Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Alles, was nichts oder nur am Rande mit Film zu tun hat

Moderator: jogiwan

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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

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Sören Olsson / Anders Jacobsson – Berts jungfräuliche Katastrophen

Katastrophen und kein Ende in Sicht – so nicht nur in der realen Welt, sondern auch in der relativ behüteten des pubertierenden schwedischen Jungen Berg Ljung, „Held“ einer fünfzehnbändigen Jugendbuchreihe der schwedischen Vettern, Lehrer und Schriftsteller Sören Olsson und Anders Jacobsson. Diese enthalten Berts Tagebucheinträge vom zwölften bis zum 17. Lebensjahr und bilden so etwas wie eine launige, sich eigentlich eher an Gleichaltrige richtende Coming-of-Age-Reihe, die zwischen 1987 und 1999 im schwedischen Original und zwischen 1990 bis 2005 in den deutschen Fassungen bei der Verlagsgruppe Friedrich Oetinger erschien.

Wer meine Buchkritiken verfolgt, weiß, dass es sich bei meinen Exemplaren um Tauschschrankfunde handelt, auf die ich mit durch mein Faible für comichafte, bunte Covergestaltung (auch dieses ist wieder ein echter Hingucker) und Coming-of-Age-Geschichten aufmerksam wurde, durch die ich mich bisher aber mehr durchquält habe als dass ich sie genossen hätte – was sich erst mit dem siebten Band „Berts Megakatastrophen“ änderte. „Berts jungfräuliche Katastrophen“ sind dessen direkte Fortsetzung aus dem Jahre 1995 (Schweden) bzw. 1997 (Deutschland). Einmal mehr versuchen sich Olsson und Jacobsson an der Perspektive eines (sporadisch, nicht täglich) tagebuchschreibenden Jugendlichen, um ihre Zielgruppe zu unterhalten und im Idealfall den einen oder anderen Erkenntnisgewinn zu vermitteln, ein bisschen durch die Pubertät zu helfen.

Mit rund 150 Seiten im relativ großzügigen Zeichensatz fällt dieser Band 8 wieder etwas schmaler als der Vorgänger aus. Wie üblich sorgen Sonja Härdings cartooneske Bleistiftzeichnungen für zusätzliche Auflockerung. Im Gegensatz zu Band 7 ist man (bzw. Bert) wieder dazu übergegangen, seine Einträge mit dem jeweiligen Datum zu versehen. Der Zeitraum erstreckt sich vom 25. Dezember bis zum 11. Februar. Bert ist solo, aber notgeil und macht auf cool. Sein potenzielles erstes Mal verpatzt er im Rahmen einer privaten Hausparty (dem Schrecken aller Eltern) allerdings grandios. Seine Mutter bekommt eine Midlife-Krise, seine Eltern streiten sich ständig und können nichts mehr miteinander anfangen, die Oma wird krank. Inmitten dieser Gemengelage sieht sich Bert mit typisch pubertären Irrungen und Wirrungen, einem unklaren Verhältnis zu seiner Ex-Freundin Nadja und nicht zuletzt daraus resultierenden handfesten Enttäuschungen ebenso konfrontiert wie mit sich aufgrund eigener Freundinnen abkapselnder Freunde.

Vieles wird karikierend bis nahezu satirisch überspitzt dargestellt, was gar nicht schlecht mit Berts Bemühen um Abgeklärtheit und der Weltsicht eines glücklicherweise nicht unter Halbstarkendepressionen oder dem Borderline-Syndrom leidenden Heranwachsenden korrespondiert – in dieser Hinsicht haben die Autoren das Authentizitätsproblem bewältigt, das ich mit früheren Bänden hatte. An anderer Stelle verspüre ich eben dieses dann aber doch wieder: Bert ist 15, fast 16, aber gegen Alkohol. Ist das typisch Schweden? Wohl eher nicht, sondern vielmehr ein Versuch, der schwedischen Staatsräson folgend Alkoholgenuss zu verteufeln. Kein Wunder, dass es bei Bert nichts mit dem Pimpern wird…

Dieser schließt seine Tagebucheinträge hier übrigens stets mit einem kleinen Gedicht, aber keine Sorge: Von einem Lyrikband sind „Berts jungfräuliche Katastrophen“ weit entfernt. Wie der Vorgänger endet auch diese Fortsetzung mit einem Cliffhanger, kurz vor Berts 16. Geburtstag: Wird er mit Nadja Sex haben? „Berts jungfräuliche Katastrophen“ sind ein einfaches, meist recht oberflächliches, aber durchaus kurzweiliges Vergnügen, das eine erwachsene Leserschaft in erster Linie daran erinnern dürfte, weshalb es ein Segen ist, kein Teenager mehr zu sein. Bislang der stärkste Band der Reihe.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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jogiwan
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von jogiwan »

Lisa Eckhart - Boum
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01.jpg (193.52 KiB) 340 mal betrachtet
Zugegeben, ich mag die Kunstfigur Lisa Eckhart nicht sonderlich und ich halte sie auch nicht für witzig, sondern eher für zynisch und destruktiv. Den Roman hab ich mir als Ferienlektüre gekauft um mich mit ihr zu versöhnen und das ging gründlich in die Hose. Die Geschichte gibt sich große Mühe provokant, bissig, over-the-Top und sexuell zu sein und dabei auch mit Themen wie "metoo", Terrorismus, französischen Klischees, Bettelmafia und Fellatio alle möglichen Leutchen aus der Wokeness-Ecke zu triggern. Leider ist die Geschichte über die Morde an Straßenmusikanten und eine unschuldige Austauschstudentin in Paris aber totaler Käse, völlig verfahren und ausufernd erzählt und wirkt wie ein kruder Schnellschuss bzw. das Buch eines Mädels, dass nur mit Männern abhängt und auch nicht müde wird zu betonen, dass sie sich mit Männern viel besser versteht. Frauen kommen in "Boum" dann auch recht schlecht weg und dennoch wollen weder die Geschichte, die Erzählweise und die Figuren funktionieren. Herausgekommen ist eloquent formulierter Trash, so authentisch und tiefgründig wie ein Asylum-Film und wohl so ziemlich das schlechteste Buch, dass ich jemals gelesen habe.
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Salvatore Baccaro
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von Salvatore Baccaro »

jogiwan hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 19:04 Herausgekommen ist eloquent formulierter Trash, so authentisch und tiefgründig wie ein Asylum-Film und wohl so ziemlich das schlechteste Buch, dass ich jemals gelesen habe.
Welch appetitmachender Verriss! :shock: :lol:
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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Barks Library Special: Daniel Düsentrieb 3

Einer der Ableger der herkömmlichen Barks Library des Ehapa-Verlags, die sämtliche Comics des Erfinders der Familie Duck, Carl Barks, umfasst, ist die sechs Alben umfassende Daniel-Düsentrieb-Reihe, die sich ganz dem Entenhausener Erfinder widmet. Dieser mir vorliegende dritte Band der Reihe erschien im Jahre 1994 und enthält auf rund 60 Seiten sieben mehrseitige Geschichten, zwei Onepager sowie einen zweiseitigen Essay Geoffrey Blums und den ersten Teil eines Nachschlagewerks der Erfindungen Düsentriebs und ihres Auftauchens in den Comics. Das Inhaltsverzeichnis gibt zudem Auskunft über die US-amerikanischen und deutschen Erstveröffentlichungen. Einer der Onepager und eine mehrseitige Geschichte wurden hiermit erstmals in Deutschland veröffentlicht und eigens von Stammübersetzerin Dr. Erika Fuchs übersetzt. Alle Comicseiten sind koloriert.

Solche comicarchäologischen Sammlereditionen gefallen mir ja, doch als die Barks Library seinerzeit ins Leben gerufen worden war, war ich als minderjähriger Schüler finanziell viel zu klamm, um sie zu sammeln. Später hatten sich meine Interessen und Prioritäten verschoben. Diesen Daniel-Düsentrieb-Band aber habe ich in einem Tauschschrank entdeckt und mir natürlich gleich angeeignet.

Die erste (und längste) Geschichte des Bands, „Erfinderpech“, setzt sich auf humorvolle Weise mit einer Auftragsflaute beim Entenhausener Erfinder Düsentrieb auseinander und persifliert dabei zugleich die Probleme Selbständiger, einen Markt für ihre Produkte oder Dienstleistungen zu finden. Marktschreierisch zieht Düsentrieb durch die Straßen, auf der Suche nach Kundinnen und Kunden mit Erfindungsbedarf. Zweifelhaften Erfolg hat er bei Donald Duck, der eine Erfindung gegen den Lärm benötigt, den seine drei Neffen fabrizieren. Der „Schalllöscher“ verursacht jedoch mehr Probleme als er löst; das Chaos nimmt seinen Lauf, als Laub im Garten Feuer fängt. Ohne sein Helferlein, Düsentriebs vermutliche genialste Erfindung, sähen er und die Ducks ganz schön alt aus. „Erfinderpech“ warnt vorm vorschnellen Einsatz vermeintlich bequemer Erfindungen und wartet mit netten Hintergrunddetails auf, hier das Damespiel des Helferleins gegen den Duck’schen Familienhund. Die von Dr. Erika Fuchs aus Heinrich Seidels adaptierte Redewendung „Dem Ingeniör ist nichts schwör“, die sie wiederholt Düsentrieb in den Mund legte, fällt auch hier – und Tick, Trick und Track sind aufgrund identischer Kostümmützen für ihr lärmendes Spiel nicht voneinander zu unterscheiden.

Die Geschichte „Die störrische Störchin“, in der Onkel Dagobert Düsentrieb bittet, ihm bei der Umsiedelung eines Storchennests behilflich zu sein, ist von Tierliebe und Verständnis für die Natur geprägt. Die Pfadfinder vom Fähnlein Fieselschweif können helfen, aber letztendlich ist Düsentrieb der Dumme, der vor Dagoberts Geiz kapitulieren muss.

In „Wellensalat“ benötigt Oma Duck Ersatz für ihr kratzendes Grammophon von Düsentrieb, damit sie ihren Kühen weiterhin deren Lieblingsmusik ohne Störgeräusche vorspielen kann. Der Schallwellenerzeuger, den er ihr installiert, beglückt auch sämtliches andere Vieh auf dem Hof, doch das versehentlich magnetisierte Helferlein verstellt ihn durch einen Unfall, sodass furchtbarer Krach die Folge ist. Ein glücklicher Zufall ist es jedoch, dass ausgerechnet dieser infernalische Lärm fast alle Fleißarbeiten auf dem Hof wie Holzhacken und Heumähen erledigt. Glück im Unglück bzw. der Zufall ist manchmal der beste Erfinder, was auch die Aussage dieser eher einfach gestrickten Geschichte sein dürfte.

Mit dem notorischen Glückspilz Gustav Gans muss sich Düsentrieb in „Der geborene Erfinder“ herumplagen, was zu spannenden Ansichten der Unterwasserwelt des Entenhausener Hafens führt und natürlich Gustav am Ende wesentlich mehr Ertrag einbringt als Düsentrieb. Ohne das Helferlein geht wieder einmal nicht viel, am Ende steht die Erkenntnis: „Als geborener Erfinder soll man sich nicht wie ein Geschäftsmann benehmen.“

Einen Schritt seinem Erfinder voraus ist das Helferlein auch im titellosen ersten Onepager, im zweiten sorgt man bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch für Verblüffung. Jenes Helferlein ist es auch, das Düsentrieb mit seiner Übersicht und einer List den Sieg beim Erfinderkongress über den unfairen Teilnehmer Herrn Murr (der starke Ähnlichkeit mit Kater Karlo aufweist) sichert – ganz ähnlich wie beim spannenden Motorbootrennen in „Eine großartige Leistung“, bei dem es den Ausfall sämtlicher erfundener Elektrotechnik kompensieren muss.

Düsentrieb ist häufig also eher eine tragische Gestalt, dem man als Leserin oder Leser aber stets gönnt, mit allem glimpflich davonzukommen – denn Böses führt er nie im Schilde, vielmehr hat er mit den Tücken seines Berufs, seinem Optimismus in Bezug auf seine Erfinderleidenschaft und zuweilen einer gewissen Zerstreutheit zu kämpfen. Die meisten Barks’schen Comics verfügen über einen entwaffnenden Humor und eine solch liebevolle Figurenzeichnung (in doppelter Hinsicht), dass sie auch Erwachsenen angenehm kurzweilige Freizeitlektüre sind – zumal sie als Teil des Entenhausener Universums einer faszinierenden Parallelwelt angehören, in die man auch im höheren Alter doch immer mal wieder gern einen Schritt setzt.

Die Entwicklung der Barks-Comics in chronologischer Reihenfolge anhand der Barks-Library-Reihe nachzuvollziehen, wäre mit Sicherheit eine spannende pop- und literaturkulturelle Zeit- und Entdeckungsreise…
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von karlAbundzu »

Urlaubslektüre

Christian Kracht: Die Toten
Zwischen den beiden Weltkriegen.
Ein schweizer Regisseur mit künstlerischen Ambitionen wird von der UFA beauftragt in Japan einen Film zu drehen.
Ein hochbegabter Japaner mit einem Faible für deutsche Sprache und Literatur, ein Liebhaber des Kinos, wird zum Geliebten des schweizer Regisseurs.
Wir folgen den einzelnen Biographien, oft mit Vor- und Ruckschauen. Und auch gerne mal Abschweifungen in den Lebensläufen der anderen Figuren. Das ist detailreich und mit Gespür und Wissen geschrieben und zog mich in die Geschichten und in die Zeit, als Freund des Kinos natürlich spannend, da es sich immer wieder um Filme, Filmemachen usw dreht.
Auch tauchen immer wieder reale Personen auf, Rühmann, Chaplin, Eisner, Kracauer, Hugenberg....
OK, kurz hatte ich den Eindruck, Kracht will sein profundes Wissen über Vorkommnisse im Leben all dieser realen Leute vorzeigen, aber es fügt sich in dieser Geschichte gut ein. Eigentlich eine Geschichte über Trauer, Liebe, und wie sich Menschen in unnachgiebigen Systemen bewegen.

Wolf Haas: Müll
Der neueste Brenner Roman.
Brenner ist inzwischen auf einem Recyclinghof tätig, als dort gut verpackte Leichenteile gefunden werden. Seine ehemaligen Kollegen ermitteln in Sachen Beziehungsmord, Brenner selbst zweifelt und stellt mit Hilfe der Tochter, die die Organmafia dahinter vermutet, eigene Untersuchungen an.
Seine Wohnungsproblematik versucht er durch selbstorganisiertes Zwischenwohnen zu lösen. Das heißt, er wohnt in Wohnungen, in denen die Besitzer eine Zeitlang weg sind. Unerlaubt. Auch das kann Probleme mit sich bringen.
Der Fall ist hübsch konstruiert, nachvollziehbar und spannend. Die Personen alle interessant, wenn auch nicht sympathisch.
Der Erzähler ist ein allwissender, der den Leser auch gerne anspricht und mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält.
Ich mag ja sowohl den Stil Haas' als auch den Brenner, passt also sehr gut.

Jennifer Ackermann: Die Genies der Lüfte
Erwartet habe ich eine leichte Urlaubslektüre über allerhand erstaunliches aus der Welt der Vögel, Anekdoten von klugen Krähen, gewitzten exotischen Papageien und ähnliches. Bekommen habe ich das auch. Aber dazu noch wissenschaftliche Einführungen zu den Themen: Was ist Intelligenz, wie grenze ich die menschliche von der von Vögeln ab. Wie funktioniert Kognition? Wie ist ein Gehirn aufgebaut, bis in den kleinsten Bereich. Die Geschichte der Evolution der Vögel. Warum und wie singen die Viecher.
Das war dann anstrengender als gedacht, aber auch lohnenswerter. Und ohne, daß ich mich in Fußnoten ergehen muss, oder nebenbei Literatur sichten müßte.
Empfehlung für alle, die ein wenig tiefer ins ornithologische wollen.

H. G. Wells: Krieg der Welten
Die grundlegende Alien Invasion Geschichte ist ja wohlbekannt. So im groben. Nach Jahrzehnten mal wieder gelesen, und zweierlei hat mich überrascht.
Eigentlich ist es die Beschreibung einer Flucht, der Ich -Erzähler schildert die Stationen und Erlebnisse seiner Tage seit dem Entdecken der gelandeten Marsianer bis zu deren Ende. Mit kurzen Einschüben späterer Erkenntnisse, wenn es passt, und ein Kapitel über die Flucht seines Bruders.
Und am Verhalten seiner Landsleute hat er einiges auszusetzen, sowohl an der Sorglosigkeit bzw. den Prioritäten nach dem Ankommen als auch den Egoismus bei der Panik. Seitenhiebe zu hauf.
Auch sein Faible für den Darwinismus klingt durch, und seinen Hang zur sozialen Variante diskutiert er kritisch.
Insgesamt durch die detailreiche Erzählung der Entbehrungen und Gefahren der Flucht ein Statement gegen den Krieg (auch wenn Wells selbst später den 1. WK begrüßen wird), und eine Kritik an Kolonialpolitik der UK. Dazu spannend und mitreißend, auch wenn ich die Story kannte.
Zurecht Klassiker.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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karlAbundzu
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Beitrag von karlAbundzu »

Simon Reynolds: Retromania

Der englische Autor wundert sich, warum in den 2010er Jahren nichts aufregendes in der Musikwelt passiert und guckt genau hin. Sein Verdacht fällt auf den immer stärkeren Hang der Künstler zum Zitieren, Ausbeuten, Anlehnen an bereits Vorhandenem, er nennt es Retromania.
Dabei betrachtet er durch die Jahrzehnte die verschiedensten Formen dieses Phänomen. Seine Schlussfolgerung ist, daß es seit geraumer Zeit keine Popmusik mehr gibt, die selber fruchtbar ist, das meint, die nachfolgende Künstler dazu animiert, neues, eigenes zu schaffen.

Ein ähnliches Phänomen beobachtete ich bei mir auch, eigentlich schon zehn Jahre früher, bei neuer Musik, die ich einigermaßen interessant fand, bemerkte ich immer Anlehnungen an älterem. So dass ich nicht mehr dran blieb am neuen heißen Scheiß. Dazu, anders als beim Autor, der sich in die Raveszene stürzte, erreichte mich die elektronische Musik nur in winzigen Dosen. Und glaubt man den popularwissenschaftlichen Musik-Lifestyle -Magazinen, fand das neue ja in dem Bereich statt. Ich suchte die Gründe aber eher in meiner Person.
Reynolds betrachtet die Phänomene sehr genau und beschreibt sie en Detail gut. Vom Trad Jazz Revival bis zu aktuellen Crate Digger Szene.
Doch in seinen Analysen folge ich ihm oft nicht. Er wirft einiges zusammen, hat eine nicht nachvollziehbare Idee von Originalität ( außer seiner persönlichen Einschätzung) man merkt seinen persönlichen Zugang, wenn er seine eigenen Lieblinge das neue abspricht.
Er verbleibt hauptsächlich in England (selbst bei den 90ern streift er Grunge und Alternative nur am Rande, obwohl das eine Fundgrube ist, da er es wohl eher in die USA verortet. Obwohl ähnlich verfährt er bei Britpop, weil er da wohl in die Raveszene abtauchte), unterscheidet kaum zwischen Mainstream und Nische.
Hauptkritikpunkt aber: trotz des reflektieren technischen Wandel läßt er soziale, politische Strömungen und Werteentwicklungen außen vor. Aber Pop befindet sich ja nicht im leeren Raum (was er zumindest für die Vergangenheit bemerkt) So wäre ein eventueller Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Pop da sehr angebracht.
Schade. Immer gut, wenn er musikalisches beschreibt, leider unzulänglich darüber hinaus.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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McBrewer
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von McBrewer »

HEAT 2
1988-2000
( Michael Mann / Meg Gardiner)

Heute endlich im Postkasten gefunden und nun für die nächsten Wochen meine Stammlektüre. Ich bin gespannt :popcorn:

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Beitrag von buxtebrawler »

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Wolfgang Sperzel – Rast(h)aus

Nachdem Wahlhamburger und Comiczeichner Wolfgang Sperzel 1989 im Semmel-Verlach mit seinem Album „Kabelbrand im Herzschrittmacher“ debütiert hatte, folgte zwei Jahre später ebendort der Nachfolger „Rast(h)aus“. Das großformatige Softcover-Album umfasst rund 50 vollfarbige, handgeletterte Seiten mit dynamischen Panel-Grids, die vor allem eines sind: ein im Funny-Stil gezeichneter Amoklauf gegen die Hamburger Verkehrssituation.

Held des Comics ist Spoil, der mit Erfinder Tiewie und einer gelben Rüsselzwergsau in einer Wohngemeinschaft in der Schanzenstraße direkt an der Hamburger S-Bahnstation Sternschanze lebt. Echte Orte in der Schanze sind hier mühelos wiedererkennbar, die Rote Flora zierte noch die Aufschrift des einst dort untergebrachten Einzelhandels „1000 Töpfe“ – ein Stück Zeitgeschichte, drumherum jedoch Verkehrschaos, von dem Tiewie und Spoil derart genervt sind, dass sie zur Sabotage greifen. Spoil wird zu Super-Spoil, dem Rächer der Entnervten. Aus Beidem – dem ohnehin schon gegebenen Verkehrschaos und den gefährlichen Eingriffen durch die WG-Bewohner - resultieren aberwitzige Kettenreaktionen, teilweise geht’s hier zu wie in einem Jump’n’Run. Später wird sogar die Sternbrücke zerstört und entgleist ein Zug. Weitere Schauplätze sind der Feldstraßenbunker und die Reeperbahn.

Sperzel persifliert den Autofetisch männlicher Fahrer, auch die Werbebranche kriegt ihr Fett weg, ferner wird gegen BMW- und Mercedes-Konzernbosse geschossen und deren Einfluss auf eine korrupte Exekutive thematisiert, die hier ebenfalls nicht gut wegkommt. Ein Zeitreisen-Topos ergänzt den Anarcho-Comic um ein phantastisches Element. Ein wenig Eigenwerbung für sein erstes Album in die Handlung zu integrieren, ließ sich Sperzel ebenso wenig nehmen wie wahrscheinlich die diebische Freude daran, seine Aggressionen in Form dieses auf hohem Funny-Niveau gezeichneten Comics abzubauen. Schade nur, dass der Verlag auf Seitenzahlen verzichtete.

Viel zu viel überflüssiger Individualverkehr in den Innenstädten Autolobby-Deutschlands ist leider noch immer ein Problem, das man auch als Nicht-Autohasser scheiße finden kann. Jetzt würde mich nur noch interessieren, wie ausgerechnet jemand wie Sperzel später als Zeichner bei der Auto-Bild landete…?! Davon unabhängig hat mir dieser Flohmarktfund so viel Spaß gemacht, dass ich mir im Anschluss auch sein Debüt antiquarisch besorgt habe. Dazu später mehr.
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Officine Grafiche Arnoldo Mondadori - Schindel-Schwinger: Kampf um Flohheim – Band 5: Schwindel-Schwinger sprengt die Spielbank

„Schindel-Schwinger: Kampf um Flohheim“ war eine von 1975 bis 1977 im Illu-Press-Verlag in Form rund 50-seitiger großformatiger Softcover-Alben erschienene Comicreihe aus der Feder Peter Schulz‘ und Michael Rybas. Die auf drei Seiten umrissene Rahmenhandlung dieser vollfarbigen Anarcho-Funnys bilden die verzweifelten Versuche Gottes, seine „Proben“, Prototypen von Geschöpfen, die es eigentlich nicht bis zur Schöpfung geschafft haben, wieder einzufangen, nachdem er diesen irren Kreuzungen aus Merkmalen verschiedenster Tiere mit den Attitüden unterschiedlichster Menschen versehentlich Leben eingehaucht und sie entkommen lassen hat. Am Tullamore-Fluss haben sie die Stadt Flohheim gegründet, wo sie aber nicht in Frieden leben können, weil Gott sowohl Petrus als Luzifer auf sie gehetzt hat. Wer sie einfängt und ihm wiederbringt, soll später einmal die Erde beherrschen dürfen. Doch die Bewohnerinnen und Bewohner Flohheims wissen sich zu wehren.

Der namengebende Schwindel-Schwinger ist eine dieser „Proben“, ein Wesen mit Echsenkörper, Riesenfüßen, Pferdekopf, blonder Mähne und Boxhandschuhen sowie einem großen Ego. Auch andere Flohheimer werden auf einer Doppelseite zum Einstieg vorgestellt. In diesem fünften Band aus dem Jahre 1977, den ich kürzlich auf einem Flohmarkt fand, lässt Petrus Schindel-Schwinger entführen. Im Casino Santa Moneta sollen die anderen Proben um seine Freiheit spielen. Natürlich hat er entsprechende Vorkehrungen getroffen, damit dies nicht erfolgreich für die Proben ausgehen kann. Doch Luzifer will auch mitspielen, Schindel-Schwinger gelingt die Flucht und letztlich werden Petrus‘ und Luzifers Banden kräftig ausgenommen.

Ein Mikrokosmos absonderlicher Figuren mit individuellen Charaktereigenschaften, die sich mit List und Tücke fremder Invasoren erwehren müssen – das erinnert sicherlich nicht von ungefähr an Asterix und die anderen Gallier. Alleinstellungsmerkmal ist hier jedoch der freche, provokante antiklerikale Witz. Einige Seiten wurden mit amüsanten Fußnoten angereichert, auch das erinnert ein wenig an Asterix & Co. Auf Seite 13 finden sich Anspielungen auf die kubanische Revolution und in den Dialogen einige Wortwitze. Der ständig betrunkene Bürgermeister Bimmel-Beule geht als Verballhornung von Politikern durch, während die gesamte Reihe eine Parabel auf ein Leben ohne religiöse Zwänge zu sein scheint.

Und trotzdem wollte der Funke nicht 100%ig auf mich überspringen. Der unglaubliche Grund: Dieser fünfte Band ist eine dreiste Fälschung! Nachdem sich der Verlag offenbar nicht mit den Autoren Schulz und Ryba auf eine kindgerechtere Ausrichtung einigen hatte können, ließ er diesen Band mit ihnen unabgesprochen von einem italienischen Studio zeichnen und veröffentlichte das Resultat unautorisiert. Damit war das Band zwischen den Autoren und dem Verlag natürlich zerschnitten, der auf der Rückseite noch angekündigte sechste Band erschien nicht mehr und die Reihe wurde eingestellt. Zwar kenne ich die vorausgegangenen Bände nicht, doch anhand von Bildern im Netz lässt sich tatsächlich ein Unterschied in der zeichnerischen Qualität ausmachen. Im (natürlich höherwertigen) Original erinnert mich der Zeichenstil ein wenig an die Trickserie „Die Bluffers“.

Ich wollte einen launigen Comic mit Kellergeruch vom Flohmarkt – und erhielt eine unfassbare Kapriole deutscher Verlagsgeschichte…
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Maulwurf
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Beitrag von Maulwurf »

Also da muss ich jetzt einfach einschreiten! Die ersten vier Schindelschwinger-Bände gehören zu den besten Comics die ich jemals gelesen habe (und als früherer Comic-Verkäufer waren das schon das ein oder andere). Seit der ersten Sichtung in den frühen 80ern bis heute sind diese vier Bände ein nie versiegender Quell unglaublicher Lachkrämpfe, und Schindelschwinger-Witze haben es schon lange in meinen täglichen Wortschatz geschafft. Was Schulz und Ryba damals auf die Beine gestellt haben war einfach pure und komische Anarchie, übertroffen höchstens vom Buch Ruth (so, und wer den Witz versteht, der kennt auch den Schindelschwinger). Den fünften Band möchte ich vielleicht, in Anbetracht der aktuellen Diskussion, mit HALLOWEEN KILLS vergleichen, im Gegensatz zum ersten Film von vor x Jahren. Damit kann vielleicht der Unterschied ein wenig klar gemacht werden.

Aber Du hast natürlich Recht, die Geschichte hinter dem unsäglichen fünften Band ist ein Kuriosum, und um Längen einfallsreicher als der Band selber. Die ersten vier Bände aber, sollte in meinem Sarg noch Platz sein möchte ich mit denen begraben werden ... :kicher:
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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