeniert wurde. Er startete im Dezember 1988 in den US-Kinos, trat im Folgejahr seinen europäischen Siegeszeug an und wurde einer der erfolgreichsten und bekanntesten „ZAZ“-Filme.

Lt. Frank Drebin (Leslie Nielsen) ist Teil einer sehr speziellen Spezialeinheit der US-Polizei und wird damit betraut, für den Schutz der britischen Königin während ihres US-Besuchs Sorge zu tragen. Der Industriellenschurke Vincent Ludwig (Ricardo Montalban, „Star Trek – Der Zorn des Khan“) hingegen plant das exakte Gegenteil: ein Attentat auf die Queen! Er ist es auch, der Drebins Kollegen Nordberg (O.J. Simpson, „Cassandra Crossing“) hat niederschießen lassen. Drebin begibt sich zusammen seinem Partner Ed (George Kennedy, „Vor Morgengrauen“) auf die Spur des Fieslings, der jedoch seine attraktive Handlangerin Jane Spencer (Priscilla Presley, „Dallas“) auf ihn angesetzt hat. Wird es ihr gelingen, den tapferen Polizisten um den Finger zu wickeln? Oder bleibt Drebin standhaft und kann Ludwigs sinistre Pläne durchkreuzen?

„Man geht schon ein Risiko ein, wenn man morgens aufsteht, über die Straße geht und sein Gesicht in einen Ventilator steckt.“

Im Prolog treffen sich von Schauspielern verkörperte, nichtsdestotrotz reale Staatsoberhäupter konspirativ zwecks Gründung einer terroristischen Vereinigung – und werden von Frank Drebin verprügelt. Von letztlich erfolgreich gewesener Entspannungspolitik ist hier keine Spur und ungeachtet dessen, wie parodistisch diese Sequenz gemeint ist, dürften sämtliche US-Chauvis applaudiert haben, wie Drebin hier mit den Feinden der USA kurzen Prozess macht. Auf diesen eher unangenehmen Einstieg und den ikonischen Vorspann mit der Polizeiwagen-Point-of-view-Perspektive folgt ein regelrechter Slapstick-Overkill O.J. Simpsons im Todeskampf, bevor sich der Film zwischen vorzüglich Klischees karikierender Polizeifilmparodie, ungezügelter Slapstick-Posse, oft recht stumpfem Sprachwitz und Running-Gag-Abfolge einpendelt. Doch „Die nackte Kanone“ zitiert, persifliert und referenziert auch auf Spielfilme über das Polizeifilm-Genre hinaus und bekommt durch seine „Casablanca“-Verballhornung sogar einen Film-noir-Touch. Im letzten Drittel gerät „Die nackte Kanone“ schließlich zu einer Art Baseball-Parodie. Eines seiner Markenzeichen ist es zudem, zahlreiche Gags im Hintergrund des jeweils Fokussierten abzuspielen, die sich vermutlich unmöglich alle während der Erstsichtung erfassen lassen.

Auf diese spezielle, bereits in „Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug“ erprobte Weise werden das chaotische Gag-Feuerwerk und die wenig homogene Handlung vom knochentrockenen Auftreten Drebins und seines Vorgesetzten kontrastiert. Nur selten grimassiert Nielsen in seiner Rolle, die er ansonsten mit all seiner Erfahrung als Darsteller seriöser Film- und Fernsehrollen mit einem Ernst absolviert, der erst den besonderen Charme der „nackten Kanone“ ausmacht. Dieser Kontrast wird auch durch Drebins Voice-over-Narration erzeugt, die von den sichtbaren realen Ereignissen oder vielmehr Pleiten, Pannen und Katastrophen ad absurdum geführt wird. Herrlich abstruse Nonsens-Mono- und Dialoge runden diese Figur und ihr souveränes Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit ab. Auch die ihn sich aufreißende Priscilla Presley spielt das wunderbar mit, beide haben herrlich schräge Szenen miteinander. Diverse Gastauftritte bereichern zudem den Film, von denen mir insbesondere der des Parodisten Weird A Yankovic ins Auge stach.

Es ist durchaus bemerkenswert, wie dem „Zaz“-Trio mit „Die nackte Kanone“ noch einmal ein echter Paukenschlag gelang, der Leslie Nielsen eine Art zweiten oder dritten Frühling bescherte und als fast unantastbarer Kultfilm gilt. Dabei war schon damals längst nicht jeder Witz gelungen, schon gar nicht geschmackssicher oder feinsinnig, und zuweilen hat an diesem Klamauk natürlich auch der Zahn der Zeit genagt. Dafür hat sich „Die nackte Kanone“ aber ins kollektive popkulturelle Gedächtnis eingebrannt und ist für Cinephile aufgrund seines Spoof-Charakters und der Vielzahl an Filmzitaten sogar interessanter als durch die einzelnen Gags an sich. Die beiden Fortsetzungen konnten da hingegen nicht ganz mithalten.
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X

„Praise the fucking Lord.“

Ti West („The Innkeepers – Hotel des Schreckens“), US-amerikanischer Regisseur mit einem Faible für Retro-Horror, meldete sich im Jahre 2022 mit dem schlicht „X“ betitelten 1970er-Rollback-Backwood-Slasher auf der Kinoleinwand zurück. Obwohl in Texas, USA, spielend, wurde „X“ in Neuseeland gedreht.

„Must be one goddamn fucked up horror picture!”

Im Sommer 1979 machen sich die ambitionierte Nachwuchs-Darstellerin Maxine Minx (Mia Goth, „Suspiria“-Neuverfilmung), ihr Lebensgefährte und Produzent Wayne (Martin Henderson, „Ring“) und die bereits seit einigen Jahren im Geschäft aktiven Darsteller(innen) Bobby-Lynne (Brittany Snow, „Hairspray“) und Jackson Hole (Kid Cudi, „Don't Look Up“) gemeinsam mit Regisseur RJ (Owen Campbell, „White Lightnin'“) und dessen assistierender Freundin Lorraine (Jenna Ortega, „Scream 5“) auf den Weg von Houston zu einer abgelegenen texanischen Farm, um dort den Pornofilm „The Farmer’s Daughters“ zu drehen. Das Grundstück des greisen Ehepaars Howard (Stephen Ure, „Deathgasm“) und Pearl (ebenfalls Mia Goth) soll die passenden Kulissen liefern, ohne dass die Besitzer wüssten, was sie erwartet. Howard hat bereits wieder vergessen, dass er (eigentlich nur einen) Mieter für seine Farmhütte erwartet, und begrüßt das Filmteam wenig einladend mit vorgehaltener Schrotflinte. Dennoch wird man sich einig und beginnen rasch die Dreharbeiten, die heimlich von Pearl fasziniert beobachtet werden. Schmerzhaft wird ihr bewusst, dass ihre Libido nach wie vor aktiv ist, Howard sie aufgrund akuter Herzinfarktgefahr aber nicht mehr befriedigen kann. Eben auf diese Pearl Rücksicht zu nehmen bat Howard das Filmteam, während über seine Mattscheibe unentwegt ein TV-Prediger flimmert, der vor den Sünden der Welt warnt. Im ans Grundstück grenzenden See lauert ein Alligator auf Beute, Pearl wird immer rolliger, Howard immer frustrierter – und kurz, nachdem sich Teile der Crew untereinander zerstritten haben, treiben unerfüllte Obsessionen mörderische Blüten…

Ti Wests „X“ spielt nicht nur in den 1970ern, man legte auch Wert darauf, ihn aussehen zu lassen, als sei er in jener Zeit entstanden. Das Bild ist herrlich grobkörnig und wirkt analog, gar noch grober sind die in den Film integrierten Aufnahmen des Pornoteams. Insbesondere der Auftakt des als Rückblende innerhalb einer Polizei-vor-Ort-Klammer konzipierten Films geht als Hommage an „The Texas Chainsaw Massacre“ durch, doch finden sich auch weitere Reminiszenzen an Genreklassiker. West verbeugt sich vor dem Horrorkino eines Jahrzehnts und adaptiert dabei auch dessen heutigen Sehgewohnheiten eines jungen Publikums nicht unbedingt entsprechendes Erzähltempo. Die gewonnene Zeit füllen West & Co. mit der Etablierung einer diffus bedrohlichen Stimmung, der Charakterisierung der Figuren und, klar: Nackt- und Sexszenen. So wird eine flirrende Spannung erzeugt, die einhergeht mit lustvoller Zurückhaltung wie im guten alten Kino oder eben beim Sex. Die Dialoge stecken voller zitierwürdiger Einzeiler – nicht nur, wenn sie Einblicke in damals verbreitetere Auffassungen von Sexualität, Partnerschaft und Pornographie bieten (Stichwort Sex positivity – aber auch daraus resultierende Konflikte).

Bei aller bewusster Rückwärtsgewandtheit des Films ist das Sujet der sexuellen Zurückweisung einer alten Frau doch recht originell, zumal Mia Goth ihre Doppelrolle fulminant meistert – ob als junges Pornosternchen mit einzigartiger Gesichtspigmentierung oder als von der hervorragenden Maskenarbeit bis zur Unkenntlichkeit geschminkte und kostümierte Greisin. Das Final Girl bricht dann auch mit bestimmten Genrekonventionen und der Epilog hat noch eine nette Überraschung parat. In exploitativer Manier nutzt West Alter als Ekelfaktor und lässt es in den Gewaltspitzen auch schon mal deftig splattern, greift aber das Tabuthema „Sex im Alter“ zwischenzeitlich auch auf würdevolle Weise auf. Die zeitgenössische Musik korrespondiert perfekt mit den Bildern, die einem nicht zuletzt mit ihren starken Kontrasten aus Liebe und Hass, Jugend und Alter, Erotik und Ekel nicht so leicht aus dem Kopf gehen. Das Prequel „Pearl“ ist bereits abgedreht und West möchte eine Trilogie aus dem Stoff machen. Nur zu!
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Tatort: Das stille Geschäft

„Ich habe Geld gebraucht…“

Krimi-Experte Jürgen Roland („Stahlnetz“, „Dem Täter auf der Spur“) debütierte im Jahre 1976 mit der Episode „...und dann ist Zahltag“ innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe – und bescherte dem glücklosen Kriminalkommissar Brammer (Knut Hinz) seinen ersten wirklich gelungenen Fall. Ein gutes Jahr später, am 6. November 1977, wurde Rolands zweiter, von Joachim Wedegärtner und Fred Zander geschriebener „Tatort“ ausgestrahlt, der zugleich Brammers Schwanengesang wurde: In „Das stille Geschäft“ übergibt er den Staffelstab an Major Delius (Horst Bollmann, „Wie ein Blitz“) vom Militärischen Abschirmdienst, der ab 1979 seinen eigenen „Tatort“-Zweig erhielt.

„Ich habe es gerne, wenn es so friedlich ist.“

Boutique-Besitzerin Ina Meineke (Cilla Karni) befindet sich in einem finanziellen Engpass, aus der ihr der mysteriöse Herr Jahn (Günther Ungeheuer, „Polizeirevier Davidswache“) heraushilft. Was sie zunächst nicht ahnt: Sie hat gewissermaßen einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, denn Jahn ist ein Kundschafter der DDR, der sie nötigt, ihm geheime Konstruktionspläne ihres Mannes Ulli (Claus Theo Gärtner, „Ein Fall für zwei“), einem Bundeswehr-Hauptfeldwebel, zu fotografieren. Militärspionage! Eigentlich müsste Ulli umgehend den Militärischen Abschirmdienst verständigen, doch seine Frau hängt viel zu tief in diesen Verwicklungen drin und er will sie schützen. Jahn verlangt von ihm, ihm eines der neuen Panzersteuermodule auszuhändigen. Meineke willigt ihm ein und übergibt das Modul einem Kontaktmann Jahns, der jedoch bei einem Autounfall stirbt. Das Modul landet daraufhin bei Kommissar Brammer. Gemeinsam mit MAD-Major Delius nimmt er die Ermittlungen in diesem verzwickten Fall auf, während Meineke zu vertuschen und den Verdacht zusammen mit Jahn auf seinen stellvertretenden Vorgesetzten Lanz (Hans Peter Hallwachs, „Tatort: Taxi nach Leipzig“) zu lenken versucht. Gleichzeitig sitzt ihm Jahn im Nacken: Er will ein neues Modul haben – koste es, was es wolle…

„Ich versteh‘ kein Wort!“

Der Prolog zeigt den tödlichen Verkehrsunfall, Polizisten überbringen daraufhin die traurige Nachricht der vermeintlichen Frau des Toten – der jedoch wohlauf ist. Jemand hatte seine Identität angenommen. Texteinblendungen informieren anschließend über das Themengebiet der Spionage und diesen speziellen Fall, suggerieren Authentizität. Es folgt eine Rückblende, in der den Zuschauerinnen und Zuschauern Ina Meineke als polnischstämmige Boutiquebesitzerin in Lüneburg vorgestellt wird. Sie führt gerade eine Schau leichter Sommermode (mit Alida Gundlach respektive – damals noch – Fischer als Moderatorin) durch, als sich ihr Jahn als vermeintlicher Lieferant andient, der Geschäfte mit ihr machen möchte und sie bald über die Bundeswehr ausquetscht. Wir erfahren, dass ihr Mann dort in leitender Position tätig ist, illustriert von Schussübungsbildern mit heftigen Explosionen. Als sich die verzweifelte Ina ihrem Mann offenbart, steht sie bereits mit 15.000 DM in Jahns Kreide – und das Publikum weiß, wie diese Art der Spionage funktioniert. Inwieweit ein solches Vorgehen tatsächlich authentisch ist, entzieht sich indes meiner Kenntnis.

„Ich hab‘ nicht die leiseste Ahnung!“

Nachdem sich Ulli Meineke eingemischt und sich auf den Deal mit Jahn eingelassen hat, wirkt der Schnitt dieses „Tatorts“ erstmals eher unbeholfen, denn nun wird der Unfall aus dem Prolog exakt identisch noch einmal gezeigt. Immerhin weiß man nun, wo dieser zeitlich-dramaturgisch einzuordnen ist. Bilder einer Soldatenfeier werden von den expressionistischen Schattenspielen eines Spions oder einem seiner Handlanger, dessen Gesicht man nicht sieht, bei der Arbeit kontrastiert. Im Anschluss wird an die Szene mit den Polizisten bei der vermeintlichen Witwe angeknüpft, dieses Handlungselement wieder aufgenommen. Die Narration wirkt nun reichlich konfus. Brammer, mittlerweile – ganz der Bulle – schnauzbärtig, kommt erst nach einer halben Stunde ins Spiel; als Forensiker (o.ä.) tritt Edgar Hoppe („Großstadtrevier“) in Erscheinung, den regelmäßige „Tatort“-Gucker(innen) damals bereits als Kriminalmeister Höffgen aus den Kressin-Episoden kannten.

„Der Mann war ein Säufer!“ – „Der Mann war Agent!“

Zwischenzeitlich wirkt es, als wolle Roland (bzw. das Drehbuch) den Verdacht erwecken, einer der Polizisten habe etwas zu vertuschen, möglicherweise spielte meiner Wahrnehmung aber auch die ungewöhnliche Erzählweise einen Streich. In erster Linie vermitteln Roland und sein Team inmitten des Kalten Kriegs Einblicke in Geheimdiensttätigkeiten – in die der DDR einer- und die der BRD in Form des MAD andererseits –, was Brammer zu einer engen Zusammenarbeit mit MAD-Mann Delius zwingt. Bei dieser macht Brammer keinen sonderlich guten Eindruck: Wann immer man aufs gefundene Modul zu sprechen kommt, versteht er kein Wort und wirkt ein bisschen dümmlich. Schrieb man ihm auf diese Weise bereits seinen bevorstehenden Abschied aus der „Tatort“-Reihe ins Buch? Damit nicht genug ist er hier schlicht ein unsympathischer, unfreundlicher, ignoranter Arsch.

Einerseits kongenial ist es hingegen, wie man den Verdacht auf den bemitleidenswerten Lanz lenkt, idiotisch jedoch, dass Jahn in dessen Wohnung genüsslich qualmt und damit olfaktorische Spuren hinterlässt. Lächerlich ausgefallen ist Brammers Durchsuchung Meinekes. Für Zeitkolorit sorgen eingewobene Bilder eines echten Fußballspiels Hannovers gegen Köln um die Meisterschaft. Aufnahmen von Panzerübungen verdeutlichen, worum es bei diesem ominösen Modul eigentlich genau geht. Und fiese Möpp Jahn scheint hauptberuflich Expressionist, wirft nämlich mit Vorliebe lange Schatten.

„Das stille Geschäft“ ist nicht zu verwechseln mit einem Geschäft auf dem stillen Örtchen, sondern Rolands etwas ungelenker Versuch einer Agentenposse mit erschütterndem Ausgang, eine reißerische Mahnung ans Publikum. Sind die erwähnten erzählerischen Konfusionen erst einmal überwunden, ist dieser Fall durchaus spannend erzählt, ansprechend bebildert sowieso und zweifelsohne ein historisch interessantes Zeitdokument des Kalten Kriegs.
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