Die Geträumten - Ruth Beckermann (2016)

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Salvatore Baccaro
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Die Geträumten - Ruth Beckermann (2016)

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Originaltitel: Die Geträumten

Produktionsland: Österreich 2016

Regie: Ruth Beckermann

Darsteller: Anja Plaschg, Laurence Rupp


DIE GETRÄUMTEN ist kein fiktionaler Spielfilm. DIE GETRÄUMTEN ist kein Dokumentarfilm. DIE GETRÄUMTEN ist kein Biopic. DIE GETRÄUMTEN ist kein Filmessay. Am ehesten könnte man das Werk der österreichischen Regisseurin Ruth Beckermanns als abgefilmtes Hörbuch bezeichnen – wobei allerdings auch diese Einschätzung nur die halbe Wahrheit trifft…

Erst im Jahre 2009 wird der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann veröffentlicht. Über zwanzig Jahre hinweg, von Ende der 40er bis Ende der 60er, haben sich der rumänischstämmige Dichter, der seine Familie im KZ verloren hat, und die sechs Jahre jüngere Klagenfurter Lyrikerin schriftlich ausgetauscht: Über die Literatur, über die Nachkriegsgegenwart, über ihre Beziehung zueinander, die manchmal eine heilende Kraft entfaltet, manchmal mit Stacheln gespickt ist. Schreibend versinken sie in einer metaphernvollen Parallelwelt, widmen sich gegenseitig Gedichte, artikulieren ihre Sehnsüchte, ihre Verzweiflung, die Verletzungen, die sie einander willentlich oder unwillentlich zufügen – selbst dann noch, als Celan längst mit der Grafikerin Gisèle Lestrange verheiratet ist und Bachmann sich in einer Partnerschaft mit dem Schriftsteller Max Frisch befindet. Celan wird 1970 aus der Seine gefischt werden, mutmaßlich gestorben durch einen freiwilligen Gang ins Wasser; Bachmann, von Medikamenten- und Alkoholmissbrauch gezeichnet, stirbt drei Jahre später, als sie beim Rauchen einschläft und somit ihre römische Wohnung in Brand setzt.

Paul Celan wird dargestellt vom Burgtheater-Schauspieler Laurence Rupp; Ingeborg Bachmann verkörpert die unter dem Namen „Soap & Skin“ vor allem als Musikerin bekannte Anja Plaschg. Andere Menschen treten nur am äußersten Rand der minimalistischen Inszenierung auf, die sich größtenteils in einem Wiener Tonstudio abspielt, wo Plaschg und Rupp abwechselnd die Briefe Celans und Bachmanns in chronologischer Reihenfolge einlesen: Besucher des Cafés, in das sich die Beiden während der Dreh- beziehungsweise Sprechpausen zurückziehen; ein Tontechniker, der zu Beginn den Abstand der Mikrophone voneinander justiert; ein Kammerorchester, das ein paar Räume weiter ein klassisches Stück einspielt. Passagen, in denen Plaschg und Rupp sich scheinbar selbst spielen und quasi-dokumentarisch dabei gezeigt werden, wie sie zusammen Zigaretten drehen und rauchen, über bestimmte Briefpassagen diskutieren und diese zum Anlass nehmen, ihre eigene persönliche Situation zu reflektieren, miteinander scherzen und James Brown hörend auf dem Boden des Tonstudios herumliegen, sind marginal gegenüber dem Gros des Films, das sich tatsächlich einzig und allein aus Großaufnahmen der Gesichter Plaschgs und Rupps zusammensetzt, während sie Texte rezitieren, die mehr und mehr offenen, nur notdürftig durch Poesie kaschierten Wunden gleichen: Celan schreibt über das Grab seiner Mutter, das er mit seinen Holocaust-Gedichten errichten wolle; Bachmann beteuert, niemanden verletzen zu wollen, am wenigstens Celans Frau Gisèle, als sie nach jahrelanger Funkstille ihren Briefwechsel wieder aufnehmen, nachdem sie sich zufällig auf einer Literaturtagung getroffen haben – dabei wirkt vor allem Plaschg in manchen Momenten so, als würden sie die Worte zutiefst affizieren, sie bricht Aufnahmen ab, verbirgt ihr Gesicht hinter einem Blatt Papier, scheint jede Sekunde in Tränen auszubrechen.

DIE GETRÄUMTEN weist zwar die normierte Spielfilmlänge von eineinhalb Stunden auf, ist jedoch kein Spielfilm. DIE GETRÄUMTEN basiert zwar auf dem Briefwechsel zweier realer Personen, ist jedoch kein Dokumentarfilm derer für die deutschsprachige Literaturgeschichte so wichtigen Beziehung. Schon gar nicht ist DIE GETRÄUMTEN ein Biopic: Zwar wurden Rupp und vor allem Plaschg mit ihrer Bachmann-Frisur den historischen Figuren optisch anglichen, doch befinden sie sich stets auf Distanz zu diesen, scheinen immer ein paar Zentimeter über dem Punkt zu schweben, an dem sie sich vollkommen mit Celan und Bachmann identifizieren würden – zumal die drei über den Film verteilten Texttafeln mit ihren spärlichen, nüchternen Fakten auch nicht gerade dazu dienlich sein dürften, einem Publikum, das nicht mal im Deutschunterricht über die Namen Celan und Bachmann gestolpert ist, irgendwelche weiterführenden Hintergrundinformationen bereitzustellen. Auch als Filmessay geht DIE GETRÄUMTEN nicht durch – zumal an diesem Film wenig filmisch ist: Statische Close-Ups; kaum Kamerabewegungen; minutenlange Einstellung der sich bewegenden Münder, der starr auf die gelesenen Texte fixierten Augen. Ein abgefilmtes Hörbuch, vielleicht: Aber eins, das hineinzieht in seine schmucklosen, beinahe klinischen Bilder, in seinen unaufgeregten, nahezu auf der Stelle tretenden Flow, sein Übermaß an bedeutungsschwangeren Worten - Worte, in denen umso mehr Bedeutung mitzuschwingen scheint, je karger das Ambiente ist, in denen sie rezitiert werden...
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