Inspirationsquellen - Evi Jägle (2020)

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Salvatore Baccaro
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Inspirationsquellen - Evi Jägle (2020)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Inspirationsquellen

Produktionsland: Österreich 2020

Regie: Evi Jägle



Ich habe das Kino der Zukunft gesehen, - und es war anstrengend, hyperaktiv, virtuell.

Bereits vor geraumer Zeit bin ich auf den YouTube-Kanal der Wiener Künstlerin Evi Jägle gestoßen. Zum Zeitpunkt des Tippens dieser Zeilen listet der am 9. Juni 2016 gestartete Channel insgesamt 150 Videos und verfügt dabei über gerade mal 44 Subscribers. Die meisten Uploads pendeln sich bei einer Laufzeit von wenigen Sekunden/Minuten ein und tragen solche verheißungsvollen Titel wie BERGONISTISCH GEDICHTIG IN KAPITELINHALTVERZEICHNISTIGKEIT, DER ARIADNEFADEN IST GERISSEN, DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG VORWORT. IN AUSUFERNDER AUSDRÜCKLICHKEITSANNAHME oder LOGIK DES SINNS. 6. SERIE DER PARADOXA: ÜBER DIE SERIALISIERUNG. Es handelt sich um kleine digitale Spielereien: Jägle bastelt per Grafikprogramm gegenständliche 3D-Szenerien und lässt sodann eine virtuelle Kamera um diese herum, durch diese hindurch, über diese hinweg kreisen. Oft scheint sie auch mehrere Entwürfe miteinander zu kombinieren, sprich, mehrere Bildebenen übereinanderzulegen, ineinander zu spiegeln, nebeneinander zu stellen, was einen irritierenden Effekt der Überdetermination zur Folge hat. Manchmal sind die Kamerafahrten durch Jägles abstrakt-sterile Digitalwelten mit Rezitationen selbstverfasster philosophisch-poetischer Texte unterlegt, manchmal werden sie von befremdlichen Klangkulissen begleitet, manchmal sind sie auch einfach nur stumm. Bislang bloß einmal hat Jägle aus all diesen Einzelbausteinen, die den Eindruck loser, noch unverbundener Fragmente erwecken, ein großes Gesamtkunstwerk konstruiert: Am 21. Mai 2020 erscheint mit dem knapp einstündigen INSPRIATIONSQUELLEN ihr erster Langfilm, (falls der tradierte Terminus „Film“ in einem solchen Zusammenhang überhaupt noch Sinn ergibt). Seit bald einem Jahr bin ich um Jägles Opus Magnum herumgeschlichen wie die Katze um einen Topf voll Milch, von der sie weiß, dass sie zu heiß, zu süß für ihre empfindsame Schnauze sein wird, weshalb sie sich nur portionsweise einverleibt, ein Zungenschlag hier, ein Zungenschlag da – und nun, Monate später, sind Jägles INSPIRATIONSQUELLEN endlich so weit für mich abgekühlt, dass ich sie mir in einem Rutsch ansehen konnte. Mein Fazit: Das dürfte dann wohl einer zugleich anstrengendsten wie anregendsten Sichtungstermine meiner Cineasten-Laufbahn gewesen sein. Derzeit hat INSPIRATIONSQUELLEN exakt 23 Views – und wenn man meine vielen Klicks davon abzieht, bleibt wirklich nur eine erstaunlich karge Anzahl an Menschen, die sich zu diesem Video verirrt haben: Ich habe das Kino der Zukunft gesehen, - und ich bin einer der wenigen Auserwählten.

Es ist ein Gemeinplatz, zu schreiben, dieses oder jenes ästhetische Artefakt könne man gar nicht beschreiben, man müsse es selbst erleben. Aber einen narrativen Film kann man ja doch beschreiben – eben, indem man sich auf seine Fabel stützt. Auch viele Experimentalfilme liefern einem genügend Gelegenheit für Worte, mit denen man sich über ihres spezifische Materialität, ihre verwendeten technischen Verfahren, die explizit geäußerte Agenda ihrer Schöpfer auslassen kann. Bei INSPRIATIONSQUELLEN fehlen mir sowohl poetologische Aussagen der Regisseurin – (oder allein eine ungefähre Ahnung davon, inwieweit dieses Werk überhaupt ernst oder nicht doch ironisch gemeint sein soll) – wie auch profunde Kenntnisse darüber, mit welchem Programm und in welchen konkreten Arbeitsschritten Jägle ihre virtuellen Gegenwelten entwirft. Über eine etwaige Handlung kann ich natürlich sowieso nichts nach Hause berichten: INSPIRATIONSQUELLEN wirkt wie der Bewusstseinsstrom eines künstlichen Gehirns, dem genau die Sicherungen durchgebrannt sind, in deren Zuständigkeitsbereich Logik, Vernunft, Kohärenz fallen, und das mich deshalb in einem flächendeckenden Bombardement beschießt mit unaufhörlichen Kamerafahrten durch Räume, Objekte, Szenarien, deren Überfülle man sich vielleicht am besten annähert, indem man wahllos eine Handvoll Momente aus dem Video herausgreift und das, was einem in ihnen begegnet, so deskriptiv wie möglich zu Papier zu bringen versucht.

1) 0:00-0:30: Tonspur: Ein Türklingelsummen. Eine emotionslose Computerstimme rezitiert einen Text, (von dem ich vermute, dass er aus Jägles eigener Feder stammt), und in dem es um das Hadern des lyrischen Ichs mit der Digitalwelt geht: „Bildschirme legen sich über mein Gesichtsfeld. Auf meinen Augen Schwere. Wenn ich die analoge Welt betrachte, durchzieht ein Schleier meinen Blick, nicht sichtbar. Unterschwellig beginnen sanft die Augen weiß zu rauschen, wo doch der Horizont sie entlasten sollte.“ Bildebene: INSPIRATIONSQUELLEN von Evi Jägle. Unter dem Titel rotiert stockend ein seltsames Gebilde aus mehreren Quadern und Kuben: Es detaillierter zu beschreiben, scheitert allein schon daran, dass das ursprüngliche 3D-Modell im Nachgang farblich verfremdet worden ist und dass viele seiner Bestandteile sich einer menschlichen Sprache entziehen, da es sich um rein abstrakte Objekte handelt. Zwei Delfine in Rückenansicht kann ich erkenne; riesige Stellschauben, Schaltknüppel; auf den Flanken mancher Quader werden japanische Animes und Kätzchencomics projiziert – um all das registrieren zu können, muss man sich die erste halbe Minute des Films jedoch mehrmals und mit aufmerksamem Luchsblick anschauen. Es realisiert sich das, was die Roboterstimme aus dem Off proklamiert: Schon rauschen meine Augen weiß, keine halbe Minute, nachdem ich eingetreten bin in das überbordende Paralleluniversum Jägles.

2) 9:05: Tonspur: Jägles eigene Stimme liest mehrere Texte parallel beziehungsweise sind die Sprachaufnahmen derart übereinander montiert, dass man nur einzelne Schlagworte, höchstens mal einen halben Satz klar und deutlich verstehen kann, ein babylonisches Stimmengewirr, das in nuce das Konstruktionsprinzip des gesamten Films auf den Punkt bringt: So viele Bilder, Töne, Worte werden aufeinandergeschichtet, dass dieser Turmbau nicht etwa einen Überschwang an Sinnhaftigkeit produziert, sondern, im Gegenteil, ein rauschendes Nichts evoziert, (das Ende aller Semantik dort, wo ihre Dichte am höchsten ist.) Auf der Bildebene sieht es nicht anders aus: Selbst, wenn man nur das Standbild bei 9:05 nach kunstwissenschaftlichen Standards wie ein klassisches Gemälde beschreiben wollen würde, könnte man damit Tage und Nächte zubringen. Das, was ich sehe, wirkt wie eine bis in den letzten Winkel mit bunten Stickern, Postkarten, Photos zugeklebte Kühlschranktür, bei der man irgendwann dazu übergangen ist, die bereits vorhandene Schicht an Bildern noch mit einer zweiten und dritten zu überziehen. Links unten, das sind wohl die Augen der Künstlerin selbst, in Großaufnahme; ich erkenne Sailor Moon, zumindest ihren Oberkörper, und zwar im rechten Winkel zum Bildrahmen stehend; oben rechts meckert ein Ziegen-Gif mich an, daneben hält ein Comic-Häschen eine Karotte; das Fanta-Logo, ein Fuchs, ein Schmetterling. Das Auge rauscht nicht mehr nur, es fliegt losgelöst im Raum, unfähig, irgendwo zu rasten. Sieht so Wahnsinn aus? Der von der heilsamen Sorte?

3) 22:10: „…Philosophiegeschichte muss, wie uns scheint, eine ganz ähnliche Rolle wie die Collagengemälde übernehmen… Die Geschichte der Philosophie ist nur die Reproduktion der Philosophie selber…“, liest Jägle in atemlosem Ton vor, (und unterbricht sich dabei fortwährend selbst, weil willkürlich andere Aufnahmen ihrer Stimme, bei denen sie andere Texte vorliest, in diesen hektischen Wortfluss hineingeworfen werden). Auf der Bildebene hat sich INSPIRATIONSQUELLEN nunmehr einer Art Einarmiger-Bandit-Ästhetik verschrieben, sprich, wie bei einer Slot Machines sausen unaufhörlich fünf verschiedene, diagonal angeordnete Bildstreifen an uns vorbei, (und werden, natürlich, zuweilen von ihren eigenen Spiegelbildern überlappt, wenn nicht sogar wiederum von den Spiegelbilder derer Spiegelbilder, und so weiter...) Vage kann man Portrait-Photographen Jägles erkennen; außerdem analoge Photographien von Freunden, Verwandten, der Künstlerin selbst; viele Portraits sehen auch aus, als ob die Künstlerin Screenshots von Videokonferenzfenstern gemacht hätte. Muss ich extra erwähnen, dass auch viele dieser Miniaturbilder zusätzlich optisch verfremdet worden sind, sodass ein ursprüngliches Gesicht nunmehr einer monochromen blauen Fläche gleicht oder (zumindest für mich) nicht dechiffrierbare Zeichenkombinationen in sie eingraviert wurden?

4) 39:50: Ein seltener Moment der Ruhe, sowohl auf Bildebene wie auf Tonspur. Zu hören ist eine Collage aus, wie es scheint, zufällig aufgezeichneten Umweltgeräuschen sowie eine Kinderstimme, die größtenteils Unverständliches brabbelt. Zu sehen ist ein dreistöckiges Gebilde, das man mit etwas Phantasie als Gebäude bezeichnen könnte, bei dem jede Ebene in drei voneinander getrennte Kammern unterteilt ist. Obwohl die virtuelle Kamera rastet und obwohl aus dem Off eher meditative Klänge zu uns dringen, herrscht im Innern des leicht seitlich gedrehten und vorne offenen Gebäudes natürlich reges Treiben. Jede Kammer scheint eine eigene Digitalwelt Jägles zu beherbergen, sprich, bis unter die Decke mit einem Überfluss an Formen, Farben, Figuren gefüllt zu sein. In der mittleren Kammer der zweiten Ebene blättert eine Hand in einem Buch umher; dieselbe Hand findet sich auch ein Zimmer nebenan; links unten schlägt ein identisches Buch seine Seiten scheinbar ohne menschliche Hilfe von selbst um. Weiterhin bewegen sich ein paar tanzende Figuren (mutmaßlich Internet-GIFs); an anderer Stelle rotieren Farbkleckse um die eigene Achse. Das meiste jedoch ist in Stasis verfallen: Assemblagen aus Undefinierbarem, die sich eine Verschnaufpause gönnen, bevor INSPIRATIONSQUELLEN mit seinem Versuch, meine Sinne zum Kollaps zu bringen, munter voranschreitet.

5) 58:50: „…dass ich gar nichts sagen kann. Das, was ich sagen kann, verfault schon in meinem Munde und ich könnte nie das sagen, was ich sagen möchte…“, erklärt Jägle scheinbar im Gespräch mit einer zweiten Person, (deren Stimme sich jedoch zu weit weg vom Aufnahmegerät befindet, als dass man sie halbwegs deutlich verstehen könnte), wozu eine beruhigende Ambient-Soundlandschaft à la Elektroorgel ertönt. Wenn schon die Worte versagen (und verfaulen), dann auch die Bilder, die in den letzten Einstellungen des Films natürlich ebenso wenig wie die Off-Monologe auf eine zufriedenstellende Konklusion hinauslaufen – denn, wenn INSPIRATIONSQUELLEN eins nicht möchte, dann meinen Sehgewohnheiten (oder die von irgendwem anders) in irgendeiner Weise schmeicheln. Übereinander gelagerte, ineinander verzahnte, sich gegenseitig durch Überlappung optisch verrätselnde Bildmotive, die repetitiv den gesamten Film durchziehen begegnen uns auch in den letzten Sekunden: Jägle in einem transparenten Ganzkörperanzug, mit Farbe beschmiert, geheimnisvolle Posen einnehmenden, geheimnisvolle Gesten vollführend; ein goldenes Portal wie aus einem billigen Adventure-Videospiel, hinter dem die virtuelle Kamera eine Galerie voller wuselnder Leinwände entlangrast; die blätternde Hand, mehrfach gespiegelt: eine sich langsam um sich selbst drehende Zentrifuge links oben im Bild: ein Goldfisch schwimmt vorbei; der Desktophintergrund von Jägles Laptop, prominent hervorgestrichen das Papierkorb-Icon – und noch so viele weitere winzig kleine Kreaturen, Details, Vorgänge, dass mir die Puste ausgeht, wenn ich mich nur bemühe, sie alle überhaupt bei der Sekundenschnelle, mit denen die Bilder wechseln, zur Kenntnis zu nehmen.

Ich habe das Kino der Zukunft gesehen, - und es war eine Petersburger Hängung im Cyperspace.

Wie man allerorten hört, sinkt die Aufmerksamkeitsspanne immer mehr, immer weniger Menschen finden die Muße, sich auf Werke in kompletter Spielfilmlänge einzulassen, immer öfter sollen audiovisuelle Medien nur dem flüchtigen Genuss dienen: Jemand erzählte mir von einem Streaming-Dienst, der sein Angebot nach Menschen richtet, die ihre audiovisuelle Unterhaltung homöopathischen Dosen von fünf bis zehn Minuten bevorzugen; die einzelnen Filmclips überschritten diese Grenze nicht und sind auch sonst dafür konzipiert, an Bushaltestellen schnell weggeguckt werden, während man auf den Bus wartet. Evi Jägle nimmt diese Entwicklung ernst – und übersteigert sie hin zum Augenblick ihrer Selbstdemontage. Evi Jägle nimmt diese Entwicklung auf die ironische Schulter – und verrührt so viele Bilder ineinander, dass es mir mehr und mehr fraglich erscheint, ihre INSPIRATIONSQUELLEN überhaupt noch dem Bereich der Bildmedien zuordnen zu können. Ist das noch ein Bild, wenn die Bilder einander derart schnell überrennen, dass wir nur sehen, dass wir nichts sehen? Ist der Baum, der einsam im Wald umfällt, wirklich umgefallen, auch wenn niemand vor Ort ist, um seinen Fall zu bezeugen? Die Zukunft des Kinos = das Ende des Kinos – und damit sein Neubeginn. Evi Lumière. Fin de Cinèma. Début de Cinèma. In dieser Hinsicht ist Evi Jägle sogar Godard eine Nasenlänge voraus: Was der Altmeister der kinematographischen Inanspruchnahme in seinem bislang letzten Werk BILDBUCH durchexerziert hat, führt Jägle mit INSPIRATIONSQUELLEN noch viel weiter zu seinem Finalpunkt: Ich habe das Kino der Zukunft gesehen, und es klingt wie wenn jemand eine Gitarre so sehr verzerrt, so sehr mit Feedback belastet, dass der entstehende Krach zum Weißrausch wird – und dadurch wunderschön: Shoegaze Cinema.


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