Blood Delirium - Sergio Bergonzelli (1988)

Grusel & Gothic, Kannibalen, Zombies & Gore

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Blap
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Re: Blood Delirium - Sergio Bergonzelli (1988)

Beitrag von Blap »

Gerade beim Erzeuger bestellt, inklusive weiterer Sausen. Ich lechze bereits.
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Salvatore Baccaro
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Re: Blood Delirium - Sergio Bergonzelli (1988)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Kürzlich habe ich etwas getan, von dem ich ausgehe, dass es einen Menschen ohne jahrzehntelange autodidaktische Eichung in den Sektoren Exploitation- und Experimentalfilm den Verstand kosten könnte, mir nämlich hintereinander weg die beiden einschlägigen Giallo-/Gothic-Horror-Werke Sergio Bergonzellis angeschaut: NELLE PIEGHE DELLA CARNE von 1971; sowie DELIRIO DI SANGUE von 1988.

In der (internationalen) Sekundärliteratur zum italienischen Horrorfilm stolpert man ja immer wieder über die Behauptung, die Filme sowohl (inzwischen) weitgehend etablierter Auteurs Mario Bava, Dario Argento und Lucio Fulci, aber auch die Erzeugnisse unbekannterer und derzeit immer noch etliche Meilen von Kanonisierungsprozessen entfernter Regisseure wie Renato Polselli oder eben Sergio Bergonzelli seien „surrealistisch“ – wobei die Bezeichnung eher den Eindruck eines Modeworts macht, das losgelöst ist von der historischen Kunstströmung des Surrealismus, die ihren Höhepunkt vor allem in Frankreich vor allem in den 20er und 30er Jahren hatte. Diese Entwicklung beklagt übrigens schon der Surrealist der ersten Stunde Philippe Soupault, wenn er rückblickend auf den Ursprung und die Entstehung des Surrealismus 1968 schreibt, dass das Wort, trotz der „strengen Definition“, die der Wortführer der Gruppe, André Breton, ihm immer wieder habe angedeihen lassen, mittlerweile „für jedes beliebige Werk oder jede Darbietung“ angewendet wird, „die den gesunden Menschenverstand schockiert.“

Dabei sind einige Exponenten des italienischen Genrekinos, wie ich gebetsmühlenartig deklariere, aber durchaus prädestiniert, die surrealistische Rose mit Stolz am Brevier zu tragen – und Bergonzelli wählt in seinem die Logik mehr als nur brüskierenden Double Feature einen Ansatz derart originell, dass sich mir im Verlauf der insgesamt etwa drei Sichtungsstunden der Unter- nur noch selten mit dem Oberkiefer verbinden wollte.

Ob nun bewusst oder unbewusst, (was aber, gemäß surrealistischer Maßstäbe, sowieso eine obsolete Kategorie ist), beziehen sich beide Filme jeweils auf eine Figur der europäischen Kunst- und Geistesgeschichte, die auch für den historischen Surrealismus maßgeblich gewesen ist. Namentlich sind es Sigmund Freud, dem NELLE PIEGHE DELLA CARNE in einem Eröffnungszitat seine Referenz erweist, wenn er ein (angeblich) aus der Feder des österreichischen Arztes und Psychoanalysebegründers aufs Tapet bringt, („What has been, remains imbedded in the brain, nestled in the folds of the flesh; distorted, it conditions and subconsciously impels”), sowie Vincent Van Gogh, der in DELIRIO DE SANGUE prominent firmiert, da sich der Antagonist dieses Films für eine Reinkarnation des niederländischen Malers hält.

Die Erforschung des menschlichen Unbewussten durch Wissenschaft (Freud) und Kunst (Van Gogh) sind zwei Leitmotive des Surrealismus. Tatsächlich haben sich die Mitglieder der Gruppe um Breton verbissen an beiden abgearbeitet. Das Verhältnis zu Freud freilich ist ein ambivalentes: Breton, der selbst Medizin studiert hat, schreibt Freud zunächst enthusiastische Briefe, schnell wird aber klar, dass der junge Dichter und der greise Wiener Arzt nicht wirklich auf einen Nenner kommen. Das ist allerdings auch verständlich, wenn man sich die Zielsetzungen von Surrealismus und Psychoanalyse anschaut: Letzterer ist teleologisch auf einen Genesungsprozess ausgerichtet, er erforscht unsere Träume, unser Unterbewusstsein, das, was in die Falten unseres Fleisches an Neurosen und Traumata eingeschlagen wurde, um es taxonomisch zu erfassen, eine Diagnose zu erstellen, letztlich dafür zu sorgen, dass die derangierten Geisteszustände wie Schreckgespenster verpuffen, unsere Fleischfalten am Ende vielleicht nicht leer und rosig wie bei der Geburt sind, wir aber zumindest mit dem leben können, was sich in ihnen festgesetzt hat; die Vertreter von ersterem suchen geradewegs nach Grenzzuständen, nach psychischen Katastrophen, nach Kontrollverlust, wenn sie durch die Passagen und über die Flohmärkte von Paris streifen, um Zufallsfunde und Zufallsbegegnungen zu erleben, wenn sie Schlafexperimente anstellen, Séancen veranstalten, Drogen konsumieren, wenn sie gerade beim Kunstmachen die Kontrollinstanz der Vernunft auszuknipsen versuchen, um bei Methoden wie dem Automatischen Schreiben ungefiltert das aufs Papier zu bringen, was in ihnen an Bildern, Erinnerungen, Assoziationsketten herumspukt.

In diesem Sinne folgt NELLE PIEGHE DELLA CARNE dem surrealistischen Weg nahezu sklavisch: Zwar wird zu Beginn Freud zitiert, und im Kern dreht sich die Story ja auch um Kindheitstraumata und die Art und Weise, wie sie auf die Gegenwart einwirken – wie Bergonzelli indes mit diesen freudianischen Themenkomplexen umspringt, hat mehr mit der Rezeption der Psychoanalyse durch Breton & Co. zu tun: Es geht nicht um Heilung, nicht um Genesung, nicht darum, eine in Schieflage geratene Ordnung zu restaurieren, vielmehr suhlt sich NELLE PIEGHE DELLA CARNE förmlich darin, wie die derangierten Psychen seiner Figuren irgendwann auf die Mise en Scene übergreifen, und der Film rein inszenatorisch bereits unter all den sadomasochistischen Entgrenzungen, sexualpathologischen Entgleisungen, ödipalen Exzessen kollabiert. Metaphorisch kann man das (vermeintliche) Freud-Zitat zu Beginn auf den Film selbst anwenden: In das Fleisch der Analogfilmrollen verpackt sind Dinge, die wohl selbst Freud sprachlos zurückgelassen hätten, wären sie ihm von einer seiner Patientinnen bei einer Couchsession anvertraut worden. Gewissermaßen inszeniert NELLE PIEGHE DELLA CARNE die spezifische Konfiguration, die die Psychoanalyse in Händen der Surrealisten erlebt. Bestes Kontrastmodell dürften die Filme Hitchocks wie SPELLBOUND, MARNIE, PSYCHO sein, an deren Enden stets irgendeine Autorität den zurückliegenden, nunmehr harmonisch aufgelösten Fall rekapituliert, erklärt, ad acta legt: Das Trauma ist bewältigt. NELLE PIEGHE DELLA CARNE wirkt demgegenüber eher, als sei man in die Klink von Doctor Tarr und Professor Fether geraten, die Poe in einer berühmten Kurzgeschichte von 1845 beschreibt: Die Psychiatrieinsassen haben das Heft in die Hand genommen, die Ärzte in die Zellen gesperrt.

Psychiatrie ist das Stichwort, das auch bei van Gogh unbedingt fallen muss – zum einen, weil der Maler, wie man weiß, unter psychischen Dispositionen litt, die ihn, unter anderem, dazu brachten, sich ein Ohr abzuschneiden und es seiner Lieblingsprostituierten im örtlichen Bordell als Geschenk zu überreichen, und wohl auch zu seinem (mutmaßlichen) Suizid führten, bei dem er sich während einer Freiluftmalsession eigenhändig in die Brust schießt, zum andern, weil der Surrealist Antonin Artaud van Gogh in seinem Langgedicht „Van Gogh le suicidé de la société“ 1948 auf bemerkenswerte Weise huldigt. Zum Zeitpunkt, als Artaud seinen Text schreibt, ist er selbst gerade erst nach neunjähriger Internierung aus der Nervenheilanstalt entlassen worden, und wenig verwunderlich ist es genau dieser Aspekt, der ihn an Van Gogh am meisten interessiert: Der Maler wird für Artaud zum alter ego, zum „Selbstmörder durch die Gesellschaft“, zu einem Opfer eines verrotteten Bürgertums, das alles, was von seiner spießigen Norm abweicht, entweder unterdrückt oder kaserniert – oder dazu bringt, Hand an sich selbst zu legen: Anders als Artaud, der, wie er schreibt, sich nach jedem Gespräch mit seinem Psychiater wünschte, ihm mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden, habe van Gogh diesen Hass nicht externalisieren können, ihn stattdessen in sich hineingefressen – was letztlich zu Selbstverstümmelung und Selbstmord führt.

Noch wichtiger allerdings als Artauds leidenschaftlich-autobiographischer Zugriff auf die Person van Goghs sind im Hinblick auf Bergonzelli wohl zwei Essays des Transgressionstheoretikers (und dissidenten Surrealisten) Georges Bataille: „La mutilation sacrificielle et l'oreille coupée de Vincent van Gogh“ von 1930 und „Van Gogh Prométhée“ von 1937. Dort bringt Bataille das Werk Van Goghs, das ihn genauso fasziniert wie Artaud, explizit mit seinen Standardthemen Ritus, Opfer, Verausgabung, Grenzüberschreitung, Tabu in Einklang: „Vincent van Gogh“, schreibt er, „gehört nicht zur Kunstgeschichte, sondern zum blutgetränkten Mythos unserer menschlichen Existenz.“ Gerade jene Themenfelder – der Konnex zwischen Kunst und Tod; Kunst als Substitut für gesellschaftlich tabuisierte Transgressionen; der Künstler als eine Art Opferpriester, der letztlich sich selbst in die Waagschale wirft – sind integraler Bestandteil von DELIRIO DE SANGUE, dessen Bösewicht irgendwann feststellt, dass sich mit Frauenblut die ergreifendsten Bilder malen lässt; nein, mehr noch ist die Verbindung zwischen Kunst und Opfer, die bei Batailles van-Gogh-Lesart ja nur metaphorisch aufscheint, (denn, soweit ich weiß, hat van Gogh niemals tatsächlich niemals Menschenblut als Farbe zweckentfremdet), drastisch und plakativ zu Ende gedacht: Anders der historische van Gogh aber, den Artaud so luzid beschreibt, lehnt sich der Held von DELIRIO DE SANGUE aber gegen die Gesellschaft auf, rebelliert blutig gegen ihre Normen, schwingt sich auf Sade'sche Höhen, indem er nicht mal ein Menschenleben für zu kostbar hält, um es für die eigene Kunst zu opfern.

Es wäre eine wirklich lohnende Aufgabe, das, was ich hier nur ganz grob skizzieren konnte, elaborierter auszuführen, und, ehrlich gesagt, dafür, dass NELLE PIEGHE DELLA ARNE und DELIRIO DE SANGUE wahrhafte Mindfuck-Angelegenheiten sind, haben sie mein Gehirn in den letzten Wochen doch in einer konstanten Rotationsbewegung gehalten: Meine Güte, was für Herrlichkeiten!
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Salvatore Baccaro
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Re: Blood Delirium - Sergio Bergonzelli (1988)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Inzwischen bin ich nun doch auf einen Text gestoßen, der sich mit Bergonzellis spätem Meisterstück auseinandersetzt. In Alexandra Heller-Nicholas‘ Studie zu den kunsthistorischen und malerischen Bezügen im italienischen Giallo-Thriller "The Giallo Canvas" von 2021 nämlich befindet sich doch tatsächlich eine Kurzanalyse des Films. Diese ist allerdings recht oberflächlich gehalten. Primär behandelt die Autorin den Mythos vom wahnsinnigen, sich selbst und seine Umwelt für die Kunst opfernden Maler in Bezug zu Bergonzellis Schocker, wobei weder die schauerromantischen Anleihen in DELIRIO DE SANGUE noch die surrealistische Mise en Scène oder gar die spezifische Rezeption Van Goghs im (dissidenten) Surrealismus in den Blick nimmt. Ihr Fazit lautet demzufolge: „There is little evidence to suggest that Bergonzelli (who wrote the screenplay as well as directed the film) thought particularly deeply about this on a conscious level, but where perhaps the greatest significance of Blood Delirium lies is less in its at times pushy, even aggressive referencing to Van Gogh, but rather how the myth of the ,mad’ genius is used as a blanket excuse to explain (although of course not justify) the most heinous of crimes. […] From this perspective, Blood Delirium is less about Van Gogh specifically as it first appears. Rather, it extends – in ways I suspect are distinctly unintentional, but present nevertheless – towards a broader critique of how these exact kinds of myths that privilege and fetishize the artist and their outsider status can be dangerously internalized to justify fundamentally unjustifiable behavior.” Zu finden ist das Ganze in: Alexandra Heller-Nicholas: The Giallo Canvas. Art, Excess and Horror Cinema, Jefferson 2021, S. 140.
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