Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

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Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Blue Nude

Produktionsland: Italien 1978

Regie: Luigi Scattini

Darsteller: Gerardo Amato, Susan McBain, Giacomo Rossi Stuart, Renato Romano, Italo Spinelli, Robert Kerman, Monica Scattini


Mir ist Luigi Scattini bislang vor allem aufgrund seiner regen Tätigkeit im Mondo-Buisness ein Begriff gewesen: Auf das Konto des 1927 geborenen und 2010 verstorbenen Regisseurs gehen nicht nur solche prototypischen Werke wie QUESTO SPORCO MONDO MERAVIGLIOSO (1970) – (in Deutschland veröffentlicht unter dem adretten Titel MONDO PERVERSO – DIESE WUNDERVOLLE UND KAPUTTE WELT) – oder SEXY MAGICO (1963). Vor allem auch die volle Dröhnung Schweden-Sex in SVEZIA INFERNO E PARADISO (1968), - (den der geneigte Genre-Freund auf dem 4. Terza-Visione-Festival 2017 bewundern konnte) – oder den Hexen-Mondo ANGELI BIANCHI…ANGELI NERI (1970) hat der gute Mann auf dem Kerbholz. Bislang ist mein persönliches Scattini-Meisterwerk indes L’AMORE PRIMITIVO von 1964 gewesen, in dem Jayne Mansfield auf die Groteskkomiker Franchi und Ingrassia trifft, sich sexualisierte Blödelkomik mit Mondo-Versatzstücken paart, und sich am Ende einer der Protagonisten in einem der unglaublichsten Finale der mir bekannten Filmgeschichte in einen waschechten Werwolf verwandelt. Nachdem ich mir nun allerdings seinen 1978er Schwanensang BLUE NUDE besehen habe, muss ich diesen Streifen dem Pantheon Scattini’schen Schaffens hinzuaddieren: L’AMORE PRIMITIVO ist ein buntes Knallbonbon, eine Achterbahnfahrt, bei der sämtliche Sinne und jeder Verstandesfunken im Verlauf der neunzig Minuten aus der Freizeitparkgondel herauskatapultiert werden, BLUE NUDE wiederum rangiert am komplett entgegengesetzten Ende der Stimmungsskala. Tatsächlich hatte ich einen schwülen Sexfilm à la Scattinis wohl bekanntestem Streifen, IL CORPO von 1974, erwartet. Was ich stattdessen serviert bekam: New Hollywood, betrachtet durch die europäische Exploitation-Brille; ein tristes, schmutziges, tieftrauriges Drama um gescheiterte Existenzen im New Yorker Pornogeschäft; einen stiefelländischen Blick über den Großen Teich mitten hinein ins Gelobte Land der USA, zugleich sehnsüchtig und angewidert, auf jeden Fall aber von einem herben Naturalismus, wie ihm sich nicht mal die wagemutigsten Hollywood-Regisseure der mittleren und späten 70er hätten verschreiben können.

Wie viele italienischstämmige Männer haben nicht schon in Hollywood als Schauspieler oder Regisseure Fuß fassen können, sagt sich unser Held Rocco Spinone, und zählt auf: Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Sylvester Stallone, Rudolpho Valentino, (von dem sich Rocco gleich ein großes Poster übers Bett gehängt hat) – wieso sollte er selbst es nicht ebenfalls schaffen können in diesem Land, das einen angeblich vom Tellerwäscher zum Millionär macht, wenn man die Hinterbacken nur genügend zusammenkneift und alles und jedes seinem Traum opfert? Erwartungsgemäß läuft es für Rocco jedoch zunächst alles andere als rosig in seiner Wahlheimat New York: Als Nachtclubstripper muss er sich über Wasser halten, die Hunde alleinstehender, betuchter Damen Gassi führen, sich, natürlich, in einer Restaurantküche verdingen, wo er sich die Hände an Schmutzgeschwirr wundschrubbt, während die Filmwelt sowohl seinen Drehbüchern wie auch seinen schauspielerischen Ambitionen die kalte Schulter zeigt. Wie freut er sich also, als ein Bekannter ihm mitteilt, er könne ihm einen Job vor der Kamera verschaffen – und wie bombastisch bricht sein Kartenhaus zusammen, als er am Set feststellt, dass man ihn als Nebendarsteller eines ordinären Fleischfilms verpflichten möchte. Da immerhin ein satter Batzen Geld winkt, beißt Rocco jedoch in den sauren Apfel – und obwohl er viel zu früh zum Schuss kommt und sich auch sonst eher unbeholfen anstellt, findet er doch sowohl ein festes Engagement wie auch in seiner Spielpartnerin Lily eine ähnlich verlorene Seele: Die beiden verlieben sich ineinander, versuchen, sich gegenseitig lukrativere Jobangebote zu verschaffen. Einmal Blut geleckt, hält es Rocco nämlich für durchaus realistisch, er könne sich in seiner neuen Profession als Porno-Actor allmählich nach oben arbeiten – bis dann doch irgendwann sein Name auf Broadway-Plakaten prangt! Deshalb will er auch nichts von dem Vorschlag einen weiteren Bekannten wissen, er könne in dem Etablissement, wo dieser selbst angestellt ist, als Barkeeper anfangen: Rocco möchte hoch hinaus, und rutscht dadurch immer tiefer ins schmutzige Sexgeschäft hinab. Eine Grenze ist für ihn erst erreicht, als ein windiger Agent ihn nur dann in seine Kartei aufnehmen will, wenn er ihm zuvor ein paar schöne Stunden schenkt. Keine Grenzüberschreitung bedeutet es für Rocco allerdings, mit seiner blutjungen Nachbarin anzubandeln: Abgestumpft vom alltäglichen Koitieren vergisst er für einen unbedachten Moment Lily und die verbliebenen Ruinen seiner Grundsätze und steigt mit dem Mädchen ins Bett, - nur um in flagranti von deren Papa ertappt zu werden, der Rocco eröffnet, dass er nunmehr richtig tief in der Kotgrube sitze, denn das Gör ist erst fünfzehn und auf Sex mit Minderjährigen stehen in New York City drakonische Strafen. Wie Rocco nach einer Nacht hinter Schwedengardinen herausfindet, hat er allerdings noch viel mehr Ärger am Hals: Der Papa der verführten Teenagerin ist mit einem korrupten Cop befreundet, und der wiederum macht Rocco nun zur Zielscheibe einer Erpressung: Fürs Erste entlässt er unseren Helden in die Freiheit, sollte er ihm jedoch nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden 2000 Dollar auf den Schreibtisch blättern, wird er dafür sorgen, dass Rocco wegen Notzucht für eine ganze Weile ins Kitchen wandert. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…

Da der US-amerikanische Pornofilm der 70er Jahre nicht zu meinen kinematographischen Spezialgebieten gehört, habe ich erst dadurch, dass ich die Namen der (mir größtenteils unbekannten) Darsteller auf der IMDB nachverfolgte, feststellen müssen: Scattini hat – (einmal abgesehen von Hauptakteur Gerardo Amato) – fast ausnahmslos (mehr oder minder renommierte) Personen für seinen Cast rekrutiert, die tatsächlich hauptberuflich in expliziter Filmware mitwirkten: Dazu gehören Susan McBain als Lily, ein gewisser Carter Stevens, seines Zeichens Regisseur von Werken mit Titeln wie ROLLERBARBIES oder PLEASURE PALACE, der sich in BLUE NUDE quasi selbst spielt, außerdem noch ein Herr namens Wade Nichols als Roccos Freund Dick, (der ihn überhaupt erst in den Porno-Sektor hineinlotst) und natürlich Robert Kerman – (na gut, den habe ich natürlich erkannt) –, der in einer kleinen Nebenrollen eben jenen Pseudo-Agenten verkörpert, von dem Rocco das Gelbe vom Himmel versprochen wird, wenn er sich ihm sexuell zur Verfügung stellt. Nicht nur dieses Ensemble verleiht BLUE NUDE eine authentische Atmosphäre, vor allem auch der Umstand, dass Scattini und Team on-location an tatsächlichen Porno-Sets, in tatsächlichen Porno-Kinos, in den schummrigsten Hinterhöfen der 42sten Straße gedreht haben, macht den Film zu einem interessanten Zeitdokument, das es schafft, mir den Eindruck zu vermitteln, es würde nahezu dokumentarisch die Stimmung einkapseln, wie sie zur damaligen Zeit in diesem Milieu vorgeherrscht hat – und, bevor jemand auf die Idee kommt: Nein, BLUE NUDE beinhaltet keine einzige Hardcore-Szene, ist nicht mal in seinen Softsex-Sequenzen sonderlich zeigefreudig, von Erotik einmal ganz zu schweigen: Wenn dieses niederschmetternde Drama sich eins nicht auf seine Agenda geschrieben hat, dann, auch nur ein Geschlechtsteil innerhalb seines Publikums steif oder feucht werden zu lassen.

Im Ernst: Schon lange habe ich keinen derart depressiven Film gesehen, wie BLUE NUDE einer ist. Konsequent folgen wir Rocco bei seiner Abwärtsspirale – die Bilder sind genauso schnörkellos wie die Erzählweise, was noch dadurch untermauert ist, dass ein Off-Erzähler sich immer mal wieder einschaltet, der in nüchternen Sätzen die nächste „Szene“ im Theaterstück einläutet, das Roccos Leben darstellt. Vom Mondo-Kino hinübergerettet hat sich die Perspektive eines grausamen Gottes, der distanziert der eigenen Schöpfung beim Zusteuern auf den Abgrund zuschaut: Durch diese Distanz allerdings schafft es der Film aber paradoxerweise, mich sehr dicht an seine Figuren heranzuführen, die größtenteils eigentlich herzensgute Menschen sind, jedoch von einer primär ökonomisch orientierten, entmenschlichten, dekadenten Szene moralisch ruiniert werden. John Schlesingers MIDNIGHT COWBOY kommt in den Sinn, (oder viel eher noch dessen Vorbilder, namentlich: die Filme, die Paul Morrissey Ende der 60er mit Joe Dallesandro unter der Ägide Andy Warhols dreht, FLESH, TRASH, HEAT); wenn in einer wirklich beklemmenden Sequenz sich ein Roughie während der Dreharbeiten eher unabsichtlich in einen veritablen Snuff-Film verwandelt, ist Paul Schraders HARDCORE nicht weit weg; und in seinem furchtbaren Ende heftet sich BLUE NUDE nahezu gar an die Fersen von TAXI DRIVER, (was in einem metareflexiven Twist allein dadurch Sinn macht, dass Rocco erklärter Scorsese-Fan ist.)

Trotzdem BLUE NUDE ein Film ist, der regelrecht verkrustet wirkt von innerem und äußerem Dreck, findet der Streifen doch auch immer mal wieder zu zärtlichen, komischen Momenten: Der Running Gag, das Roccos Nachname gleichlautend ist mit dem einer italienischen Hunderasse; der selbstreflexive Gag, dass Rocco in einer Szene ausgerechnet dem (nervigen) Popsong Mah Nà Mah Nà lauscht, den Piero Umilani ursprünglich für Scattinis SVEZIA-Mondo komponiert hat, (und der später, unter anderem, durch die Sesamstraße weltweite Verbreitung gefunden hat); die wunderbare Sequenz, wenn Rocco sich als Touristenführer für italienische New-York-Gäste verdingt und ins Gespräch mit einer jungen Italienerin kommt, (dargestellt übrigens von Scattinis Tochter Monica), und in ein paar wenigen Sätzen die unterschiedlichen USA-Bilder der beiden jungen Leute in Deckungsgleichheit gebracht werden – diesen Fremdblick auf die USA, der als Motiv permanent in BLUE NUDE präsent ist, bedient übrigens auch Umilians restlicher Score, der hauptsächlich von englischsprachigen Balladen bestritten wird; Giacomo Rossi Stuart als Bad Lieutnant wiederum wirkt amerikanischer als amerikanisch mit seiner Korruptheit bis ins Mark: Ein wandelndes Polizisten-Klischee, das dadurch, dass Stuart es derart genial und ruppig verkörpert, absolut authentisch wirkt.

Ach, BLUE NUDE ist ein kleines Meisterwerk. Was will ich mit Scorsese, Stallone, Coppola, Valentino, wenn ich Scattini haben kann?
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buxtebrawler
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von buxtebrawler »

Bin doch immer wieder überrascht, was du so alles ausgräbst, Salvatore. Was für eine Fassung hast du gesehen?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Dick Cockboner
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von Dick Cockboner »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Di 4. Mai 2021, 19:46 Bislang ist mein persönliches Scattini-Meisterwerk indes L’AMORE PRIMITIVO von 1964 gewesen, in dem Jayne Mansfield auf die Groteskkomiker Franchi und Ingrassia trifft, sich sexualisierte Blödelkomik mit Mondo-Versatzstücken paart, und sich am Ende einer der Protagonisten in einem der unglaublichsten Finale der mir bekannten Filmgeschichte in einen waschechten Werwolf verwandelt.
Und dazu hätte ich mal eine Frage. Da dieser Film damals in deutschen Kinos als "Primitive Liebe" gezeigt worden ist (Verleih: Alois Brummer, na wer denn sonst :wink: ), hat denn jemand diese Version schon gesehen bzw. kann mir Zugang dazu verschaffen?
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Salvatore Baccaro
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

buxtebrawler hat geschrieben: Mi 5. Mai 2021, 09:29 Was für eine Fassung hast du gesehen?
Da der Streifen offenbar (und unverständlicherweise) bislang keine DVD-Veröffentlichtung spendiert bekommen hat, muss man sich leider erstmal mit einem im Netz kursierenden VHS-Rip zufriedengeben.
Dick Cockboner hat geschrieben: Mi 5. Mai 2021, 18:05 Und dazu hätte ich mal eine Frage. Da dieser Film damals in deutschen Kinos als "Primitive Liebe" gezeigt worden ist (Verleih: Alois Brummer, na wer denn sonst :wink: ), hat denn jemand diese Version schon gesehen bzw. kann mir Zugang dazu verschaffen?
Die Frage habe ich mir auch schon gestellt - und letztes Jahr schon die Spürhunde des Terza Visione darauf angesetzt. Unser Deal: Falls die Organisatoren es schaffen, die deutsche Synchronfassung von AMORE PRIMITVO aufzutreiben, schreibe ich ein Buch zum Mondo-Kino... :D
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jogiwan
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von jogiwan »

ich glaub, der ist nicht so gut... ;)
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quelle: Handbuch der katholischen Filmkritik
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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CamperVan.Helsing
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 6. Mai 2021, 13:12 Unser Deal: Falls die Organisatoren es schaffen, die deutsche Synchronfassung von AMORE PRIMITVO aufzutreiben, schreibe ich ein Buch zum Mondo-Kino... :D
:nixda: Keine Drohungen!
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Salvatore Baccaro
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Re: Blue Nude - Luigi Scattini (1978)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

ugo-piazza hat geschrieben: Do 6. Mai 2021, 19:35
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 6. Mai 2021, 13:12 Unser Deal: Falls die Organisatoren es schaffen, die deutsche Synchronfassung von AMORE PRIMITVO aufzutreiben, schreibe ich ein Buch zum Mondo-Kino... :D
:nixda: Keine Drohungen!
Wird doch eh nicht passieren. Das ist doch genauso unwahrscheinlich, wie, dass beim Deliria-Forentreffen eine deutschsprachige 35mm-Kopie von SUSPIRIA auftaucht... :???:
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