Rape - Yoko Ono / John Lennon (1969)

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Salvatore Baccaro
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Rape - Yoko Ono / John Lennon (1969)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Rape

Produktionsland: Österreich 1969

Regie: Yoko One, John Lennon

Darsteller: Eva Majlath

Ein Friedhof wie aus einer gothic-novel, irgendwo in London. Eine scheinbar zufällig vorbeikommende junge Frau – die Österreicherin Eva Majlath – nähert sich in einer parkähnlichen Anlage direkt vor den Friedhofstoren dem Kameramann Nic Knowland bzw. dessen technischem Apparat. Die Prämisse der daraufhin folgenden knapp achtzig Minuten, aus denen Yoko Onos und John Lennons Experimentalfilm RAPE sich zusammensetzt, ist so simpel wie beklemmend: Das Kamerateam wird sich an Majlaths Fersen heften, nicht mehr von ihrer Seite weichen, sie zwischen Gräbern verfolgen, dann durch die Straßen der britischen Metropole, sie letztlich im Appartement ihrer Schwester wie ein Beutetier stellen. Majlath wird auf diese Konfrontation mit zunehmender Panik und Verzweiflung reagieren: Zu Beginn wirkt sie fast geschmeichelt von der sich auf sie einschießenden Linse. Nicht gerade so, als würde sie mit der Kamera flirten. Aber sie ist freundlich, spricht Knowland auf Deutsch und Italienisch an, versucht Konversation mit ihm zu betreiben, herauszufinden, was es ist, dass die fremden Männer von ihr wollen, ihnen zu erklären, dass sie sie offenbar verwechseln, sie sei nämlich kein Star oder etwas Ähnliches. Das konsequente Schweigen der Gegenseite jedoch verunsichert sie mehr und mehr. Am Ende, nachdem die Männer sie in der Wohnung ihrer Schwester eingeschlossen haben, verkriecht sie sich an einer Zimmerwand, und setzt alles daran, ihr Gesicht vor der erbarmungslos auf sie niederstarrenden Kamera zu verstecken.

Es ist wohl unausweichlich, dass RAPE vor allem in einem popkulturellen Kontext rezipiert wird. Jeder weiß, dass Ono und Lennon Ende der 60er für die internationale Paparazzi-Szene ein kapitales Wild gewesen sind. Gerade in der Zeit, als RAPE entsteht, haben ein Gerichtsprozess gegen Lennon wegen Haschisch-Besitz und seine freilich von der Presse weidlich ausgeschlachtete Scheidung von Ex-Frau Cynthia zu einem Dauerlauf an Headlines geführt. Mancher weiß vielleicht ebenfalls, dass Yoko Ono sich in ihren Fluxus-Peformances gerne und oft mit den Relationen zwischen Künstler und Kunst-Betrachter, zwischen Kunstwerk und Alltag, zwischen eigener Unversehrtheit und Einladung oder Praktizierung selbstverletzender Gewalt auseinandergesetzt hat: WALL PIECE FOR ORCHESTRA (1962), wo sie auf einer Konzertbühne kniet und ihren Kopf rhythmisch gegen deren Parkettboden haut, oder CUT PIECE (1964), wo sie in einem teuren Designer-Kleid ebenfalls auf einer Bühne kniet, und ihr Publikum einlädt, sich eines Paars Scheren anzunehmen und mit ihnen anzustellen, was es möchte, antizipieren Selbstverstümmelungs-Aktionen wie von Marina Abramovic oder Vito Acconci in den 70ern, und machen auf denkbar heftigste Weise die Grenzen durchlässig, die traditionellerweise Kunst und Leben scheiden. RAPE ist da nicht viel anders – nur mit dem Unterschied, dass Ono diesmal nicht die Rolle des Opfers einnimmt, sondern die des Täters.

Bereits in einem ihrer FILM SCORES (1968) heißt es, den ganzen Inhalt des Films vorwegnehmend: „The cameraman will chase a girl on a street with a camera persistently until he corners her in an alley, and, if possible, until she is in a falling position.” An diesem Satz sind zwei Dinge von besonderem Interesse: Zum einen, dass Onos Proto-Skript für RAPE impliziert, dass die junge Frau, zu deren Stalker sich Knowland aufschwingen wird, ihm allein vom Zufall vor die Linse gebracht werden soll, zum andern die strikte Geschlechterdifferenz, die die Macht des Blicks klar den Männern zuschiebt, und das Opfer eindeutig als weiblich konnotiert. In gewisser Weise kann man RAPE – was natürlich auch schon klügere Menschen als ich getan haben – mit den Überlegungen koppeln, die Laura Mulvey sieben Jahre nach Premiere des Films in ihrem gerade für die feministische Filmtheorie fundamentalen Essay VISUAL PLEASURE AND NARRATICE CINEMA anstellt: Auf der Folie Freuds und Lacans argumentiert Mulvey, dass das (Hollywood-)Kino seinem Publikum zumeist den männlichen Helden als Projektionsfläche und Identifikationsfigur anbietet, während die Frau – in der patriarchalischen Gesellschaft gefangen in einer symbolischen Ordnung, die sie von direkter Partizipation am Macht-Diskurs abhalte – zumeist diejenige abgibt, die vom dominierenden Blick unterworfen, domestiziert, voyeuristisch-lüstern beäugt wird. Solcherlei Filme – vor allem Hitchcock ist ihr (negativer) Gewährsmann – lassen, so kann man eine von Mulveys Kernthesen herunterbrechen, deshalb schlicht keinen weibliche konnotierten Betrachter zu: Sie sind konstruiert von Männern für Männer zum Erhalt einer phallozentrischen Kultur.

Aber noch etwas anderes fällt mir auf, wenn ich mir Onos Kurztext zur Konzeption von RAPE anschaue, und sie mit dem fertigen Film vergleiche. Zunächst: So klaustrophobisch und unangenehm der Film mit zunehmender Laufzeit wird – die wackelige Handkamera, die hohen Hell-Dunkel-Kontraste, die Tatsache, dass die Linse Majlath oftmals derart naherückt, dass ihr Körper bis hin zur Abstraktion zerfasert -, so sehr bleibt das Verhalten des vermeintlichen Opfers doch in einem Rahmen, der nie in reine Wut umschlägt, aber auch nicht vollständige Wehrlosigkeit ist. Selbst am Ende, wenn Majlath sich, exakt wie Onos Skript es verlangt, auf dem Boden zusammengekauert hat, unternimmt sie noch Versuche, die Kamera mit der Hand abzuwehren, und ihre Schwester telefonisch zu erreichen. Aber schon zu Beginn ist ihr Verhalten befremdlich: Wieso beispielweise bittet sie keinen der zahllosen Passanten, die ihr auf dem Weg vom Friedhof zum Appartement begegnen, um Hilfe? Weshalb scheint ihre Schwester, die wir ebenfalls kurz zu Gesicht bekommen, sich wenig bis gar nicht an der Anwesenheit eines Kamerateams an Seite Malthys zu stören? Woher hat das Filmteam überhaupt den Schlüssel, mit dem es Majlath in der Wohnung ihrer Schwester einsperrt?

Zwei mögliche Antworten schwirren mir im Kopf herum: Die eine entspricht einer Theorie, die man ebenfalls bereits im Netz lesen kann: Dass nämlich Ono und Lennon einen geheimen Pakt mit Majlaths Schwester abgeschlossen haben, die sie irgendwoher kannten, sie in ihr Vorhaben einweihten, und Majlath – als Ausländerin ohne Englischkenntnisse, die sich zudem, wie sie einmal erklärt, illegal in London aufhält, und, wenn die Behörden auf sie aufmerksam werden, um ihre Abschiebung fürchten muss – ganz bewusst als Subjekt ihrer visuellen Vergewaltigung ausgepickt haben. Majlath wäre dadurch nicht einfach nur die Frau per se, wie sie Mulvey imaginiert, sondern eine Frau, die aus gutem Grund Angst vor der Staatsmacht hat, als deren Vertreter ihr Knowland und sein Team erscheinen müssen: Man bedenke, dass 1968 noch nicht jeder zweite Spaziergänger mit einer Handy-Kamera herumläuft, und Selfies schießt, sondern dass das Vorhandensein einer Kamera ihren Besitzer zugleich als Exponenten einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder zumindest einer bestimmten politischen, gesellschaftlichen Kaste markiert. RAPE wäre dadurch wenigstens zum Teil inszeniert: Da Ono und Lennon ungefähr absehen können, wie Malthys auf Knowlands Dauerfilmerei reagieren wird, ist sie eben nicht das Mädchen von Nebenan, das unvermittelt in ein Horror-Szenario stolpert. Dadurch bleibt es aber Ono und Lennon ebenfalls unmöglich, sich außerhalb ihres Films zu stellen, und ihn als große Anklage gegen das Frauenbild in der westlichen Welt zu verkaufen: Sie selbst sind involviert in die Mechanismen, die Frauen zu Opfern degradieren, sie entmündigen, objektivieren – genauso, je nach Perspektive, intelligent oder perfide wie Deodato sich in CANNIBAL HOLOCAUST genau jener exploitativen Schaulust bedient respektive schuldig macht, die er im großen Stil selbst anprangert.

Meine zweite Vermutung – und zwar die, die mir noch plausibler erscheint: Malthys ist selbst in das Spiel eingeweiht, und zwar von Anfang an, und RAPE dadurch reines re-enactement einer Situation, wie sie hätte sein können. Ich habe keine Beweise, natürlich nicht, nur Beobachtungen: Die vielen Schnitte, wenn Knowland eine neue Filmrolle einlegen muss. Stets bleibt sein Team ein Stück hinter Malthys zurück, muss wieder zu ihr aufschießen, die allerdings trotzdem keinen Versuch unternimmt, die Beine in die Hand zu nehmen, und, während ihre Verfolger kurzzeitig beschäftigt sind, sich in irgendeine Seitengasse abzusetzen. Vor allem der Schnitt, als Malthys es schafft, in ein Taxi zu springen und ihren Häschern kurzerhand davonbraust. Genau dort setzt eine neue Filmrolle ein, und plötzlich sitzt Knowland mit seinen Begleitern ebenfalls in einem Taxi, und hat das, in dem Malthys sitzt, wieder direkt im Visier. Das Verhalten ihrer Schwester, das Malthys selbst doch noch merkwürdiger vorkommen müsste als mir. Dass sie sich von einem Passanten gar eine Kippe anstecken lässt, ihn aber nicht darauf hinweist, dass die Kameraleute, die sie umschwirren, nicht wirklich in ihrem Sinne handeln. Dass sie selbst im Finale, als sie mit ihrer Schwester telefoniert, eher wie jemand wirkt, der weiß, dass er einer Bedrohung ausgesetzt ist, die er jederzeit abbrechen kann.

Das bringt mich indes zu einer letzten Frage: Wie wichtig ist es denn, ob das, was wir in RAPE sehen, real ist oder nicht? Ein Wort noch zu seiner Premiere. Die hat im österreichischen Fernsehen stattgefunden. Dort flimmert der Film am 31. März 1969 über die Bildschirme. Ist RAPE deshalb, selbst wenn er von vorne bis hinten inszeniert sein sollte, archaisches Reality-TV, eine Art BIG BROTHER im Direct-Cinema-Modus? Wenn ich bedenke, wie weitgesteckt der Begriff der Realität schon im sogenannten Reality-TV ist, kann ich nur zustimmend nicken. Zumal: RAPE tut nicht mal so, als sei er das, was er zu sein vorgibt. Der Film beginnt ohne Vorspann, in medias res: Majlath läuft auf die Kamera zu, die Kamera verfolgt sie, und alles, was wir in den folgenden achtzig Minuten hören ist ihre eigene Stimme auf Deutsch und Italienisch, die nicht mal untertitelt wird – so, als hätten Ono und Lennon den Fallstricken entgehen wollen, in ihr Material allein durch eine Übersetzertätigkeit eingreifen zu wollen. RAPE ist Rohmaterial, unbehauen – nur der Abspann sticht hervor, der ganz klassisch ausgefallen ist: „Directed by John und Yoko“, und mit Eva Majlaths Name auf der Leinwand bzw. dem Bildschirm, so, als sei sie doch ein Star, und zwar einer in einer Slasher-Romanze.

Ich stelle mir vor, ich hätte RAPE damals im österreichischen Fernsehen gesehen, ohne Kontextwissen, ohne vielleicht sogar zu wissen, wer hinter der Konzeption des Films steckt, ohne eine Handreichung dafür, ob ich die dargestellten Ereignisse für bare oder gezinkte Münze halten soll. Ich hätte zu beiden Schlüssen kommen können, die ich weiter oben vorgestellt habe. Ich hätte mich auf Hypothesen verlassen müssen, auf ein eigenständiges Abwägen der Argumente. Vor allem wäre ich aber, so ganz befreit von alldem, was seither über den Film geschrieben worden ist, und wie sich unsere Medienlandschaft seit seiner Premiere entwickelt hat, einfach nur gefesselt von ihm gewesen. RAPE ist eine unglaubliche Erfahrung – auf der großen Leinwand noch mehr als auf dem kleinen Fernsehschirm, in jedem Fall unfassbar effektiv darin, dass er Dich zugleich in die Rolle des Verfolgers und des Verfolgten setzt. Ich habe mich selbst beobachtet: Mitleid mit Majlath und dem Wunsch, jemand erlöse sie aus dem garstigen Katz-und-Maus-Spiel wechselt sich ab mit einer perversen Lust daran, wieder zu ihr aufzuschießen, nachdem sie es beinahe außer Sichtweite um eine Häuserecke geschafft hat. Ähnlich hat sich möglicherweise jemand im Auditorium von Yoko Onos WALL PIECE FOR ORCHESTRA gefühlt: Es tut allein beim Hinsehen weh, wie der Kopf der Künstlerin immer wieder Kontakt zum Holzboden aufnimmt, aber sie ist die Künstlerin, und sie hält gerade eine Performance ab, und darf man in den Nimbus, der sie umgibt, einfach so eingreifen?

Was RAPE also tut – und zwar, wenn man sich auf die schmucklose Ästhetik des Films einlässt, reichlich überzeugend: Die Kamera um hundertachtzig Grad zu drehen, und mich mit ihr anzublinzeln, zugleich komplizenhaft, verurteilend und einfach nur neugierig, was für ein Menschlein das ist, das achtzig Minuten Lebenszeit opfert, um einem anderen Menschlein zuzusehen wie es verfolgt, verunsichert und zur Verzweiflung getrieben wird.
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