Freak Orlando - Ulrike Ottinger (1981)

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Salvatore Baccaro
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Freak Orlando - Ulrike Ottinger (1981)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Freak Orlando

Produktionsland: BRD 1981

Regie: Ulrike Ottinger

Cast: Magdalena Montezuma, Delphine Seyrig, Albert Heins, Eddie Constantine, Else Nabu, Galli Müller, Hiro Uchiyama, Claudio Pantoja


Die Liste all der Filme, an die mich Ulrike Ottingers Opus Magnum FREAK ORLANDO aus dem Jahre 1981 erinnert hat, dürfte genauso lange sein wie der Streifen selbst, der sich bei mehr als zwei Stunden Laufzeit einpendelt: Natürlich zuallererst das Werk von Alejandro Jodorowsky. Jean-Luc Godards WEEK END. Dusan Makavejevs SWEET MOVIE. Sergej Paradjanov. Todd Brownings FREAKS. Camp aus den 60ern und 70ern à la Andy Warhol, Jack Smith, John Waters usw. usf.

Dabei stand für Ottingers „Kleines Welttheater in fünf Episoden“ zunächst einmal ein Roman Pate, nämlich Virginia Woolfs erstmals 1928 erschienener ORLANDO. Darin schildert die Autorin das Leben eines gewissen Orlando, der/die sein/ihr Geschlecht beliebig wechselnd und ohne zu altern insgesamt fünf Epochen der britischen Geschichte vom Barock bis ins frühe 20. Jahrhundert bestreitet: Als Adliger am Hofe Jakobs I. von England (1566-1625); als Gesandter König Jakobs II. von England (1633-1701) in Konstantinopel; als Frau im England des 18. Jahrhunderts; als Gattin eines Seeoffiziers im 19. Jahrhundert; schließlich im 20. Jahrhundert als Schriftstellerin und Frauenrechtlerin.

Selbst wenn man Woolfs Roman gelesen haben sollte, dürfte es aber schwerfallen, FREAK ORLANDO in jedem einzelnen Detail zu folgen. Randvollgestopft hat Ottinger ihr Epos mit christlicher Ikonographie (Eddie Constantine als sich in den Ertrinkungstod stürzender Säulenheiliger; Else Nabu als nicht-kanonisierte bärtige Heilige Wilgeforte, die ans Kreuz gefesselt einen schrillen Chanson intoniert), mit Seitenhieben auf die kapitalistische Moderne (Sonderangebote der Sakralen Aktionswoche; Konsumgüter bis zum Erbrechen, inklusive ein Shopping-Haul aus den innersten Höllenkreisen), mit einer Queeren Ästhetik, die dezidiert marginalisierte Körper vor Augen führt (Zirkusfreaks; Mitglieder schwul-lesbischer Subkulturen), mit etlichen Momenten, in denen kunterbunte Kostüme, aufwendige Set-Designs, markante Schauplätze Westberlins zu den eigentlichen Protagonisten werden, und FREAK ORLANDO eigentlich rein gar nichts mehr erzählt, sondern vor allen Dingen zeigt.

In seinem präzisen Tableau-Stil reiht der Film im Grunde eine schier unerschöpfliche Anzahl von Performance-Akten aneinander: Paraden von Lack-und-Leder-Gestalten; eine Zirkusgesellschaft, die mit ihren Wohnwägen durchs Land zieht; Männer und Frauen in weiten Gewändern, die sich staunend um barocke Wasserspiele scharen; eine Flagellantenprozession, schreiend und stöhnend; grausam zugerichtete Leichen, aufgespießt und aufgehangen in pittoresken Landschaften. Dabei entfalten sich die erstaunlichen Bilder voller Gänse, denen man Puppenköpfe übergestülpt hat, von hübsch zurechtgemachten Ferkelchen, von grell geschminkten Figuren, die keiner heteronormativen Geschlechtsidentität zugeordnet werden können, in extrem elegischem Tempo, wirken mehr wie sich nur sacht bewegende Gemälde, vor denen man minutenlang in einer Kunstgalerie innehalten kann, - so wie überhaupt der komplette Film eher den Eindruck erweckt, in einem exzentrischen Offspace besser aufgehoben zu sein als auf kommerziellen Kinoleinwänden. Dass das ZDF mitproduziert haben soll, kann ich ja kaum glauben, - dass der Film seinerseits ein großer finanzieller Flop gewesen sein soll, schon eher.

Tatsächlich schlagen auch in meiner Brust zwei Herzen: Das eine liebt FREAK ORLANDO für seine verspielt-surrealen Bilder, den schieren Materialaufwand, der hier aufgeboten worden ist, für seine manchmal verstörenden, manchmal amüsanten, oftmals völlig überbordenden Ideen; das andere krampfte sich zusammen, weil dieser Overkill an Tönen, Schreien, Farben, Bizarrerien vollkommen ohne Verschnaufpause gestreckt auf hundertdreißig Minuten sich spätestens nach einer Stunde zu einer wahren Geduldsprobe auswächst.

In ihrem wundervoll recherchierten, stilistisch betörenden und inhaltlich profunden „Lexikon des Fantasy-Films“ kommen Hahn/Jansen übrigens zu folgendem Fazit: „Wie vieles andere, was der deutsche Film auskotzt, wird er [der Innenminister, der das Projekt finanziert hat] vielleicht sagen, ist auch diese Produktion eine Schaumschlägerei, die man für ein paar Tausend nickelbebrillter Traumtänzer inszeniert hat, die mit haschumflortem Blick die Schuhkastel-Kinos unserer Universitätsstädte bevölkern und die Trostlosigkeit unserer phantasiearmen Zeit beweinen – und um ein paar Rezensenten zu beschäftigen, die in Periodika, die eh kein Schwein liest, alles tun, um in essayistischer Form über die blühende Phantasie der Ulrike Ottinger auf eloquenteste Weise klugzuscheißen.“
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Do 20. Jan 2022, 09:18, insgesamt 1-mal geändert.
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Blap
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Re: Freak Orlando - Ulrike Ottinger (1981)

Beitrag von Blap »

Delphine Seyrig!? Das macht neugierig.
" ... ist auch diese Produktion eine Schaumschlägerei, die man für ein paar Tausend nickelbebrillter Traumtänzer inszeniert hat, die mit haschumflortem Blick die Schuhakstel-Kinos unserer Universitätsstädte bevölkern und die Trostlosigkeit unserer phantasiearmen Zeit beweinen ..."
Da schleiche ich mich ein, gönne mir ein paar tiefe Atemzüge. :mrgreen:
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