Sophie Albrecht - Graumännchen oder die Burg Rabenbühl (1799)

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Salvatore Baccaro
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Sophie Albrecht - Graumännchen oder die Burg Rabenbühl (1799)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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…und einmal mehr eine warme Empfehlung aus den nebelverhangensten Winkeln der deutschsprachigen Literaturgeschichte…

Sophie Albrecht wird 1765 in Erfurt als Tochter des Medizin- und Philosophieprofessors Johann Wilhelm Baumer geboren, der ihr eine für ein Mädchen ungewöhnlich akademische Ausbildung angedeihen lässt. Früh schlägt sich Sophies Neigung zur Literatur Bahn. Mit ihrem Ehemann Johann Friedrich Ernst Albrecht, einem ehemaligen Studenten ihres Vaters, den sie mit 15 Jahren nach dem frühen Tod Baumers heiratet, stürzt sie sich in allerhand literarische Unternehmungen: Das Ehepaar Albrecht gründet eine Leihbibliothek, eine Buchhandlung, einen Verlag – vor allem aber sind es die von Sophie ganz eigenständig herausgegebenen Gedichtsammlungen, die sie ab 1781 zu einer vielgelesenen Dichterin machen. Noch größer indes ist ihr Erfolg als Schauspielerin: Am Kurfürstlich Sächsischen Hoftheater streicht sie bald Höchstgagen ein, - 1000 Reichstaler pro Jahr, was ihr finanzielle Unabhängigkeit sichert –, zahllose Zeitungsartikel untermauern ihren Status als Bühnenstar ihrer Zeit, sie zählt Sterne des Theaterhimmels wie August von Kotzebue, Friedrich Gottlieb Klopstock und Friedrich Schiller zu ihrem Freundeskreis. Während diese Herren allesamt heute noch mehr oder weniger zum Kanon gehören, stößt man auf Sophie Albrecht in den gängigen Literaturgeschichten jedoch nicht einmal im Fußnotenapparat: Nachdem die Albrechts in den 1790er Jahren ihre Wirktätigkeit nach Hamburg verlegt haben und dort mit dem Altonaer Nationaltheater den alteingesessen Schauspielhäusern zunächst ernsthafte Konkurrenz machen konnten, gerät das Ehepaar alsbald in Geldnot. Als Johann Friedrich Ernst Albrecht 1814 an Typhus stirbt, ist das Familienvermögen bereits erheblich geschrumpft – und als Sophie selbst 26 Jahre später das Zeitliche segnet, befindet sich die einst gefeierte Schauspielerin und Lyrikerin in tiefster Armut und noch zu Lebzeiten bereits vollkommen vergessen.

Weder ihre eigenen Bühnenwerke wie das „Schauspiel mit Gesang“ THERESGEN von 1781 noch ihre beispiellose Bühnenkarriere oder ihr Engagement als Theaterdirektorin blieben im Gedächtnis der Nachwelt verankert – und schon gar nicht ihr durchaus progressiver Lebensentwurf, der sie gar nicht daran denken ließ, im Schatten ihres ebenfalls schreibenden Gatten zu verbleiben. Eine Anekdote, die mir besonders gefällt: 1798 reicht Sophie die Scheidung von ihrem Ehemann ein, um ihren langjährigen Liebhaber Ferdinand von Hahn zu heiraten. Als dieser kurz darauf stirbt, kehrt Sophie zu Johann Friedrich Ernst zurück: Das Paar gibt sich ein zweites Mal das Ja-Wort. Die (intensiven, erotisch knisternden) Liebesgedichte, die Sophie an Leutnant Hahn schreibt, sind ihr einziges literarisches Vermächtnis, auf das man zuweilen noch beim Scrollen durch virtuelle Lyriksammlungen stößt.

Dass ihre beiden Beiträge zur deutschsprachigen Gothic Novel aka dem sogenannten „Schauerroman“ demgegenüber selbst in der einschlägigen Sekundärliteratur kaum einmal nur erwähnt werden, wundert kaum. Gerade der Schauerroman gehört sicher zu den marginalisiertesten Genres der Literatur um 1800: Was das Volk las, während die Klassiker wie Goethe und Schiller schrieben, wurde seither von der "seriösen" Kritik scheel angesehen – und vor allem dann, wenn es sich um phantastische Stoffe handelt, in denen Geister, Gnome und andere gottlose Gestalten ihr Unwesen treiben. Während Sophies durchaus feministisch interpretierbare Gruselnovelle DAS HÖFLICHE GEPSENST von 1797 immerhin vor einigen Jahrzehnten in einer Anthologie des Goldmann-Verlags namens „Mein tapfre's Herz. Texte deutschsprachiger Schriftstellerinnen des 18. Jahrhunderts“ wiederveröffentlicht wurde, kann man den Roman GRAUMÄNNCHEN ODER DIE BURG RABENBÜHL von 1799 derzeit einzig online als Digitalisat der Originalausgabe auf den Seiten der Digitalen Bibliothek der Uni Halle einsehen. Das ist umso bedauerlicher, weil es sich bei dem etwa 150 Seiten langen Text um das mit Abstand Seltsamste handelt, was ich in letzter Zeit lesen durfte: Eine stellenweise gar am Surrealismus kratzende Mixtur aus romantischem Kunstmärchen, Female Gothic, Folk Horror, Torture Porn und Mittelalterroman, die ich während einer langen Zugfahrt förmlich in mich einsaugte…

Sophies, wie es im Untertitel heißt, „Geistergeschichte altdeutschen Ursprungs“ spielt „vor uralter Zeit“ tief im Schwarzwald, wo ein Ritter namens Liebetreu sich dazu entschließt, einem zwielichtigen Burgbesitzer dessen Festung Rabenbühl abzukaufen. Über die kursieren zwar nicht sehr einladen klingende Legenden und auch die Identität des derzeitigen Bewohners ist maximal nebulös, dennoch hält es Liebetreu für eine gute Idee, sich in dem Gemäuer niederzulassen – zumal ihm kurz zuvor seine Ehefrau starb und ihn damit aus einer schmerzhaften Beziehung entließ, die von Lieblosigkeit und Untreue geprägt war. Wirklichen Frieden findet Liebetrau auf Rabenbühl indes nicht: In den Katakomben der Burg stapeln sich die Knochen bedauernswerter Menschen, die dort offenbar über die Jahrhunderte hinweg eingekerkert und gefoltert wurden; Liebetreus Dienerschaft steigert sich regelrecht in die Vorstellung hinein, die Seelen dieser mutmaßlich unschuldig Ermordeter würden noch in Rabenbühl herumspuken; es gebietet dem abergläubischen Geschwätz nicht mal Einhalt, dass Liebetreu die Burg von Grund her restaurieren, renovieren, teilweise abreißen lässt und ihr einen neuen Namen, Waldschütz, gibt – weshalb unser Ritter kurzerhand seine Siebensachen packt und mit dem Gedanken auf Abenteuer auszieht, irgendwann müssten die Leute ihres Geredes doch müde werden und wenn er sich nur lange genug in der Fremde herumtreibt, wird schon Gras über die ganze Angelegenheit wachsen.

Aus der Ferne kehrt er geraume Zeit später nicht allein zurück: Im Gepäck hat er nicht nur Töchterchen Agnes, die er einst, als seine erste Ehe zu Bruch ging, zu den Nonnen steckte und nun, zur holden Jungfer herangewachsen, aus dem Kloster holte, auf dass sie mit ihm zusammen auf Waldschütz/Rabenbühl lebe; ebenso bringt er eine zweite Braut namens Athlene aus Italien mit sich, die wiederum ebenfalls aus einer früheren Beziehung zwei Töchter hat. Gespenster braucht es gar nicht, um diese Patchwork-Familie innerhalb kürzester Zeit so dysfunktional wie möglich aufzustellen: Athlene entpuppt sich, kaum ist sie Herrin von Rabenbühl, als wahre Despotin, die nichts anderes im Sinn hat als sich selbst und ihren Töchtern eine gute Zeit zu bereiten, sprich, Liebetreus Vermögen für orgiastische Feste zu verprassen, die die Festung in eine wahre Partyburg verwandeln. Aber nicht nur gefeiert soll werden, sondern nebenbei erhofft Athlene sich auch, bei all den adretten Mannsbildern, die alsbald massenweise nach Rabenbühl strömen, lukrative Partien für ihre Töchter auszuspähen. Agnes ist ihr dabei freilich ein Dorn im Auge - und das nicht nur, weil Liebetreus leibliche Tochter letztlich Alleinerbin des väterlichen Vermögens ist: Zwar mag Liebetreus Tochter die Unschuld in Person sein, die vermutlich nicht mal den genauen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein kennt, gerade deswegen zieht sie aufgrund ihrer bald über die Landesgrenzen hinweg berühmten Anmut alle Männerblicke auf sich, während ihre eigenen, vergleichsweise durchschnittlichen Töchter vergeblich nach potenziellen Ehegatten Ausschau halten. Liebetreu wiederum leidet wie ein Hund unter der Situation: Athlene verhält sich ihm gegenüber kalt, herablassend, verjubelt gedankenlos sein Erspartes. Statt ihr das Handwerk zu legen, tut der Ritter das, was er immer tut, wenn er nicht weiterweiß: Er reist von dannen, um noch mehr Reichtümer für Athlenes Verschwendungssucht herbeizuschaffen – und überlässt die arme Agnes in der Obhut der bösen Stiefmutter.

Kaum ist Liebetreu außer Sichtweite, wird für diese das Leben auf Burg Rabenbühl zur irdischen Hölle: Athlene sperrt Agnes in die berühmt-berüchtigten Verliese, lässt sie tagelang hungern und dürsten, misshandelt sie physisch wie psychisch, stellt ihr in ihrem zügellosen Sadismus unlösbare Aufgaben wie, dass sie die Farben aus Schmetterlingsflügeln extrahieren soll, dass sie einen Eimer voll Wasser danach in drei unterschiedliche Gefäße schöpfen soll, ob die einzelnen Tropfen aus dem Fluss stammen, ob sie vom Himmel regneten, oder ob sie geschmolzener Schnee gewesen sind, oder dass sie aus den Spinnweben in ihrer Gefängniszelle Kleider für ihre Stiefschwestern weben soll. Mit Agnes geht es bergab – und einzig ihre heimliche Liebe zum Ritter Justus hält die junge Frau davon ab, ihrem Leben freiwillig ein Ende zu setzen.

Dann aber gesellt sich noch ein weiteres männliches Wesen zu ihr, ein Zwerg namens Graumännchen mit zahnlosem Mund, langen gelben Ohren und schwarzen glühenden Augen, der ihr zunächst bloß in ihren Träumen erscheint, eines Nachts jedoch plötzlich leibhaftig vor ihr sitzt, und ihr anbietet, die perfiden Challenges, mit denen ihre Stiefmutter Agnes überhäuft und für deren Nicht-Erledigen sie mit empfindlichen Strafen zu rechnen hat, mittels Zauberkraft zu meistern. Agnes ist hin und her gerissen: Als fromme Christin sollte sie sich eigentlich auf keinen Deal mit einem solch unheimlichen Gesellen einlassen, oder? Aber wenn sie Graumännchens Hilfe nicht annimmt, wird sie früher oder sterben jämmerlich verdursten oder unter den Peitschenhieben ihrer Kerkermeister verenden! Es kommt, wie es kommen muss: Die Stiefmutter ist entzückt über die Gewänder, die Agnes scheinbar durch eigene Kunstfertigkeit aus einem Haufen Spinnennetze zu weben versteht; die Stiefschwestern werden in diesen Kleidern endlich zum Blickfang junger Galane auf den nach wie vor pausenlos abgehaltenen Bällen Rabenbühls; Agnes selbst trägt ihr Los schon viel leichter, da sie mit dem Graumännchen nun einen vermeintlichen Freund an ihrer Seite hat, der sie jede Nacht ihr besucht, und sie, während er für sie am Webstuhl sitzt, mit drolligen Späßen, spannenden Geschichten oder einfach nur Small Talk unterhält.

Dann überschlagen sich die Ereignisse: Eine von Agnes‘ Stiefschwestern soll Justus versprochen werden; der aber hängt noch immer an Agnes, von der es heißt, sie sei freiwillig ins Kloster gegangen – eine von der Stiefmutter in die Welt gesetzte Lüge, an die der Ritter partout nicht glauben möchte. Der Plan der Stiefmutter lautet nun, Agnes mit Hilfe des teuflischen Burgpfarrers aus der Welt zu schaffen. Endlich rückt Graumännchen mit der Sprache raus, wer er sei und weshalb er Agnes so lange ohne Gegenleistung beigestanden habe: Die ganze Zeit hat Agnes vertraulich mit einem Gehilfen Wotans verkehrt, einem heidnischen Relikt, dessen Anhänger im Zuge der Christianisierung mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden, und der seither im Verborgen darauf wartet, seine einstige Herrlichkeit wiederherzustellen. Ausgerechnet einer von Agnes‘ Vorfahren habe ihm einst als Handlanger gedient und ihm seinen erstgeborenen Sohn versprochen, damit dieser im Dienste Graumännchens als unbezwingbarer Heidenkrieger mit der christlichen Religion aufräume -, dann aber sein Versprechen aus Liebe zu einer frommen Frau gebrochen. Nun sei Agnes an der Reihe, die Fehler ihres Urahns wiedergutzumachen: Wenn Agnes einwilligt, Graumännchen ihren Nachwuchs zu überlassen, sobald dieser geboren sei, wird dieser dafür sorgen, dass ihre Stiefmutter ihre gerechte Strafe erhält, dass sie endlich aus ihrer Kerkerhaft erlöst wird, dass sie Ritter Justus zum Traualtar führt. Unsere Heldin windet sich wie ein Aal – und schafft es immerhin, dass Graumännchen sich auf eine Extraklausel ihres Bündnisses einlässt: Falls Agnes bis zum Tage, an dem Graumännchen ihr Kind holen kommt, seinen richtigen Namen errät, wird der Zwerg auf seinen Lohn verzichten…

Wer bis hierhin nicht an Rumpelstilzchen denkt, hat wohl niemals die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aufgeschlagen – wobei diese allerdings erst ab 1812 erscheinen, also weit über ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung von Albrechts GRAUMÄNNCHEN. Näherliegt deshalb, dass die Autorin sich für ihren paganen Knirps, (dessen richtiger Name übrigens putzigerweise „Dütteldüßgen“ lautet!) auf verwandte Stoffe wie beispielweise das französische Märchen von "Ricdin Ricdon" bezog, um diese, durchaus im Sinne der romantischen Kunstmärchentradition, subversiv auf den Kopf zu stellen: Stellenweise spielt Sophie Albrecht geradewegs mit den Erwartungen ihrer Leserschaft, wenn sie ihren Roman zum Beispiel völlig anti-klimatisch enden, sprich, das Ganze eben nicht auf einen Showdown zwischen Agnes und Graumännchen hinauslaufen lässt, wenn sie zwar schildert, dass Agnes sich Hals über Kopf in Ritter Justus verguckt habe, dieser aber seine spätere Herzdame für lange Zeit nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn! erstmal vergisst und erst aktiv daran erinnert werden muss, dass sie doch eigentlich die Liebe seines Lebens ist, oder wenn Stiefmutter und Stieftöchter als Hauptantagonistinnen sich den Konsequenzen für ihr Handeln durch Flucht entziehen und, anders als in den meisten Grimm-Märchen, auf eine möglichst blutige Bestrafung verzichten müssen. Fortlaufend kontrastiert Albrecht ihre Märchenstory mit solchen realistischen Wendungen, die ihren Höhepunkt sicherlich in der Schilderung des Verhältnisses zwischen der kasernierten Agnes und ihrem unheimlichen Gesellschafter finden: Wie feinsinnig und psychologisch durchaus glaubwürdig die Autorin die ambivalenten Gefühle beschreibt, die Agnes dem Graumännchen gegenüber empfindet, wie sie in deklamatorischen inneren Monologen die Sicht ihrer Heldin einnimmt, wie sie letztlich auch den Geisterzwerg selbst nicht einfach als plumpen Bösewicht zeichnet, sondern als ebenso widersprüchliches Wesen irgendwo zwischen bemitleidenswertem, weil entmachtetem Heidengötzen und ränkeschmiedendem, rachsüchtigem Unhold modelliert, zählt sicher zu den Highlights dieses an Höhepunkten nicht armen Romans.

Ebenso faszinierend fand ich, wie homogen sich in GRAUMÄNNCHEN unterschiedliche Genre-Versatzstücke die Klinke in die Hand geben: Freunde der Gothic Fiction dürfen sich an langen Beschreibungen verfallener Burgruinen, finsterer Kerker, mitternächtlicher Forste erfreuen, durch die junge Frauen mit schlotternden Gliedern schreiten; ins Territorium waschechten Folk Horrors begibt sich der Roman innerhalb der Binnenerzählung, in der Graumännchen Agnes seine Lebensgeschichte erzählt und sich vor unseren Augen das Panorama einer Christianisierung der Schwarzwaldgegend irgendwann im frühen Mittelalter entfaltet, bei der die Missionare mit den vorherrschenden Naturreligionen und ihren Anhängern wenig zimperlich umgehen, (weshalb man GRAUMÄNNCHEN durchaus einen anti-klerikalen Subtext attestieren kann, zumal ja auch ein katholischer Priester zu den engen Verbündeten von Agnes‘ Stiefmutter gehört und auch das Klosterleben beiläufig als wenig erstrebenswert geschildert wird): Graumännchen und sein Gefolge müssen sich mehr und mehr ins Verborgene zurückziehen, wo man ihnen nur noch heimlich im Schutz der Nacht an einsamen Lagerfeuern ihre Opfer darbringt - Bilder, bei denen mein inneres Auge gar nicht anders kann als solche Filmklassiker des Folk Horror wie THE WICKER MAN oder BLOOD ON SATAN'S CLAW wachzurufen; an Torture-Porn-Exzesse erinnerten mich schließlich die wirklich unangenehmen Passagen, in denen Agnes im Auftrag ihrer Stiefmutter auf unmenschlichste Weise malträtiert wird: Puh, wenn neunschwänzige Katzen und leibhaftige Schlangen zum Einsatz kommen, beschlichen mich nahezu De-Sade-Vibes.

Natürlich bietet es sich an, Albrechts Roman auf seine Darstellung von Geschlechterrollen abzuklopfen, daraufhin, inwieweit seine Frauenfiguren emanzipiert oder domestiziert auftreten, ob es Gegenentwürfe zur heteronormativen patriarchalen Ordnung gibt, bilden die beiden Genres, an denen GRAUMÄNNCHEN partizipiert – der Schauerroman sowie das Märchen – in der Zeit um 1800 doch oft schreibenden Frauen die Möglichkeit, unter dem Deckmantel der Phantastik mehr oder weniger kaschierte Gesellschaftskritik zu üben. Auch GRAUMÄNNCHEN verfügt über einige Aspekte, die bei genauerer Betrachtung aufhorchen lassen: Zumindest im Subtext werden Dinge wie romantische Liebe vs. bürgerliche Ehe, kraft- und saftlose Väter vs. männlich konnotierte gewalttätige Stiefmütter oder die Furcht vor der eigenen Sexualität verhandelt - allesamt Komponenten, die die (überschaubare) Sekundärliteratur bislang lediglich angerissen hat. Eine ernsthafte Auseinandersetzung der Germanistik mit dem GRAUMÄNNCHEN und Sophie Albrechts restlichem Oeuvre steht bisher aus.

Sprachlich gibt es natürlich den einen oder anderen Passus, der heutzutage unfreiwillige Komik hervorzurufen vermag, eher drollig wirkt, - (obwohl manche Komik intendiert sein mag wie die himmelschreiende Szene, in der Justus Graumännchen und die übrigen Heidengeister bei einer Besprechung belauscht, und der Zwerg Mühe hat, vor seinen Verwandten die eigene Autorität aufrecht zu erhalten). Ansonsten braucht sich Sophie Albrecht vor ihren wesentlich bekannteren männlichen Kollegen wie Christian Heinrich Spieß, (dessen PETERMÄNNCHEN von 1791 ihr möglicherweise als Inspiration diente, immerhin geht es auch hier um einen unerfreulichen Pakt zwischen Mensch und teuflischem Gnom), kein bisschen zu verstecken, übertrumpft diese vielmehr noch darin, wie kunstvoll sie ihre lineare Handlung von Rückblenden durchbrechen lässt, wie sie zwischen Orten und Persektiven hin und her hüpft, wie sie tief in die Psyche ihrer Heldin hineintaucht und sie zu einem Menschen aus Fleisch und Blut werden lässt, wie sie es leichthin schafft, absolut beklemmende Passagen mit bizarr-witzigen abwechseln zu lassen, wie sie in besonders spannenden Augenblicken die Erzählinstanz selbst uns als Leser direkt ansprechen lässt und damit für überraschende metareflexive Momente sorgt.

Kurzum: Ich bin verzückt - und wer ebenfalls verzückt sein möchte, schaue hier: https://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd18/content/titleinfo/1178402
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Salvatore Baccaro
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Re: Sophie Albrecht - Graumännchen oder die Burg Rabenbühl (1799)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

...und wem meine enthusiastischen Literaturempfehlungen in Schriftform zu ausufernd sind, hat eventuell hier die Möglichkeit, sich von der Qualität dieses frühromantischen Märchenromans überzeugen zu lassen...

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purgatorio
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Re: Sophie Albrecht - Graumännchen oder die Burg Rabenbühl (1799)

Beitrag von purgatorio »

Warum werden im Programmheft deine hart erarbeiteten zwei Buchstaben samt abkürzendem Punkt unterschlagen? :shock:
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
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