Was vom Tage übrigblieb ...

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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I am a nymphomanic (Max Pécas, 1971) 3/10

Der Text bezieht sich auf die englische Version mit 91 Minuten. Wobei andere verfügbare Fassungen durch die Bank alle noch kürzer sind. Die französische Wikipedia gibt immerhin 103 Minuten an, und wer weiß, vielleicht machen diese 12 Minuten den Unterschied aus. In dieser 91 Minuten-Version jedenfalls ist DER SEX TRINKT CHAMPAGNER ein eher abgestandenes Sodawasser mit dem Duktus eines Aufklärungsfilms: Die junge Carole, die vom Leben enttäuscht ist (langweilige Eltern, langweiliger Freund, langweiliger Job), entdeckt nach einem Unfall ihre Libido. Fortan wird ihr von ihrer Umgebung eingeredet, dass sie eine Nymphomanin sei, und sie glaubt dies bereitwillig und geht an dieser „Schuld“ fast zugrunde. Sie treibt es mit einer Gruppe Hippies am Strand, mit ihrer Chefin Myriel, mit Myriel und deren Lover Bruno, und im Zweifelsfall auch mal mit einem wildfremden Mann auf der Straße. Nach einem Selbstmordversuch landet sie allerdings wieder genau dort, wo sie angefangen hat: In der kleinbürgerlichen Muffigkeit eines sexfeindlichen Ehemannes und Arztes, der gemeinsam mit einem Priester versucht Carole zu „heilen“.

Klar, dass diese „Heilung“ mit dem Zeigen jeder Menge nackter Haut verbunden ist, und damit kommen wir zum verwendeten Begriff des Aufklärungsfilms. Der 50er-Jahre wohlgemerkt, denn die hier propagierte Moral, verbunden mit der ausgesprochen zeigefreudigen Sandra Julien, ist genau diejenige Moral, gegen die sich die vielgescholtenen „68er“ gewendet haben. Selbst eine ironische oder sarkastische Überhöhung vermag ich in DER SEX TRINKT CHAMPAGNER nicht zu entdecken, es bleibt beim ausgiebigen Zeigen Sandra Juliens unter dem Aspekt, dass dies ja alles ganz furchtbar verkommen und schmutzig ist. Die Narration, vorangetrieben durch ein Voiceover von Carole, welches ihre Gemütslage und die inneren Nöte auswalzt bis zum gehtnichtmehr, ist einfach bieder und unglaublich langweilig, und daran können auch die wunderschöne Kameraführung und die edlen Bilder nichts mehr ändern (Sandra Julien schaut aus wie Jennifer Jones in DAS LIED VON BERNADETTE und hat zumindest in den Kirchenszenen auch den gleichen Nimbus), genausowenig wie die teilweise überraschend sinnlich gedrehten Softsexszenen. Denn was zwischen diesen Szenen passiert steht Filmen wie zum Beispiel Alfred Brauns FRAUENARZT DR. BERTRAM in nichts nach: Spießig, langweilig, bieder, und auf eine bestimmte Art verlogen. Von dem Max Pécas, den ich bisher kennengelernt habe, hätte ich mehr erwartet als eine reine Fleischbeschau auf den Spuren von Helga und Oswald …
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Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Queens of evil (Tonino Cervi, 1970) 7/10

Ein Hauch von EASY RIDER weht durch die Kulisse, wenn Ray Lovelock als David auf einem Motorrad durch das Land fährt, wildromantische Landschaften beäugt, und dazu (von ihm selbst komponierte und eingesungene) country-eske Musik ertönt. Doch wo Peter Fonda seinem Schicksal in Form stupider Hinterwäldler begegnete, ist die Auflösung von LE REGINE schon eine ganz Ecke europäischer. Soll heißen, nicht die Gewalt ist hier der Schlüssel, sondern der Mystizismus. Das beginnt bereits damit, dass David des Nächtens einem Mann bei einer Reifenpanne an seinem Rolls-Royce hilft. Man unterhält sich ein wenig, über Haarlänge, Sex-Sklaven und Freiheit, worüber man halt so spricht während der eine den Reifen wechselt und der andere zuschaut und Zigarre raucht, und zum Dank sticht der Mann einen Nagel in den Reifen von Davids Motorrad, bevor er sich in die Nacht verabschiedet. David will ihn zur Rede stellen, doch dabei kommt es zu einem Unfall – Und der Mann ist tot.
Um nicht Ärger mit der Polizei zu bekommen fährt David durch den Wald und findet ein alleinstehendes Haus, das von drei schönen Frauen bewohnt ist: Liv, Samantha und Bibiana laden ihn zum Frühstück ein, fragen nach seinen libertären Ansichten von Freiheit und Liebe, und zeigen deutlich Interesse an seiner Gegenwart. David bleibt tatsächlich noch da, schläft zuerst mit Samantha, später dann auch mit Bibiana, und bei einem Fest in einem benachbarten Schloss schließlich auch mit Liv. Doch dazwischen gibt es Ereignisse, die David zu denken geben sollten: Bibiana stopft ein totes Eichhörnchen aus. Nach einem Festmahl ist die Küche voll mit Essensresten und Geschirr, zwei Minuten später ist die Küche so leer wie frisch aus dem Katalog. In der Nacht stehen die drei Frauen rund um ein Feuer im Wald, in welches sie ominöse Dinge werfen (wahrscheinlich Molchesaug' und Unkenzehe, Hundemaul und Hirn der Krähe). Samantha kann sich offensichtlich im Moment eines Augenzwinkerns von einem Strand zum anderen bewegen, während armes kleines David immer unter Einsatz seiner Arme schwimmen muss. Seltsame Momente, die David kraft seiner Selbstüberschätzung aber völlig gedankenfrei überstehen kann. Ein Fest, das der Schlossbesitzer in der Nachbarlichtung gibt, wird die Entscheidung bringen, ob David seinen freiheitlichen Idealen entsagen wird, oder ob er dort im Wald bleibt. Bei den Drei …?

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Denn ganz ehrlich, der hellste ist kleines dummes David nicht. Anstatt seinen Sinnen zu trauen und sich zu fragen, ob die drei Schönheiten wirklich alleine im Wald leben, Unmassen von Lebensmitteln fix und fertig in der Küche stehen haben, und sich per offensichtlicher Teleportation von einem Flecken zum andern bewegen können, anstatt sich also solche Fragen zu stellen, gehorcht David, typisch Mann, seinem Schwanz, stellt keine Fragen, und will mit allen dreien ins Bett. David zelebriert seine ganz persönliche Freiheit wie einen Schatz den nur er gefunden hat, der nur ihm gehört, und der zwar seinen Worten nach allen gehören soll, seine Worte aber durch sein Handeln schnell Lügen straft. Denn natürlich legt er keinen Wert auf Besitztümer oder auf Treue, er propagiert nachdrücklich die freie Liebe, wenngleich er auf Rückfrage diese ein wenig darauf einschränkt, dass dies ja eher für Männer gilt. Und als Samantha sich sein Motorrad „ausborgt“ zeigt er bemerkenswert wenig Sinn dafür, dass es kein Eigentum gibt und allen alles gehört. David ist, wenn es hart auf hart kommt, nicht besser als der Mann im Rolls-Royce, ja er ist auch nicht besser als alle andern auf die er von seinem Turm hinabschaut. Die drei Frauen scheinen ihm dies aufzuzeigen, doch er begreift nicht - Das würde sein Ego auch nicht zulassen. Und er begreift auch nicht, wozu dies alles geschieht. Der Zuschauer wird es im Gegensatz zu David am Ende erfahren, und aus heutiger Sicht ist dies ein böses und gemeines Ende. Achtung Spoiler!!! Denn der Teufel, der seine Hexen zusammenstaucht, dass sie ihm zu wenig Seelen bringen, woraufhin sich die Geschurigelten beschweren, dass die heutige Generation keinen Wert mehr legt auf die Dinge die immer funktioniert haben, der führt sich erst einmal auf wie jeder moderne Manager es so tut, gleich ob 1970 oder 2020. Der aus heutiger Sicht böse Nachtritt kommt dann, wenn der Teufel neue Ideen fordert, neue Methoden und Erfindungen (!) verlangt um die Seelen zu ködern, und wir heute wissen, dass er, seiner damaligen Verzweiflung zum Trotz, mittlerweile längst gewonnen hat. Dass die fast ausschließliche Beschäftigung mit den sogenannten sozialen Medien, dem Konsum und dem süchtigen Selbst dazu geführt hat, dass so komische Dinge wie Freiheit, soziale Integrität, Gleichheit oder, was ganz was Verwegenes, Liebe, dass solche Dinge heutzutage längst untergegangen sind. Viel wichtiger ist es doch, das größere Auto, den neuesten Rasenmäher und das Wochenende im Swingerclub zu zelebrieren, anstatt der Ideale denen David am Ende entsagen wird, und die doch eigentlich viel anständiger und aufrichtiger wären, auch und gerade sich selbst gegenüber. Spoiler und Auskotzen Ende.

Doch trotz dieser düsteren Gedanken ist LE REGINE ein sinnenfrohes und lebendiges Märchen. Keine dunkle Moritat, ganz im Gegenteil hat der Film sogar viel Licht, viel Spaß, und einige sehr drollige Szenen, die mit ihrer leisen Komik gut zum Gesamtbild passen. Die drei Damen sind eben keine Hänsel und Gretel-artigen Megären, die nur für Mord und Totschlag leben, sondern dem Leben und der Liebe zugewandte Schönheiten – Zumindest scheint es für David so, und auch der Zuschauer macht diese Reise durch Sonne, Wald und See aus den genannten Gründen gerne mit, obwohl ihm natürlich immer wieder Übles schwant. Eine leichte und sommerliche Atmosphäre, ein deutlich spürbarer Rest von Love & Peace, durchzieht den Großteil des Films, und die gelegentlichen Ausflüge tief ins Herz des gotischen Grusels sind dabei das Salz in der Suppe. Wenn Samantha dem Herrn der Schöpfung einen Apfel frisch vom Baum anbietet, ihn dabei anschmachtet, und wir alle wissen, dass dieser Baum hier eigentlich gar nicht stehen dürfte, dann kommt diese leichte Gänsehaut hoch, die den Fan altmodischer Gruselfilme und –literatur so reizt. Kein Sleaze, kein Gore, keine nackten Tatsachen – Trotz dreier extrem gutaussehender Frauen wird nur ein einziges Mal ein klein wenig der Schleier gelüftet, und nur Haydee Politoff zeigt sich einmal kurz nackt, ohne dabei aber zu viel zu zeigen. LE REGINE legt Wert auf andere Qualitäten. Auf eher altmodisches Zeugs wie eine gute und von Symbolen tief durchdrungene Geschichte und ansprechende Darsteller in Verbindung mit einer perfekten Musik und Settings die zum Hinknien schön sind.

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Vier Jahre später wird Ray Lovelock wieder mit einem Motorrad unterwegs sein, und im LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN wird er den Auswüchsen der Zivilisation wieder entgegentreten müssen, dieses Mal dann aber noch etwas endgültiger. Die Parallelen zwischen LE REGINE und LEICHENHAUS sind auf narrativer Ebene durchaus bemerkenswert. Beide Male der Rückzug aus der Gesellschaft und hinein in einen idealisierten und privaten Bereich, beide Male der Störfaktor, der den Versuch, die geträumten Ideale auch zu leben, vernichtet. Hier sind es drei Hexen, dort ist es die moderne Wissenschaft mit ihren Auswüchsen, die, man denke an den Schlussmonolog aus LE REGINE, aber auch direkt vom Teufel kommen könnte …
Zu erwähnen sind auch gewisse Ähnlichkeiten zu José Ramón Larraz‘ WHIRLPOOL, der im gleichen Jahr gedreht wurde wie LE REGINE. Dort leben zwei Menschen, eine Tante und ihr Neffe, zurückgezogen auf dem Land, und laden fremde Frauen zu sich ein um Spaß zu haben. Was man halt alles so unter Spaß verstehen kann. Aber die Transformation des Gastes zum Objekt der Begierde, die ist beide Male vorhanden. Hier wie da existiert keine Außenwelt mehr, die sich störend einmischen könnte, und die die gewalttätigen Auswüchse einer konsequenten Abschottung unterbrechen könnte. Larraz hat halt mehr Sex und Gewalt im Gepäck, während Cervi mehr auf Stimmung und Symbolik setzt. Das Zusammenspiel aus diesen beiden Filmen findet man dann möglicherweise in Larraz‘ 1973-Grusler VAMPYRES, in dem wieder zwei Frauen allein in einem Schloss leben auf der Suche nach dem ultimativen männlichen Abendessen, dies nur so nebenbei. Aber in diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass 1970 die Ideale der Love & Peace-Generation tatsächlich gerade untergingen und der Rückzug ins Private und vor allem in den Drogenrausch begann. Es dürfte kein Zufall sein, dass Tonino Cervi LE REGINE und José Ramón Larraz WHIRLPOOL in genau diesem Jahr drehten, quasi als filmische Begleitmusik zur gesellschaftlichen Entwicklung. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist bei den damaligen Künstlern ganz deutlich zu spüren und hat klare Spuren in ihrer Arbeit hinterlassen.

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Schlussendlich ist LE REGINE eine große Empfehlung für alle, die auf gute und reichhaltige Geschichten mit mystischen Enden stehen …

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Maulwurf
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Das Geheimnis des gelben Grabes (Armando Crispino, 1972) 6/10

Nachdem der Archäologe Jason Porter in der Nähe von Spoleto ein etruskisches Grab geöffnet, und in diesem eine Abbildung des Totendämons Tuchulcha gefunden hat, kommen plötzlich eine Menge Leute in der Umgebung der Ausgrabung zu Tode. Und zwar auf genau die gleiche Art, wie es auf dem Fresko im Grab zu sehen ist. Nicht hilfreich bei der Aufklärung dieser Mordserie ist, dass Jason schwerer Alkoholiker und dazu ziemlich unbeherrscht ist. Zudem hat er ernsthafte Gedächtnislücken, ja er kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass er seine Ex-Frau einmal versucht hat zu töten.
Diese Ex-Frau, Myra, ist jetzt mit dem cholerischen Dirigenten Nikos Samarakis zusammen, der in Spoleto für eine Theateraufführung probt, und seine gesamte Umgebung mit Tobsuchtsanfällen demütigt. Samarakis ist zwanghaft eifersüchtig, was der deformierte Hinterkopf seiner ersten Frau glaubhaft bestätigt. Aber wäre er fähig, Morde zu begehen? Oder ist doch der Dämon auf die Welt zurückgekommen?

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Bei Hauptdarsteller Alex Cord habe ich immer das Gefühl dass er dann am Besten ist, wenn er sich selber spielt. Der Mann ist zwar, seinem Lebenslauf und seinen Interessen nach zu folgern, alles andere als ein Alkoholiker, aber seine Spielweise ist so natürlich und so intensiv, dass ich ihn jederzeit sofort in eine Entziehungsanstalt schicken würde.
Dieses unglaubliche Können ist es auch, was die erste Hälfte von DAS GEHEIMNIS DES GELBEN GRABES erträglich macht. Nicht die wüste Schnittfolge, nicht die krude Story, und auch nicht die unglaubwürdigen Charaktere. Welche Frau bitte schön kommt auf die Idee, einen Mann zu heiraten der schätzungsweise 30 Jahre älter ist und seine Umwelt mit Tobsuchtsanfällen und ausgewählter Ignoranz terrorisiert? Ist Geld der Grund? Den Eindruck macht Myra eigentlich nicht, womit ihr Charakter eben unter dem Problem der Unglaubwürdigkeit leidet, verstärkt durch eine leichte Blässe seitens der darzustellenden Figur. John Marley als Samarakis zieht hemmungslos vom Leder, Jason pöbelt genauso hemmungslos durch die Gegend und säuft, und irgendwie fehlt jegliche Identifikationsfigur. Die Menschen sind entweder Ekelpakete oder sie sterben recht schnell. Oder beides …

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Doch gottseidank bekommt das Drehbuch Jason irgendwann in den Griff (oder umgekehrt, wer weiß das schon …), und man kann so halbwegs zumindest mit Jason mitfiebern. Etwa ab dem Zeitpunkt, ab dem Jason herausbekommt dass er von einem Fotografen gestalkt wird und eine wüste Verfolgungsjagd durch die Gassen von Spoleto startet, etwa ab hier wird der Film gut. Was ziemlich genau der Hälfte der Laufzeit entspricht. Was bis dorthin unzusammenhängend schien und eher die Grenzgänger unter den Giallo-Fans anspricht, ändert sich nach 45 Minuten und wird zu einer rasanten Mörderjagd mit sehr gut gesetzten roten Heringen. Der Inspektor, bis dahin eher als Witzfigur auszumachen, ändert seinen Tonfall und erhöht den Druck auf Jason zunehmend, und so einige Momente wie etwa das Versteckspiel im Fundus sind außerordentlich atmosphärisch und intensiv. Das Showdown schließlich, in der Krypta einer alten Kirche und zwischen Sarkophagen und Mumien inszeniert, ist hochgradig spannend, und ich scheue mich nicht, den abgedroschenen Begriff nervenzerfetzend zu verwenden.

Für DAS GEHEIMNIS DES GELBEN GRABENS (wieso ist das Grab eigentlich gelb? Damit jeder weiß, dass es sich hier um einen Giallo handelt?) muss man also etwas Sitzfleisch mitbringen, genauso wie das Wissen, dass auch in der Hochzeit des Schwarze-Handschuhe-meucheln-nackte-Frauen-per-stählerner-Penetration-Genres noch andere Spielarten eines Whodunit italienischer Art möglich waren, und bei aller Liebe zu den üblichen schwarzen Handschuhen – Schlecht ist dieser Film beileibe nicht. Nur anders. Und 45 Minuten zu lang …

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Maulwurf
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Teufelstanz der Lust (Sergio Martino, 1992) 5/10

Der Ex-Cop Marc übernimmt einen Auftragsmord in Buenos Aires. Marc ist ein erstklassiger Schütze, aber leider seit dem Mord an seiner Frau und seinem Sohn schwer in Richtung alkoholischer Absturz eingenordet. Dieser Job gibt ihm die Chance, den Tod seiner Frau zu rächen und ein neues Leben zu beginnen. Sein Auftraggeber quartiert ihn in einem Appartement in einem großen Haus ein. Mit zunehmender Irritation bemerkt Marc, dass seine Wohnungsnachbarin sizilianische Lieder singt und Nacht für Nacht lauten Sex hat. Eines Tages steht diese Nachbarin, Marina, bei ihm in der Wohnung. Nach einigem Gekabbel freundet man sich an und landet schnell in der Kiste, wo Marina ihm gesteht, dass der allabendliche laute (und harte) Sex mehr oder weniger erzwungen ist und von einer miesen Type namens Hank an ihr ausgeübt wird, und sie für diese „Dienstleistung“ im Umkehrschluss ein halbwegs gut ausstaffiertes Leben führen kann. Marc und Marina verlieben sich sehr ernsthaft ineinander, doch Hank steht wie ein Schatten zwischen ihnen. Bis der Auftrag für den Job endlich eintrudelt – Das Ziel ist Hank …

Nachdem 1992 mit BASIC INSTINCT das Genre des Erotic Thrillers für einige Zeit so richtig explodierte, könnte man meinen, dass TEUFELSTANZ DER LUST ein typisch italienisches Rip-Off eines amerikanischen Erfolgsrezeptes ist. Aber weit gefehlt, BASIC INSTINCT hatte seine Premiere in den USA im März 1992, und TEUFELSTANZ bereits im Mai 1992. Angenehmerweise ist das so, denn dadurch kann TEUFELSTANZ durchaus eine gewisse Eigenständigkeit im Inhalt attestiert werden. Was allerdings nicht darauf schließen lässt, dass der Film auch wirklich Qualität hat.

Denn wenn man ehrlich ist, dann ist TEUFELSTANZ mindestens so typisch 80er wie Rick Astley oder Uwe Barschel. Die mal träumerisch und mal vorwärts treibende (?) und dabei doch nur ausgesprochen generische Musik ist mit ihren Saxofonen und ihren Keyboards so langweilig wie nur was, Steve Bond schaut aus wie eine Mischung aus Wings Hauer (die Statur) und Matthieu Carrière (die Augen), und Debora Caprioglio rennt entweder nackt, halbnackt oder verführerisch angezogen durchs Bild. In Buenos Aires scheint immer die Sonne, die Rückblenden in Marcs verpfuschtes Leben bieten auch nicht den Hauch einer Überraschung, und zumindest der früh erahnbare Schlusstwist ist hübsch inszeniert. So weit also nichts Neues, dies aber auf weiter Flur.

Letzten Endes krankt der Film nicht daran, dass er ganz einfach veraltet wirkt, und auch nicht an seinem niedrigen Budget (so etwas stört einen Sergio Martino nun wirklich nicht), sondern an seiner Unentschiedenheit. Will der Film Softsexer sein oder Krimi? Denn die Mischung ist reichlich unausgegoren – Für einen Softsexer gibt es erheblich zu wenig soften Sex (und den auch immer auf die typisch italienische Art: Sie ist komplett nackt, er hat mindestens(!) die Hose an, besser zusätzlich noch T-Shirt und Sakko), und die Krimihandlung ist nicht uninteressant, kommt aber erst in der letzten Viertelstunde wirklich vom Fleck. Bis dahin hat man sich an dem süßen Gesicht von Frau Caprioglio so langsam mal sattgesehen und mag eigentlich auch die aufgerissenen Augen des Hauptdarstellers nicht mehr anschauen, denn mehr als diese gibt der Mann in seiner Eigenschaft als TV-Darsteller einfach nicht her. Buenos Aires als Handlungsort wird, wahrscheinlich wiederum budgetbedingt, nicht wirklich ausgenutzt, und selbst über den wenigen etwas dynamischeren Sequenzen schwebt wieder diese dümmlich-enervierende Musik, die selbst ein gut gefilmtes Hinterherschleichen (Spionda heißt immerhin Spionage) zu einem faden Nachmittagsspaziergang herabbremst.

Auch wenn TEUFELSTANZ DER LUST einigermaßen unterhält, so richtig großer Spaß mag dabei nicht aufkommen. Da kann weder die Kombination Honig und Tango etwas dran ändern noch die viel zu schnell aus der Handlung verschwundene Haustier-Boa Constrictor von Marina. Viele gute Möglichkeiten, und an allen zielsicher vorbeigesegelt. Schade …
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The VVitch: A New-England Folktale (Robert Eggers, 2015) 7/10

Ein normaler Teenager im Kreise der Familie: Das Mädchen, Thomasin, wächst allmählich zu einer jungen Frau heran, ist nur von kleineren Geschwistern umgegeben, auf die sie auch noch aufpassen muss, und wird zwischen Arbeit und Verantwortung allmählich aufgerieben. Der Vater bevorzugt den erstgeborenen Sohn Caleb, die Mutter gibt Thomasin die Schuld an allem und jedem, die beiden jüngeren Zwillinge Mercy und Jonas hassen Thomasin aus tiefster Seele, und der kleine Sam ist erst frisch geschlüpft und ist der Augapfel von Mama und ältester Tochter. Alles in allem keine gesunde Umgebung um unbeschwert aufzuwachsen …

Wir schreiben das Jahr 16hundertundschnee. Die puritanische Familie ist erst vor kurzem aus England gekommen und wegen individuell ausgelegter Religiosität bereits aus der lokalen Gemeinde hinausgeworfen worden. An einem kleinen und gottverlassenen Fleckchen Erde hat der Vater nun ein Haus gebaut, doch der Mais verdorrt, die Fallen bleiben leer, und so langsam kommt der Hunger immer näher. Mit dem rechten Glauben an Gott mag das ja alles noch bewältigt werden können, aber wie geht man damit um, dass der kleine Sam beim Spielen von einer Sekunde auf die nächste spurlos verschwindet? Dass offensichtlich etwas da draußen im Wald ist, was das Blut eines Säuglings benötigt? Und das der gesamten Familie nicht wohlgesonnen ist …

Eine ruhige und ungesunde Stimmung liegt auf dem kleinen Stück Erde, das so öde und grausam wirkt, als wäre es direkt aus H.P. Lovecrafts Erzählung Die Farbe aus dem All entnommen worden. Die Sonne hat das letzte Mal geschienen als die Siedlung verlassen werden musste, seitdem ist alles grau. Der Morgen ist grau. Der Tag ist grau. Das ganze Leben ist grau, bestehend aus Arbeit und Gebet, Gebet und Arbeit. Nur die Nacht ist nicht grau – Die Nacht ist finster. Die Nacht, und der Wald. Denn im Wald lebt etwas, und das was da lebt ist nicht gottgefällig. Es muss der Teufel sein der die Familie versucht, und nur der Zuschauer weiß, dass dort WIRKLICH etwas existiert. Etwas Böses und Unheimliches. Das den Glauben an den Teufel in der Realität beweist. Und das sich vermeintlich einen Spaß daraus macht, die Familie in ihrem Glauben an Gott zu testen.

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VVITCH ist kein Horrorfilm im landläufigen Sinne, dafür ist er erheblich zu ruhig und zu langsam. Der Soundtrack besteht aus Anrufungen der griechischen Nekromantiegöttin Hekate genauso wie aus kurzen symphonischen Momenten. Die Kamera saugt sich geradezu an den Gesichtern der Schauspieler fest und erforscht ihre Regungen. Ihre Ängste. Ihre Sorgen. Minutenlange Szenen werden ohne Schnitt mit der Kamera auf einem einzigen Gesicht gespielt, ja geradezu erlebt, und die dadurch entstehende Intensität zieht den Zuschauer tief in die Handlung hinein. Er fühlt die wenigen kleinen Freuden und den häufigen Ärger von Thomasin hautnah mit, er kann ihre Wut nachempfinden, wenn die Mutter sie ausschimpft für etwas, was der Vater getan hat, der das vor der Mutter aber nicht zugeben mag. Er spürt ihren Zorn, wenn die Zwillinge sie auslachen und als Hexe beschimpfen, und der Zorn zu tiefer Angst wird. Der Zuschauer erfährt aber auch das zwiespältige Verhältnis zum Wald. Der Wald bietet Nahrung, und er bietet Holz für Feuer. Aber tief in seinem Inneren beschützt er auch das Böse. Beim Anblick dieses Waldes kann man verstehen, warum unsere Vorfahren so eine Angst hatten und den Wald mystifizierten. Dies ist kein fröhlicher Laubwald mit Sonnenschein, Vögelchen und Wanderwegen. Dies ist ein dunkler, trister und böser Ort. Ein Ort, an dem der Tod regiert, und alles in der Umgebung wird von ihm beherrscht.

Die Schauspieler sind begnadete Mimen, denen jede Regung der Seele anzusehen ist, und die Totenstille und die gelegentlichen Soundcollagen untermalen diese Regungen perfekt. Die Stimmung pendelt zwischen Verlorenheit und Trotz, zwischen unendlicher Furcht und der Liebe zu Gott. Erst zum Ende wird erkannt, dass Gott vielleicht zwischen den Menschen im Gelobten Land wandelte, aber nicht unbedingt auch in Neu-England. VVITCH erinnert in manchen Momenten an HÖRE DIE STILLE, der zwar ein ganz anderes Sujet beinhaltet, aber die gleichen verlorenen und ängstlichen Menschen in einer Begegnung mit dem Tod zeigt. VVITCH ist gleich und doch anders, er nährt die Urangst vor dem Unaussprechlichen und dem Unbekannten. Ein ruhiger und langsamer Film, der in einer lauten und schnellen Zeit von bedrohlichen und düsteren Dingen erzählt. Ein grauer Film in einer bunten Zeit. Ein beeindruckender und nachdrücklicher Film.

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Nur noch 72 Stunden (Don Siegel, 1968) 6/10

72 Stunden haben die Detectives Madigan und Bonaro Zeit, den Verbrecher Benesch in New York zu finden. Den gewalttätigen Benesch, der ihnen ihre Dienstwaffen abgenommen und sie damit gedemütigt hat, nur weil sie durch seine Braut so abgelenkt waren. 72 Stunden gibt ihnen der Commissioner Russell Zeit, und in diesen drei Tagen müssen die zwei hartgesottenen Cops es bewerkstelligen, in einer 12-Millionen-Stadt einen hochexplosiven und schwerbewaffneten Verbrecher zu fangen.
Doch auch Russell hat so seine Probleme: Sein Chefinspektor und enger Freund Charly Kane hat sich an die Unterwelt verkauft, und Russell hat dafür eindeutige Beweise. Was tun?

Ein fulminanter Start, ein actionreiches und starkes Ende, und dazwischen … Viel Leerlauf. So schrieb ich es nach der Erstsichtung, und es spricht für den Film, dass die Zweitsichtung mehr Schwung zeigte und deutlich mehr Spaß machte. Die Nebenplots um den verräterischen Charly Kane und den schwarzen Doktor Taylor, dessen Sohn mutmaßlich von weißen Cops misshandelt wurde, fügten sich bei der Zweisichtung besser in das Gesamtbild ein, und wirkten nicht mehr so wie uninteressante Parallelhandlungen neben der aufregenden Verbrecherhatz Madigans. Auch dessen Eheprobleme sind gar nicht mehr so uninteressant wie beim ersten Mal, vielleicht konnte ich mich aber auch nur an Inger Stevens nicht sattsehen. Möglich …

Denn die Grundprobleme von MADIGAN sind damit alle bereits angerissen, und lassen sich auf eine ganz einfache Formel herunterbrechen: Das alte Hollywood versucht mit den alten Stars und althergebrachten Stories, dem neuen Hollywood mit seinen neuen und andersartigen Geschichten Paroli zu bieten. Bereits der Beginn des Films, eine POV-Fahrt durch die Straßenschluchten New Yorks, mit wunderschönen Bildern der Skyline im Sonnenauf- und -untergang, zeigt ganz klar, dass hier das im Sterben liegende Studiosystem versucht sich ein Stück vom New Hollywood-Boom zu holen. Schmutzige Straßen, kalte Hochhäuser, kühle Großstadtstimmung – Realistische Bilder einer Millionenstadt die niemals schläft, aber, und damit führt sich dieser Versuch selbst ad absurdum, mit einer schmissigen und flotten Big Band-Musik unterlegt, die geradewegs aus den Noirs der 50er-Jahre stammen könnte. Im Gegensatz zur Musik laufen dann die beiden harten Cops, Madigan (Richard Widmark) und Bonaro (Harry Guardino) durch dreckige Straßen, sie gehen durch abgeranzte Treppenaufgänge und betreten eine Wohnung, die mit den aufgeräumten und immer gut gepflegten Appartements der klassischen Krimis nichts mehr gemein hat. Beneschs Flucht gleich zu Beginn ist dann sehr dynamisch gedreht, und die Cops schwitzen bei der Verfolgungsjagd sichtlich. Guter und harter Realismus, der zwar nicht die Authentizität eines, sagen wir, ASPHALT-COWBOY hat, aber trotzdem sehr intensiv wirkt. Und bis tief in die 70er-Jahre stilbildend sein wird, denn Vorspann und Handlungsort einer Fernsehserie wie EINSATZ IN MANHATTAN sind musikalisch und bildlich eine klare Reminiszenz an genau dieses angestaubte, wenngleich auch immer noch recht gut funktionierende, Krimikino der späten 60er.

Doch nach diesem starken Opener flacht die Geschichte zunehmend ab, aalt sich die Handlung immer mehr in den klassischen Erzählstrukturen der 50er-Jahre, in denen die Rollen klar verteilt, und Graustufen nur selten zulässig waren, wenngleich im Stil der neuen Zeit aber mit modernen Schattierungen versehen. Auftritt Henry Fonda als Commissioner Anthony X. Russell, mit sehr geradem Rücken und, Achtung ihr ewiggestrigen Moralapostel, einem Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Ein Mann mit hohen moralischen Ansprüchen, die er an alle anderen anlegt, und nur bei sich selbst schaut er vielleicht nicht ganz so genau hin. Eine Figur aus einem alten Film, die altmodische Vorstellungen hat und altmodisch handelt, so scheint es, und die auch altmodische Freunde hat: Bei der Fahrt zu einer Veranstaltung reden Russell und sein Freund Charly Kane (James Whitmore) ausschließlich von der guten alten Zeit. Von der Elterngeneration, davon wie sie es selber geschafft haben nach oben zu kommen, … Kein Blick nach vorne, keine Gegenwart, nur das Vergangene zählt. Ein sprechendes Bild für die Situation eines altmodisch erzählten Hollywood-Films in den späten 60er-Jahren.

Relativ bald verliert sich dann die eigentliche Handlung, nämlich die zeitkritische Jagd auf einen Verbrecher, in der ausschweifenden Erzählung der Eheprobleme Madigans. Seine Frau hat es satt mit einem Polizisten verheiratet zu sein, sie möchte ausgehen und tanzen und nicht immer nur fernsehen und sich langweilen. Das ist für eine Polizistenehe überall auf der Welt sicher auch heute noch der Alltag, aber es verwässert die gute Grundhandlung des Films bis hin zu den ersten Anzeichen von Langeweile. Madigan hat auch noch ein Verhältnis mit einer Nachclubsängerin, auf deren Sofa er (ein-) schläft, und in dieser Szene offenbart sich dann die ganze Problematik die der Film mit Madigans Charakter hat: Madigan ist leicht betrunken, freut sich auf den Schlaf, zieht sich die Schuhe aus, die Hose, die Strümpfe, dann den Sakko, und erst im Bett liegend lockert er die Krawatte. Madigan mag vielleicht nicht immer den Vorschriften der Dienstordnung gemäß handeln, aber er ist ein guter und aufrechter Cop. Er ist ein Vertreter der alten Ordnung, und in dieser Eigenschaft geht er mit Anzug, Hut und Krawatte auf Gangsterjagd. Ordnung muss sein, und ein Auflehnen gegen die Dienstvorschriften wird zwar in Madigans Vita durchaus einmal erwähnt, im Film aber niemals ausgespielt.

Don Siegel hat in den Jahren 1967 bis 1971 drei im Grunde recht ähnliche Filme gedreht: MADIGAN und COOGAN’S BLUFF 1967/68, und DIRTY HARRY 1971. In diesen drei Filmen, die im Übrigen alle auch eine stockkonservative Grundaussage haben, zieht ein Vertreter des Gesetzes, das heißt ein Cop von altem Schrot und Korn, los, und versucht einen jungen Verbrecher zu fangen. Jung heißt in diesem Fall, dass dieser Verbrecher etwas längere Haare hat und sich an Orten herumtreibt, wo ältere Menschen seltener zu finden sind. Hier werden die Parallelen zwischen den genannten Filmen interessant, vor allem scheint Don Siegel sich zwischen MADIGAN und COOGAN (erster wurde im Herbst 1967 gedreht, letzterer im Winter 1967/1968) doch ein wenig an dieses Neuland gewöhnt zu haben. Wo Madigan und sein Partner noch vor den Clubs herumsitzen und warten müssen, bewegt sich Coogan bereits in dieser für ihn vollkommen fremden Welt. Er durchquert eine große Disco in seiner vollen Länge, eine Nackttänzerin landet in seinen Armen, und im Nebenraum schaut er zu, wie ein Joint von Hand zu Hand geht. Ein deutliches Zeichen, dass auch ein Don Siegel verstanden hat, dass die Welt sich weitergedreht hat. Wobei möglicherweise auch die Erlebnisse während der Dreharbeiten zu MADIGAN ausschlaggebend waren: Bei Aufnahmen in Harlem wurde das Auto von Richard Widmark und Harry Guardino von einer Gang angegriffen, und der Requisiteur wurde überfallen. Weswegen der Showdown dann nicht in New York sondern in Los Angeles gedreht wurde.

Diese Vorkommnisse erklären dann möglicherweise auch, warum die Kulissen in COOGAN so betont künstlich aussehen, ein Umstand, der den Film leider etwas an Atmosphäre kostet. Die Geschichte selber ist dabei den Grundzügen von MADIGAN gar nicht so unähnlich: Der Deputy-Sheriff Coogan („Haben Sie auch einen Vornamen?“ „Sagen wir einfach Coogan. Ohne den Mister.“) aus Arizona muss einen Gefangenen aus New York abholen. So sicher Coogan sich in der Wüste bewegt und selbst einen flüchtigen Indianer in der Wildnis ohne großes Federlesen wieder einfängt, so fremd ist ihm die Welt der Straßenschluchten. Der Taxifahrer fährt ihn auf der Fahrt zum Revier durch halb New York, und das Revier selber ist ein fortwährendes Chaos aus klingelnden Telefonen und anscheinend Multi-Tasking-fähigen Polizisten. Aber wenigstens sind die Frauen noch so willig wie er es aus Arizona kennt. Coogan kann den Gefangenen, Ringerman, zwar mit einem Trick aus dem Gefängnishospital rausholen, wird aber von dessen Freunden überfallen und Ringerman kann entkommen. Der NY-Lieutenant ist auf 180, Coogan wird der Fall entzogen, und mit dem bekannten lakonischen Eastwood-Blick macht sich dieser daran, den Flüchtigen wieder einzufangen. Ob nun Mojavewüste oder Betonwüste, ein fliehender Verbrecher ist überall gleich, so sagen seine Augen. Auf dieser Jagd trägt er, Madigan nicht unähnlich, einen Anzug mit Western-Schlips sowie einen 3-Gallonen-Cowboyhut, was zu einer permanenten Veralberung, ja sogar Unterschätzung seiner Figur führt. Wo allerdings Madigan im besten Fall einfach nur altmodisch wirkt und Eheprobleme wälzt, da legt das Team Siegel/Eastwood den Coogan ganz leicht humorig an, moderner, ohne ihn aber der Lächerlichkeit preiszugeben, und Coogan wälzt auch keine Eheprobleme sondern sich selber mit schönen jungen Frauen in den Laken. Willkommen in der modernen Welt!

Trotzdem ist aber die Grundidee im Kern immer die gleiche: Siegel lässt ältere und erfahrene Hardboiled-Cops von der Leine, um jüngere Verbrecher zu suchen, unterlegt mit treibenden und pompösen Soundtracks und eingerahmt von modernen Bildern der abgewirtschafteten Großstadt. Gerade mal, dass die privaten Probleme der Hauptfiguren im Lauf der Filme nach und nach ausgeblendet werden: Langweilt Madigan noch mit seinen Ehestreitereien, so hat Callahan gar kein Privatleben mehr, vielmehr lässt er seinen Phantasien auch im Dienst ganz gerne mal freien Lauf. Die freie Liebe hält vorsichtig Einzug im konservativen Sittenbild der amerikanischen Polizei, wenngleich es bis zu den sexuellen Exzessen von Richard Tuggles DER WOLF HETZT DIE MEUTE aus dem Jahr 1984 noch ein ganz langer Weg sein wird.

Wie wohltuend ist doch dagegen der Auftritt Steve McQueens in Peter Yates BULLIT. Ein jüngerer Mann (zur Zeit der Dreharbeiten 38, im Gegensatz zu Richard Widmark, der opahafte 55 Jahre alt war), nicht im Anzug oder gar im lustigen Cowboy-Outfit, sondern, nach damaligen Maßstäben, geradezu revolutionär gekleidet mit Sakko und Rollkragen. Bullitt fährt einen Ford Mustang, das Auto einer jungen Generation, und die Musik tänzelt leicht jazzig und groovig in den Film, anstatt brachial und aufgeblasen das Halali zu eröffnen. Auch im Verhalten gegenüber den Vorgesetzten ist Bullitt eher derjenige, mit dem die junge Generation Zuschauer etwas anfangen kann. Wo Madigan die Dienstvorschrift lediglich etwas weiter ausdehnt um Fahndungserfolge zu haben, widersetzt sich Bullitt ganz einfach der Anweisung seines Vorgesetzen und handelt auf eigene Faust. Ein Held für die moderne Generation, so scheint es, doch Coogan kann dieses Spiel ebenfalls spielen. Die dienstliche Anweisung nach Hause zu fahren, und das Aufspüren Ringermans der New Yorker Polizei zu überlassen, interessiert Coogan einen feuchten Dreck. Seine Ehre ist angeknackst, und das kann er einfach nicht auf sich sitzen lassen. Damit einhergehend übertritt aber Coogan ganz klar seine Anweisungen und ermittelt auf eigene Faust. Sein Handeln ist nicht mehr unbedingt vom Gesetz gedeckt, wobei er sich aber selbstverständlich immer noch innerhalb des Rahmens dieses Gesetzes bewegt.

Coogans (und auch Bullitts) Erbe heißt dann wiederum Harry Callahan, dem die Anweisungen seiner Vorgesetzen schnurzpiepegal sind. Was dann als Blaupause für so ziemlich alle Kino-Cops der nachfolgenden 50 Jahre dient, gleich ob Buddy-Komödie, ernsthafter Thriller, oder irgendwas dazwischen. Harry Callahan dient dem Gesetz nicht, er steht als Polizist komplett außerhalb der Auslegung dessen, was man als Recht und Ordnung bezeichnen könnte. Callahan läuft auf Autopilot Verbrechensbekämpfung, mit dem Schwerpunkt auf dem Wort Kampf, und alles was ihn dabei behindern oder auch nur einengen könnte, wird ignoriert. Die Entwicklung von Madigan über Coogan zu Callahan ist in diesem Zusammenhang interessant: Vom Cop der das Gesetz vertritt und auch dahinter steht, über den Cop, der Anweisungen, die ihm nicht genehm sind, ignoriert und das Gesetz zwar erfüllt, aber es dabei gleichzeitig übertritt, bis hin zu dem Cop, den das Gesetz selber nicht mehr interessiert, kann eine klare Aussage über die dahinter stehende Entwicklung der Gesellschaft gemacht werden. Eine Entwicklung, die zwangsläufig die Frage stellt, inwieweit das Gesetz in diesen Jahren denn noch ernstgenommen wurde. Was ist mit dem Gesetz und mit der Gesellschaft zwischen 1968 und 1972 passiert, dass ein Old-School-Cop wie Madigan seinen Dienst nicht mehr machen kann und ein Harry Callahan benötigt wird? Die Konsequenz aus diesen beiden Ebenen, Film und gesellschaftlicher Realität, kann dann tatsächlich nur noch EIN MANN SIEHT ROT heißen, aber ich bin mir sicher, dass Don Siegel solch einen Stoff niemals hätte drehen wollen. Sein Weltbild schaut mir, nach der Sichtung seiner Polizeifilme, zu sehr auf Recht und Ordnung gegründet aus, als dass er Lynchjustiz jemals hätte gutheißen können. Auch Callahan wirft seine Polizeimarke am Ende weg – Ein Gesetz, das nicht nur solche Verbrecher wie Scorpio, sondern auch Cops wie Harry Callahan zulässt, bedarf einer grundlegenden Überarbeitung durch gesellschaftliche Normen. Was Paul Kersey, dies nur nebenbei, wiederum in die eigenen Hände nimmt …

Madigan allerdings ist von der Ambivalenz eines Harry Callahan als Stichwortgeber einer ganzen Generation von Leinwandpolizisten noch Lichtjahre entfernt, genauso wie von der Realität der Polizei im Jahre 1968, die die Demonstranten beim Parteitag der Demokratischen Partei in Chicago genauso wie zufällig anwesende Passanten erbarmungslos zusammenknüppelte. Und so wunderschön es ist, dass MADIGAN als Charakterstudie ausgebrannter Polizisten eine Blaupause für die unzähligen größeren und kleineren Cop-Filme der kommenden Jahrzehnte abgibt, aber irgendwie scheint es mir (im Rückblick?), als ob das für einen gelungenen Polizeifilm nicht reicht. Zu hakelig ist der Erzählfluss, und immer wenn die Geschichte um die beiden abgebrühten Straßencops in die Gänge kommt, grätscht entweder die Parallelhandlung um den Commissioner und seinen bestechlichen Freund rein, oder die Eheprobleme Madigans werden konkretisiert, sprich: Breitgewalzt. Die starken Bilder von New York sorgen für einen beeindruckenden Realismus (der dann allerdings, ich erwähnte es, vom pompösen Score gleich wieder konterkariert wird), und Figuren wie Don Strouds schmieriger Kleinganove Hughie oder Benesch selber, der wie eine jederzeit explosionsbereite Bombe durch die Straßen wandelt, untermauern diesen realistischen Anspruch und geben dem Film viel Ausstrahlung. Aber wie gesagt ruckelt und hakelt es an allen Ecken und Enden, und bis MADIGAN mal in Fahrt kommt dauert es einfach erheblich zu lang. Eine Studie in Müll-Dur, was nicht nur die Stadt, sondern auch die Charaktere betrifft. Aber eben zu uneinheitlich erzählt, und damit irgendwann im Lauf dieser 100 Minuten einfach peu à peu uninteressanter werdend. Oder kümmert es wirklich irgendeinen Zuschauer, ob Madigans Frau nun mit seinem Kumpel Ben, oder ob nicht? Eben …

MADIGAN kann somit als Versuch des alten Hollywood gewertet werden, dem neuen Hollywood zu zeigen dass es noch existiert. Schmutz und Schweiß der Realität werden zusammengepuzzelt mit einem aufrechten Sheriff der altmodischen Art, und irgendwie beißt sich in dieser Zusammenstellung einiges. Das Ende ist dann tatsächlich eine Reminiszenz an den veränderten Publikumsgeschmack, wenn Madigan im Kugelhagel des Gangsters stirbt, und das Publikum mit weinender Ehefrau und tieftrauriger Stimmung alleine lässt. Ein starkes Ende, das dem erwähnten Realismus viel Nahrung gibt, aber in Summe die vielen seichten Momente im Handlungsgerüst nur mühsam überdecken kann. Wenn überhaupt.
Und die eine wesentliche und übriggebliebene Frage konnte mir bislang auch noch niemand beantworten: Nämlich warum der Bösewicht ausgerechnet Benesch heißt. Also genau denjenigen Namen des tschechoslowakischen Reformers hat, der im Frühjahr 1968 den Prager Frühling einläutete, sich gegen die steinzeitliche Politik der Sowjetunion stemmte, und im August 1968 so tragisch und grausam scheiterte. Wollte Siegel damit seine Sympathie gegenüber der Aufbruchsstimmung in der Tschechei ausdrücken, oder wollte er im Gegenteil zeigen, was er von dem ganzen kommunistischen Geschmeiss hielt, gleich ob nun in stalinistischer oder in liberaler Ausprägung? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren …
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Beitrag von Maulwurf »

The Postcard Killings (Danis Tanovic, 2020) 7/10

Ein Serienmörder geht um in Europa. In London, Madrid, München, Stockholm werden jung verheiratete Paare gefunden, die in grauenhaft zerstückelter Art berühmten Kunstwerken nachempfunden sind, die in ebendiesen Städten in den Museen stehen. Einzig der New Yorker Cop Jacob Konan, dessen Tochter und Schwiegersohn die Londoner Opfer sind, erkennt die Zusammenhänge und schafft es, die durch die europäische Bürokratie voneinander getrennt ermittelnden Polizisten zusammen zu bekommen. Und trotz oder vielleicht auch wegen seiner persönlichen Einbindung in den Fall, findet Jacob eine Spur, die zu einem durch Europa reisenden und frisch verheirateten Pärchen führt …

Was an THE POSTCARD KILLINGS zuerst auffällt ist diese Ruhe. Diese angenehm andersartige Stille die sich bei den Ermittlungen ausbreitet. Diese bemerkenswert laute Abwesenheit von Schießereien oder Verfolgungsjagden, stattdessen beobachten wir die Hauptfigur Jacob, immerhin 30 Jahre Mordermittler in New York, der beim Anblick der Hand seiner Tochter zusammenbricht und weint. Viel lauter weint, als es Explosionen und Atemlosigkeit in anderen modernen Filmen vorgeben.

Das soll aber noch lange nicht heißen, dass THE POSTCARD KILLINGS ein stiller und Langeweile verbreitender Arthouse-Schmarrn ist. Im Gegenteil kann der Film fast von Beginn an eine latente Spannung verbreiten, die durch die sprunghafte Erzählstruktur unmerklich anhält und den Zuschauer keine Sekunde loslässt. Vergangenheit und parallele ablaufende Stränge der Gegenwart vermischen sich mit assoziativen Bildstrukturen und dem Nichtwissen des Zuschauers, welches Pärchen denn hier eigentlich gerade beobachtet wird – Die Killer, unbeteiligte Touristen, oder die Tochter von Jacob? So ergibt sich ein pointillierendes Muster aus Kunst und Grausamkeit, das die Höhepunkte europäischer Kunstgeschichte wiederspiegelt und gleichzeitig mit David Finchers SIEBEN eine prickelnde Allianz eingeht. Dazu passt dann auch irgendwie, dass der Showdown in der karelischen Schneewüste vor einem weißen und konturlosen Hintergrund spielt, der die eigentlich vollkommen irrwitzige und unlogische Geschichte endgültig ins Abstrakte und Künstliche hebt.
Daneben werden aktuelle europäische Probleme angesprochen und wird das Hemmnis der übergreifenden Bürokratie karikiert, aber Jacob Konan ist angenehmerweise niemals ein TAKEN-Liam Neeson, der den Europäern zeigt wie ein amerikanischer Haudrauf solche Probleme löst. Jacob muss sich den hiesigen Sitten und Gebräuchen anpassen und lernen, dass Europa noch lange nicht die gleiche Einheit bildet wie es die USA sind, und die Gewalt mordender Serienkiller hier noch lange keine entsprechende Gegengewalt der Exekutive erzeugt.

Narrativ gesehen ist THE POSTCARD KILLINGS freilich totaler Quatsch, und der Gedanke drängt sich auf, dass tatsächlich allmählich alle Geschichten erzählt wurden. Aber die Umsetzung ist etwas Besonderes! Ein cineastisches Kunststück, dass einen angenehm unblutigen modernen Thriller mit ebenso angenehmen altmodischen Figuren verbindet und Spannung erzeugt, indem sich auf die Mittel des Mediums Film besonnen wird, und nicht auf die Mittel von Smith & Wesson und explodierenden Autos. Schön, dass es solche Filme noch gibt!
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Beitrag von Maulwurf »

The Town – Stadt ohne Gnade (Ben Affleck, 2010) 5/10

The Town, das ist Charlestown, ein Viertel von Boston, in dem das Verbrechen Tradition hat. In dem, das erzählt uns eine Schrifttafel zu Beginn, so viele Banküberfälle wie sonst nirgendwo geplant werden. Doug MacRay kommt aus Charlestown, und er ist der Chef einer kleinen und sehr effektiven Crew. Gemeinsam überfällt man im Auftrag Banken und Geldtransporter, und versucht sich ansonsten irgendwie durchs Leben zu schlagen. Die Probleme beginnen, als Doug sich in die Geisel des letzten Überfalls verliebt, das FBI ihnen dicht auf den Fersen ist, Doug aussteigen will (was weder seine Partner noch der Auftraggeber zulassen), und ein letzter und viel zu großer Job durchgeführt werden soll.

Abgesehen davon, dass die Handlung sowieso einer Blaupause für ideenlose Drehbuchautoren entnommen wurde, abgesehen davon kenne ich die Grundzüge der Geschichte irgendwie aus dem Gangsterfilm THE CREW von 2008, in dem eine Gang gegen innere Zerwürfnisse, äußere Anforderungen und immer gefährlicher werdende Jobs zu kämpfen hat. Ist THE TOWN am Ende ein Remake des völlig unterschätzten britischen Gangsterflicks?

Gut möglich, aber vor allem handelt es sich hier um die Hollywood(!)-Variante des knallharten THE CREW. Wo dieser ordentlich auf die Kacke haut, blutige Zweikämpfe und kurze und knackige Shootouts zu einem hohen Unterhaltungsfaktor mit jeder Menge Blut führen, wo die serbische Mafia für eher unschöne Momente sorgt und Szenen wie das Abschlachten einer Junkie-WG oder das detailierte Zusammenschlagen eines Stricherpärchens für nachhaltige Erinnerungen sorgen, da passiert in THE TOWN – Nicht ganz so viel. Es wird über die gute alte Zeit gesprochen um dem Trend Rechnung zu tragen, dass Filmfiguren tiefenanalytisch durchcharakterisiert werden müssen, es gibt einiges an Liebesirrungen und –wirrungen, und selbst eine Szene wie der Überfall auf den dicken Hooligan in dessen Wohnung kommt eher unspektakulär rüber. Die Action ist relativ blutarm, die Beziehungen zwischen den Figuren sind wichtiger als ihre Handlungen, und die Liebesgeschichte zwischen Doug und der Geisel Claire nimmt sehr viel Raum ein. Mehr, als man einem Gangsterfilm zugestehen möchte.

Dabei unterhält THE TOWN durchaus über weite Strecken, was aber den erstklassigen Schauspielern anzulasten ist. Ben Affleck als Anführer der Crew, Jeremy Renner als sein Buddy mit Hang zur Gewalt, Blake Lively als White Trash-Queen, deren Lebensinhalt aus Ficken, Saufen und Doug MacRay hinterherschmachten besteht – Alles starke Mimen, die den Film deutlich über denjenigen Durchschnitt heben, den er erzählt. Denn die Geschichte wurde in Michael Manns HEAT spannender erzählt und im erwähnten THE CREW intensiver. Ben Affleck leistet sich als Regisseur und Drehbuchautor in Personalunion sogar einen schwachen und einfallslosen Showdown, welcher in erster Linie aus einer groß angelegten Schießerei Cops versus Thugs besteht. Raffinierte Einstellungen, smarte Schachzüge oder einfach nur kluge Ideen hat es hier keine. Man ballert einfach aufeinander bis einer umfällt – Selbst der Schlusskampf von Doug gegen den Auftraggeber wird kurz und dumm abgehandelt, ohne Dinge wie Spannung oder Raffinesse einzubringen. Realistisch mag das sicher sein, aber filmisch überzeugt so etwas nicht wirklich …

Insgesamt ist THE TOWN hübsch anzuschauen. Die Actionszenen sind bis auf das Finale gut inszeniert, die Schauspieler sind erstklassig und die Musik funktionell. Aber mal ehrlich: Wenn das alles ist, was man zu einem Film sagen kann, dann ist mir persönlich das einfach zu wenig. THE TOWN ist langwierig erzählte Dutzendware ohne besonderen Wiedererkennungswert. Filme wie es sie zuhauf gibt, mit stereotypen Figurenzeichnungen und bekannten Handlungsabläufen – Der sympathische Gangster der aussteigen will und den man nicht aussteigen lässt blablabla …. Nichts, wofür man Werbung machen müsste, und erst Pete Postlethwaite als Florist zeigt deutlich, dass britische Gangster die härteren Gangster sind. Und britische Gangsterfilme, das möchte ich hinzufügen, die deutlich härteren und unterhaltsameren ...
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Beitrag von Maulwurf »

Il giorno più corto (Sergio Corbucci, 1963) 7/10

Franco und Ciccio sind im ersten Weltkrieg vor einem Kriegsgericht gelandet. Ein entlaufener Irrer verteidigt sie (und plädiert auf ehrenvolle Exekution), und erzählt die Geschichte, wie die beiden auf die Anklagebank kamen. Wie der Ciccio den Franco gewissermaßen geerbt hat, wie Franco die Einnahmequelle Ciccios, einen alten Karren mit Lehmdingsbumsen, zerstört, und wie sich die beiden daraufhin unter die frischgebackenen Rekruten am Bahnhof mischen um Pakete vom Roten Kreuz zu bekommen. Geradezu logisch, dass sie schnurstracks an der Front landen, und beim Versuch sich abzusetzen aus Versehen in einem österreichischen Militärlager landen. Wo sich die beiden Italiener natürlich als Deutsche ausgeben müssen, um nicht als Spione erschossen zu werden. Die Situation wird für die beiden immer kritischer, als sie zuerst ein Minenfeld zu durchlaufen haben, danach als Helden gelten und dadurch dem superkorrekten Feldmarschall von Gassman das Abendessen servieren müssen. Was sie mangels Sprachkenntnissen natürlich nicht hinbekommen, und von Gassman dann Satisfaktion verlangt: Die beiden haben gefälligst Suizid zu begehen! Auf der Flucht vor dem eigenen Selbstmord begegnen sie dann der Varietésängerin Naja, die unbedingt als italienische Mata Hari in die Geschichte eingehen will. Gemeinsam versucht man, wieder zurück zu den italienischen Linien zu kommen …

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Oder so. Der Versuch einer Inhaltsangabe in einem Franchi & Ingrassia-Film ist immer so eine Sache, und kann schnell in genau dem gleichen Chaos enden, dass die beiden als natürliche Lebensumgebung ansehen. Solch einen Humor muss man mögen um den Film goutieren zu können, aber ich für meinen Teil muss zugeben, dass ich über die Grimassen von Franco Franchi immer ziemlich lachen kann. Seltsam, Jerry Lewis hat mir im Gegensatz nie viel gesagt …

IL GIORNO PIÙ CORTO, was man mit Der kürzeste Tag übersetzen kann, und was natürlich eine Parodie ist auf den im gleichen Jahr gedrehten DER LÄNGSTE TAG, hat aber noch eine Besonderheit für Liebhaber älterer italienischer Filme. Die Verleihfirma Titanus war damals so gut wie pleite, sowohl Robert Aldrichs SODOM UND GOMORRHA als auch Luchino Viscontis DER LEOPARD hatten nicht die gewünschten Ergebnisse an den Kinokassen erzielt, und das einstige Aushängeschild der italienischen Filmwirtschaft wurde durch diese beiden teuren Großproduktionen fast in den Ruin getrieben. IL GIORNO PIÙ CORTO war dann die Rettung, da sich hier 88 Darsteller bereit erklärten, umsonst mitzuspielen. Das muss man sich erst einmal vorstellen: 88 Darsteller, 44 Sprechrollen und 44 Cameos, spielen umsonst in einem Film mit um die Verleihfirma zu retten …

Und so wird das chaotische Treiben auf dem Bildschirm auch sehr schnell zum lustigen Rätselraten, wer da gerade durch das Bild gehuscht ist. Größere Rollen haben etwa Gino Cervi, Virna Lisi, und Raimondo Vianello, Sprechrollen haben unter anderem Stewart Granger, Pierre Brice, Terence Hill oder Giacomo Rossi Stuart abbekommen, gänzlich stumm bleiben Tomas Milian, Jean-Paul Belmondo oder Gabriele Tinti. Man merkt schon, das Namedropping hat hier eher was mit Klotzen zu tun als mit Kleckern.

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Gänzlich durchgeknallt wird der Film übrigens, wenn sich die Handlung in das österreichische Lager begibt. Es wird viel Deutsch gesprochen, oft auch akzentfrei (Gérard Herter war ja auch Deutscher - Ich hatte das Gefühl dass er sich selbst spricht …), die Dialoge haben richtige Inhalte und sind vom üblichen Sauerkraut-Achtung-Gebrüll ganz weit weg, und in einer hinreißenden Szene sprechen Giacomo Rossi Stuart und zwei Kollegen über einen Gefreiten der eine alte Frau erschossen hat weil sie ihm keine Eier geben wollte. Ein unsympathischer Kerl, dieser Hitler …

Aber über allem sind immer und ausschließlich Franco und Ciccio. Die beiden muss man mögen, ich erwähnte es, und in Franco Franchi steckt neben einigem Stan Laurel und Harpo Marx vor allem natürlich sehr viel Jerry Lewis. Entsprechend ist der Humor - Subtil oder fein dosiert wird hier gar nichts, die Bratpfanne Kaliber 38 ist gerade noch ausreichend. Aber Francos Grimassen sind hinreißend, sein Gebrüll chargiert zwischen betörend und gnadenlos nervend, und ich würde so gerne mehr von seiner Maschinengewehrschnauze verstehen. Das Tempo ist hoch, der Ton ist laut, und zwischen dem Suchen nach bekannten Gesichtern und dem Aufpassen, dass bloß nichts von dem Wirbel auf dem Bildschirm verpasst wird, kommt man gar nicht dazu genervt zu sein. Man ist viel zu sehr mit Staunen beschäftigt ob des Irrsinns, dem man da beiwohnt.

Wahrlich kein großes Kino, und DER LÄNGSTE TAG hat deutlich mehr Pathos und Heldengesang. Aber DER LÄNGSTE TAG hat eben auch nicht Franco und Ciccio, und da ist einfach alles etwas anders. Irgendwie ... italienischer ...

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Beitrag von Maulwurf »

Baal (Volker Schlöndorff, 1970) -/10

Baal. Gefeierter Dichter der Hochkultur, rebellischer Underground-Poet der miesesten Kaschemmen. Deklamatorische Zeilen, hochtrabende Kunst einerseits, miese und realistisch-abgefeimte Menschen andererseits. Ein erschreckendes Sittenbild zwischen 1918 (der ersten Version) und 1970 (dem Film). Ein frühes Theaterstück von Bertold Brecht, gefilmt nicht, wie damals üblich, mit statischer Kamera, sondern dynamisch und beweglich, voller Querverweise und als Konglomerat der verschiedenen Versionen des ursprünglichen Stücks.

Schlöndorff wollte damals kein Theater abfilmen, und er wollte auch nicht eine Theaterszenerie in Filmkulissen drehen. Was immer BAAL auch geworden ist, und wie immer man zu diesem Film auch stehen mag, aber eines ist BAAL nicht geworden: Theater.

Aber was ist BAAL denn? Vom cineastischen Standpunkt her gesehen ist der Film eine Reise in die Abgründe der Unterschichten und der Soziopathen, und fast könnte man meinen, dass Schlöndorff und Fassbinder hier die Trinkerepen eines Uwe Schrader vorwegnehmen. Dem Dichter Baal wird zwar als kommender Messias der Lyrik von der Mäzenerie der Hof gemacht, doch der lehnt das Leben in Saus und Braus, also letzten Endes seine Prostitution an das Kapital, rundweg ab, und geht lieber weiterhin in die miesen und billigen Kneipen. Saufen, vögeln, mit Menschen spielen und sie brechen, das ist seine Welt. Er demütigt Johanna, die darum ins Wasser geht. Er schwängert Sophie und stößt sie eiskalt von sich. Einzig sein Freund Ekart darf bei ihm bleiben, denn Baal begehrt Ekart. Aber als Ekart mit einer Frau rummacht, bricht sich die Eifersucht bei Baal Bahn und es kommt zu einer Tragödie.

Brechts Witwe Helene Weigel hatte sicherlich Recht, dass eine Lederjacke und eine Kippe im Mundwinkel keinen Bertolt Brecht machen. Aber wollten Schlöndorff und Fassbinder denn Brecht darstellen? Ich glaube nicht – Fassbinder stellt sich selber dar, er zieht, wie Schlöndorff es in der Rückschau ganz richtig feststellt, die Rolle an sich und macht sie zu einem Spiegel seiner selbst. Wir sehen hier nicht Brecht und auch nicht Baal, wir sehen Fassbinder in seinem Kampf gegen die etablierte Kultur und gegen das meinungsformende Bildungsbürgertum. Gegen starre Leitplanken in der Kunst und gegen eine bornierte und beengende Gesellschaft. Ein Künstler, der tief in sich alles an Kunst findet was er braucht, und der diese seine Kunst in die Welt hinausschreit wie ein François Villon und vor Lebenslust schier platzt.

Dazu gibt Schlöndorff den Brecht’schen Originaltext vor, und fertig ist ein cineastisches Erlebnis der etwas anderen Art. Wie wenn die Figuren bei Uwe Schrader in Versen und Gedichten sprechen. Wie wenn Gosse und Hochkultur sich vereinigen, nur ohne die meist dazugehörige Prostitution der Kunst und ohne den nachfolgenden qualitativen Abfall. Wie Punk, nur auf einem anderen literarischen Niveau.

BAAL kann man als hochartifizielles Kunstkino ansehen, das mit dem wahren Leben nichts zu tun hat, dieses aber ständig beschwört und sich somit selbst ad absurdum führt. BAAL kann aber auch als spannendes Experiment zwischen Rinnstein und Champagner angesehen werden, in dem einige der herausragenden Schauspieler aus Fassbinders Anti-Theater viel zu kurze Rollen haben und eine völlig eigene, an der bedingungslosen Realität angelehnte, Welt erschaffen. Eine Bewertung ist in jedem Fall nicht möglich, dazu ist dieser Film zu … Vielschichtig. Brachial. Zart. Und vor allem viel zu eigen. Klare Empfehlung für alle, für die Film mehr ist als nur eine Abfolge von Schießereien und Explosionen.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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