Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

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Captain Blitz
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Captain Blitz »

Dann wäre das ja geklärt. Das hätte meine zarte Seele auch gar nicht ausgehalten. :kicher:
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Salvatore Baccaro
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Links im Bild: zwei ansprechende Frauenbeine, die unter einem Minirock hervorlugen. Rechts im Bild: eine Jukebox wie aus einem Nouvelle-Vague-Film. Das Mädchen, dessen Gesicht wir nicht sehen, füttert den Automaten, der willfährig sofort sein Musikspiel beginnt. So beginnt DELIRIO CALDO, wohl, man sieht das allein an den Einträgen hier im Forum, Renato Polsellis bzw. Ralph Browns bekanntester Film. So einfach ist es, scheint mir dieser simple und gerade deshalb effektive Anfang zu suggerieren: eine Münze genügt und schon beginnt der Laden zu laufen, ob es nun ein Italo-Schocker wie der vorliegende ist oder alles andere, wozu Menschen, und daher zwangsläufig Geld, notwendig sind. Ein bisschen erinnert das Ganze mich zudem an Alberto Cavallones Jahre später entstandenes Meisterwerk BLUE MOVIE, nicht nur weil in dessen Prolog ebenfalls ein ironisch-witziger Kommentar auf die moderne Industriegesellschaft untergebracht ist, wenn zu Musik von Bach aus einem Autoradio geschrien wird, als befände man sich auf einem Marktplatz und müsse noch die frömmste Kantate als konsumier- und vor allem erwerbbare Ware anpreisen, sondern vor allem auch, weil beide Filme mitten im Dunstkreis von Vergewaltigung und Mord anfangen, denen eine junge, hübsche Dame ausgesetzt ist. In DELIRIO CALDO handelt es sich dabei um die Besitzerin der beiden oben erwähnten Beine, die ein Date in einem Nachtclub wahrnehmen möchte, und dabei leider an den Falschen, d.h. einen gewissen Dr. Herbert Lyutak gerät, der sich schon in den ersten Filmminuten als grimassierender Irrer entpuppt, von dem die unschuldige Jungfer keine kostenlose Fahrt zu ihrem Partyvergnügen erwarten darf, sondern stattdessen unter einem Wasserfall erst ihrer Kleider, dann ihres Lebens beraubt wird, nachdem während ihrer gemeinsamen Autofahrt, bei der die Dirne mehr und mehr realisiert, dass sie nicht in die Hände eines Menschenfreundes gefallen ist, eine äußerst deplatzierte, an sich jedoch durchaus ergreifende Schmachtmusik ertönte. Ein, sofern man von solchen Bildern nicht nachhaltig in seiner Moral erschüttert wird, großartiger Auftakt für einen Film, dessen Deklarierung als Trash ich nun überhaupt nicht nachvollziehen kann, erweist sich Polselli für mich doch, wie ich gleich näher ausführen werde, als ein Regisseur, der seine sieben, acht oder neun Sinne durchaus beisammen hat, selbst wenn er sie manchmal zu ausschweifenden Spazierritten aus ihren Ställen lässt.

Zum einen widerspricht es meiner persönlichen Definition von Trash, dass Polselli, wie auch später bei seinem wesentlich wirreren RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO, erneut motivisch und thematisch auf seine beiden frühen Horrorfilme, L’AMANTE DEL VAMPIRO und IL MOSTRO DELL’OPERA, zurückgreift. Ob das nun mit einer bewussten Entscheidung zu tun hat, die wesentlichen Elementen seines Frühwerks etwa eine Dekade später in einen neuen, nämlich von psychedelischer Rauschästhetik beherrschten Kontext zu versetzen, oder ob es sich bei solchen Dingen wie ihre Beteiligten physisch und psychisch zuschanden machenden, sadomasochistischen Liebesbeziehungen, Folterkellern voller Ketten, mit denen nackte Frauen rasseln oder aber ausgewalzten Szenen voller ungewöhnlichem, für den Kleinbürger sicherlich perversem Sex einfach um Grundmuster handelt, auf die Polselli aus einem inneren Zwang heraus immer wieder zurückgreifen muss, so wie Dalí zeitlebens nicht von seinen Stelzbeinelefanten loskam oder Monet noch im hohen Alter seine geliebten Seerosen malte, macht für mich keinen Unterschied: für mich ist Polselli eindeutig ein Auteur, der eine ihm eigene künstlerische Handschrift besitzt, mit der er die gleichen Themen fortwährend neu beschreibt. Es lohnt sich kaum, aufzuzählen, was von dem hier versammelten Treiben schon alles in den beiden Schauerfilmvorgängern vereint ist, angefangen von einem Wasserfall, in dessen unmittelbarer Nähe ein Mädchen sterben muss, über bellende Hunde und finstere Verließe bis hin zu mehr oder minder ulkigen, in DELIRIO CALDO aber immerhin äußerst dezenten, da einzig auf eine Person, nämlich die des unschuldig verdächtigten Nachtclubparkhauswächters, konzentrierten Comedy-Einlagen, die so gar nicht zu dem sonst eher wahlweise grimmigen und/oder aufgegeilten Ton passen wollen. DELIRIO CALDO wiederum bleibt von Polsellis Selbstverwertungs- und Selbstverdauungstaktik am Ende ebenso wenig verschont wie die beiden zuvor gedrehten Horrorfilme, wenn er in seinem Folgewerk, dem bereits erwähnten RITI etc., größtenteils exakt die gleichen Schauspieler verwendet, jedoch in Rollen, die denen, die sie in DELIRIO CALDO innehaben, verblüffend entgegengesetzt sind. Ein selbstironisches Spiel erkenne ich da, ein Jonglieren mit Zitaten, das einen daran erinnert: seit die Kunst die Moderne überwunden und sich in der Postmoderne wiedergefunden hat, ist es mit originären Schöpfungen genauso wie mit allen übrigen Illusionen, nämlich nicht mehr weit her.

Andererseits würde ich DELIRIO CALDO nicht als Giallo bezeichnen, zumindest nicht als klassischen, höchstens als Meta-Giallo, oder vielleicht am besten als einen Experimentalfilm, der sich gewisser dem Giallo-Genre entlehnter Topoi bedient, wie den obligatorischen schwarzen Handschuhe beispielweise, oder dem Umstand, dass ein Unschuldiger sich von dem Verdacht, ein Killer zu sein, reinzuwaschen versucht, indem er auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, oder die ästhetischen Sterbeszenen, für die ausschließlich dem gängigen Schönheitsideal der westlichen Welt entsprechende Damen herhalten dürfen. Aus diesen Versatzstücken zimmert Polselli dann aber etwas Eigenes, einmal mehr einen Film, der, wie seine Frühwerke, auf eine logische Storyentwicklung verzichtet – obwohl DELIRIO CALDO natürlich noch weitaus kohärenter ist als RITI, MAGIE NERE etc., immerhin würde ich mir zutrauen, bei dem vorliegenden Film eine einigermaßen zusammenhängende Inhaltsangabe zu erstellen, was bei letzterem wohl ein Ding der Unmöglichkeit bleiben muss, will man sich nicht in die pure Abstraktion flüchten -, und stattdessen über eine teilweise wirklich atemberaubende Bildsprache – man denke an die wirklich zum Gruseln einladende Telefonzellenmordszene, bei der ein hilfloses Mädchen mit ansehen muss, wie sich ihr Mörder, der ein reiner Schatten zu sein scheint, im Schneckentempo nähert -, eine oftmals unkonventionelle Montage, die den Film im Grunde genauso in seine Einzelteile zerschneidet wie es den jungen Damen widerfährt, und eine sehr irritierende akustische Ebene funktioniert, wenn eine Szene wie die, in der Lyutaks Eheweib eine ominöse Schatulle findet, in der eindeutige Beweise dafür versteckt sind, dass ihr Gatte in seiner Freizeit halbwüchsige Mädchen schlitzt, eben nicht mit spannenden Klängen, sondern einem romantischen Klavierstück unterlegt wird – (überhaupt: der gesamte Score eines gewissen und mir bislang völlig unbekannten Gianfranco Reverberi ist es wert, gehört zu werden). Nein, mit Trash hat das alles für mich, der ich indes (noch) nicht die deutsche Synchronfassung kenne, die, nach all dem, was man hier so liest, ja tatsächlich zum Schießen sein muss, nichts zu tun, viel eher fällt auch Polselli mit von der biederen Kritik abgefeuerter Kugel in Herz oder Hirn in eine Reihe mit Regisseuren wie Alberto Cavallone, Jean Rollin, Walerian Borowczyk, Romano Scavolini etc., die allein deshalb, weil sie ihre intellektuelle Pose nicht offensiv nach außen kehren und thematisch und ästhetisch sich nicht scheuen, in eher zwielichtig betrachteten Genres zu wildern, noch immer ungerechtfertigterweise ihr Dasein, wenn überhaupt, in den Schmuddelecken der Videotheken fristen müssen.
purgatorio
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von purgatorio »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:Ein, sofern man von solchen Bildern nicht nachhaltig in seiner Moral erschüttert wird, großartiger Auftakt für einen Film, dessen Deklarierung als Trash ich nun überhaupt nicht nachvollziehen kann, erweist sich Polselli für mich doch, wie ich gleich näher ausführen werde, als ein Regisseur, der seine sieben, acht oder neun Sinne durchaus beisammen hat, selbst wenn er sie manchmal zu ausschweifenden Spazierritten aus ihren Ställen lässt.
:lol: :lol: :lol:
ich liebe deine Texte! Abermals toll, danke!
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
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Salvatore Baccaro
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

purgatorio hat geschrieben:ich liebe deine Texte!
Ach, Ach... Danke. :oops:
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horror1966
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von horror1966 »

Das Grauen kommt nachts
(Delirio Caldo)
mit Mickey Hargitay, Rita Calderoni, Raul Lovecchio, Carmen Young, Christa Barrymore, Tano Cimarosa, Marcello Bonini Olas, Katia Cardinali, William Darni, Max Dorian, Stefania Fassio, Stefano Oppedisano, Cristina Perrier
Regie: Renato Polselli
Drehbuch: Renato Polselli
Kamera: Ugo Brunelli
Musik: Gianfranco Reverberi
ungeprüft
Italien / 1972

Nach dem Mord an einer jungen Frau verdächtigt die Polizei den Kriminalpsychologen Dr. Herbert Lyutak. Dieser gesteht den Mord auch seiner Frau und gibt als Grund seine Frustration über Potenzprobleme an, doch dann geschehen weitere Morde, an denen Lyutak unmöglich beteilgt gewesen sein kann. Inspektor Edwards steht vor einem Rätsel: Versucht etwa jemand, den Fokus der Ermittlungen von Lyutak wegzulenken?


"Ich bin's, der Kartoffel"


Diese läppischen vier Worte sind wohl mit zu den prägendsten Film-Zitaten zu zählen, die je in einem filmischen Werk ausgesprochen wurden. Gleichzeitig deuten sie auch an, das man Renato Polselli's Gialli aus dem Jahr 1972 wohl mit vollkommen anderen Maßstäben messen sollte, als dies im Normalfall bei anderen Genre-Kollegen der Fall ist. Wer hier nämlich auf die üblichen Zutaten wie Spannung, brutale Morde oder auch die Suche nach den Motiven des Mörders hofft wird wohl eher eine ziemliche Enttäuschung erleben, denn "Das Grauen kommt nachts" besticht vielmehr durch ganz andere Atribute, die man als Fan des italienischen Sub-Genres nicht unbedingt erwartet. Rein filmisch gesehen handelt es sich hier nämlich um einen ziemlichen Rohrkrepierer, denn Polselli schien ganz offensichtlich nicht das Gespür zu haben, hier einen stimmigen-und atmosphärischen Vertreter seiner Art in Szene zu setzen. Sicher, die Grundlagen des Gialli sind durchaus vorhanden, es ist vielmehr die skurrile Umsetzung der Geschichte, die beim Zuschauer eher zwiespältige Gefühle aufkommen lässt. Da wäre an erster Stelle wohl der extrem sprunghafte Plot zu nennen, denn die Story erscheint doch an unzähligen Stellen seltsam wirr und wild zusammen gestückelt. In etlichen Passagen vermisst man dann auch echte Zusammenhänge und viele Szenen scheinen sehr willkürlich aneinandergereiht, so das phasenweise schon vielmehr ein bizarrer Trip anstelle eines gut strukturierten Filmes in Erscheinung tritt.

"Delirium" ist einer der Alternativtitel dieses grotesken Werkes und in einem solchen vermeint man sich auch des Öfteren zu befinden. Doch auch wenn sich das jetzt alles äußerst negativ anhört, bezieht die Story gerade aus diesen Aspekten ihren ganz besonderen Reiz und dürfte wohl zu den ungewöhnlichsten im Bereich des italienischen Gialli zählen. Mit einer ordentlichen Portion Sleaze versucht Polselli unzählige Mankos zu überdecken, was ihm jedoch nur recht dürftig gelingt. Stattdessen offenbart sich ein wirres Szenario, das aufgrund seinem extrem hohen Anteil an unfreiwilliger Komik definitiv den puren Trash darstellt und so für den geneigten Liebhaber dieser Filmart ein wahres Spektakel darstellen dürfte. Es ist ganz einfach eine echte Pracht, den unbeholfen agierenden Darstellern bei ihrem Schauspiel zuzuschauen, das von dermaßen viel Theatralik durchzogen ist, das einem manchmal fast schon die Lachtränen in die Augen schießen. Die deutsche Synchronisation des Filmes dürfte eines der ganz großen Highlights sein, denn durch sie bekommt man doch so manchen Dialog geboten, der sich wie ein nicht mehr zu entfernendes Brandzeichen im Gedächtnis des Betrachters einbrennt. Die unbeholfenen und hölzernen Performances der Akteure wären unter Berücksichtigung normaler Umstände als vernichtend einzustufen, doch aus der Sicht des puren Italo-Trashs ergibt sich vielmehr eine weitere Zutat, die absolut perfekt in das äußerst skurrile Gesamtbild passt.

In diesem Film wird dermaßen viel verbaler Nonsens abgesondert das man sich so manches Mal den Bauch vor lauter lachen halten muss. Als wenn das nicht schon genug wäre, wimmelt es zudem noch vor diversen Anschlussfehlern in etlichen Szenen (Opfer werden nackt gezeigt und tragen in der nächsten Sekunde wieder Kleidung, wobei dieser Punkt eventuell der Tatsache geschuldet ist, das ja immerhin vier verschiedene Versionen dieses Werkes existieren, die übrigens alle auf der Veröffentlichung des Labels FilmArt enthalten sind. Nach den bisher schon aufgezählten Punkten kann man sich ganz bestimmt denken, das auch im Bereich der Logik nicht viel erwartet werden darf und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, das die Protagonisten in den meisten Fällen durch kaum nachvollziehbare Handlungsweisen brillieren. Zu guter letzt sollte man auch nicht ganz unerwähnt lassen, das man in "Das Grauen kommt nachts" mit sämtlichen Modesünden der damaligen Zeit konfrontiert wird, wobei sich insbesondere der ermittelnde Inspektor immer wieder in den Vordergrund rückt. Knallbunte Hemden sind nämlich sein Markenzeichen und die Farbzusammenstellung seiner Oberteile ist so grell, das es einem fast schon in den Augen schmerzt. Man merkt also, das man bei der Vorstellung dieses Filmes noch stundenlang weiter schreiben könnte, dabei aber auf keinen Fall die üblichen Aspekte eines Gialli beleuchtet, da diese in vorliegendem Szenario wirklich eher als nebensächlich einzustufen sind.

Letztendlich dürfte Polselli's Werk ganz stark die Meinungen spalten, denn als ernst zu nehmender Beitrag des italienischen Sub-Genres ist "Das Grauen kommt nachts" schwerlich einzustufen. Von dieser Warte aus gesehen dürfte eine Bewertung dann auch eher relativ vernichtend ausfallen, wohingegen aus der Sicht eines Trash-Liebhabers ein wahres Spektakel vorliegt. Ehrlich gesagt hätte ich es nie für möglich gehalten, einen so dermaßen skurrilen Gialli zu Gesicht zu bekommen, den man ausschließlich nach dem reinen Unterhaltungswert bewerten sollte. In allen anderen Belangen versagt das Szenario nämlich fast auf der ganzen Linie, doch selten wurde man bei einem filmischen Rohrkrepierer so kurzweilig und grotesk unterhalten.


Fazit:


"Das Grauen kommt nachts" hat nicht umsonst einen skurrilen Kultstatus inne, denn von dieser Seite aus gesehen dürfte es relativ schwer sein, diese filmische Offenbarung zu toppen. Für echte Spannung und eine schwer zu durchschauende Mördersuche sollte man allerdings zu anderen Genre-Vertretern greifen, denn in vorliegendem Fall weiß man schon sehr frühzeitig, in welche Richtung das Ganze im Endeffekt abzielt.


als Gialli 3/10

als purer Italo-Trash 9/10
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Arkadin
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Arkadin »

Dr. Herbert Lyutak (Mickey Hargitay) ist ein Serienkiller, der versucht junge Mädchen zu vergewaltigen, und sie dann umbringt. Gleichzeitig arbeitet der Psychiater aber auch eng mit der Polizei zusammen, die vergeblich versucht die Morde aufzuklären. Als eines Tages ein Mord geschieht, der nicht auf Lyutaks Konto gehen, versucht er auf eigene Faust herauszufinden, wer dahinter steckt.Dabei dreht sich die Spirale von Mord und Wahnsinn immer schneller…

„Heißes Delirium“ würde der italienische Originaltitel übersetzt heiße. Der deutsche Titel lautet etwas irreleitend „Das Grauen kommt nachts“. „Heißes Delirium“ trifft es aber besser. Denn im Delirium dürfte sich so mancher Zuschauer nach diesem Erlebnis fühlen. Es ist auch etwas schwer, eine Kritik zu Renato Polsellis Werk zu verfassen, denn dazu muss man eine gewollte Objektivität ablegen und versuchen, dem werten Leser ein Gefühl davon zu vermitteln, was der Film mit einem macht. Wer es nicht schafft, in den Rausch, den Film auslösen kann, einzutauchen, lustvoll zu delirieren und sich einfach vom überbordenden Wahnsinn mitreißen zu lassen, der wird nur kopfschüttelnd davor stehen und diejenigen, die von „Das Grauen kommt nachts“ so begeistert schwärmen, als arme Irre („Ich liebe Dich, aber ich bin ein impotenter Irrer!“) abstempeln. Er wird nur die abstruse, zum Teil hoffnungslos unlogische Handlung sehen, ohne sich an ihrer Bizarrheit („Ich bin’s. Der Kartoffel“) erfreuen zu können. Mickey Hargitays hemmungsloses Grimassieren („Ich haben einen instinktiven Verdacht metaphysischen Charakters“) wird diesem Zuschauer wahrscheinlich ebenso sauer aufstoßen, wie die enervierenden „Marzia!“-Rufe am Ende des Filmes. Er wird es nicht als Ausdruck des Irrsinns, der von der Leinwand auf den sich dem Film bedingungslos öffnenden Enthusiasten ergießt, wahrnehmen können. Polselli zeigt eine andere Welt, einen anderen Film. Eine in der das Delirium regiert und die Akteure nicht mehr aus seinen Krallen entlässt.

Der Film erschien Anfang der 80er Jahre bei einem obskuren Video-Kleinstlabel, welches wohl auch die Synchronisation in Auftrag gab. Da augenscheinlich nicht viel Geld zur Verfügung stand, muss hier der billigste Anbieter genommen worden sein. Die Synchronisation klingt zu keinem Zeitpunkt so, als wüssten die Verantwortlichen, was und wie sie das da eigentlich vertonen sollten. Die Dialogen scheinen zum Teil so wortwörtlich aus dem Italienischen übersetzt worden zu sein, so dass sie, in die deutsche Sprache überführt, ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben und dafür nun zu holprigen Seltsamkeiten verkommen sind, die auf ihre Art und Weise dann fast schon wieder wie ein poetisches Dada-Gedicht klingen. Hinzu kommen Sprecher, die zwischen Hysterie und Apathie oszillieren und keine Zwischentöne zu kennen scheinen. Doch dieses nur scheinbare Manko potenziert den seltsam ausserweltlichen Effekt des Filmes noch. Insbesondere der Sprecher des Dr. Lyutak, der etliche Jahre älter klingt als die Figur, deklamiert seine Sätze mit dem Charme einer leiernden Schallplatte, die zu langsam abgespielt wird. Doch auf eine seltsame Art und Weise passt es. Wenn Mickey Hargitay sich wie wild durch das Gesicht fährt und dabei nicht das manische Geschrei der italienischen Originaltonspur, sondern die melancholisch-monotone Synchronstimme erklingt, hat dies einen Verfremdungseffekt, den viele avantgardistische Regisseure suchen, und der hier ganz zufällig gefunden wird.

Polsellis Film macht vielen falsch, aber dabei alles richtig. Lange Zeit glaubte ich, dass die Handlung keinen Sinn machen und nur Vorwand für möglichst viel nackte Haut und grimassierende Schauspieler liefern würde. Nun, beim vierten oder fünften Mal, dass ich diesen Film sehe, habe ich plötzlich den roten Faden entdeckt und festgestellt, dass mein erster Gedanke falsch war. Tatsächlich gibt es eine nachvollziehbare und – in den Grenzen des Genres – sogar logische Handlung. Nur ist diese unter meterdickem Irrsinn verborgen (und auch die „ungewöhnliche“ Synchronisation führt einen hier und dort auf die falsche Spur). Polselli packt einfach viel zu viel Fleisch auf sein Handlungsgerüst, so das dieses also solches kaum noch wahrnehmbar ist. Seien es Mickey Hargitays enthusiastische Darbietung, die knalligen Farben und freizügigen Traumsequenzen oder der lustige Kartoffel, aufdreht wie eine Louis-de-Funes-Imitation der B-Klasse. Dann sind da die Morde und die sich wie im Fieberwahn drehende, völlig unberechenbare Kamera. Und selbstverständlich diese unglaublichen Figuren, die immer agieren, als würden sie sich in einer nur ihnen bekannten, für alle anderen nicht sichtbaren, Realität bewegen.

Und dann gibt es auch noch Rita Calderoni. Wahrscheinlich ist sie im traditionellen Sinn eine schlechte Schauspielerin, aber bei Gott, sie ist eine begnadete Darstellerin. Sie umweht eine spezielle Aura, die man nicht in Wort fassen kann. Würde man es tun, hörte es sich wahrscheinlich platt und hilflos an. Sie ist nicht göttlich schön wie Edwige Fenech, nicht von dieser unbedingten Präsenz wie Barbara Steele. Aber sie umweht eine ihr ganz eigene, kummervolle Erotik. Sie ist die Frau mit der man schlafen will, obwohl man weiß, dass es ein Fehler ist, weil sie voller Probleme und trauriger Geschichten steckt. Diesen Effekt wusste Polselli nicht nur hier zu nutzen, er verströmt auch in seinen anderen Werken, in welchen er Rita Calderoni immer wieder einsetzte. Und auch bei anderen Regisseuren brachte sie diese spezielle Qualität mit. Wenn sie in “Nuda per Satana” von Luigi Batzella, in einem Spinnenetz hängt und von einer schlecht getricksten Plüschspinne angegriffen wird, behält sie trotzdem noch diese melancholisch-würdevolle Haltung.

Meine erste Erfahrung mit „Das Grauen kommt nachts“ machte ich irgendwann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Mangels allgegenwärtiger Verfügbarkeit obskurer Filme, verabredete man sich im damals noch jungen Internet in Newsgroups (Foren in der heutigen Form gab es noch nicht) oder in Mailinglisten, um untereinander Videotapes zu tauschen. Eines Tages fiel mir auf diese Weise auch „Das Grauen kommt nachts“ in die Hände. Es war eine Kopie der wasweißichwievielten Generation. Die Bildqualität war dementsprechend und bei einer Szene rätselte ich lange, ob ich sie nur nicht verstand, weil das Bild so schlecht war, und ich nicht wirklich sehen konnte, was vor sich ging, oder weil sie einfach keinen Sinn machte. Auf jeden Fall faszinierte mich dieser seltsame Film augenblicklich. Bald schon fand ich heraus, dass es unterschiedliche Versionen des Filmes gab und tatsächlich stolperte ich schon bald ein anderes Tape, auf dem sich eine Fassung befand, die sich in einigen Szenen deutlich von der mir bekannten unterschied. Z.B. durch den Anfang, der plötzlich in Vietnam spielte. Leider hatte auch diese Version eine lausige Bildqualität und die oben gestellte Frage nach dieser bestimmten Szene stellte sich mir noch immer. Jahre später ließ mir ein guter Mann eine Kopie der US-DVD zukommen und erstmals erstrahlte der Film in seinem ganzen Glanz (auch wenn man auf die surreale deutsche Tonspur verzichten musste). Auch das Rätsel wurde gelüftet. Es lag einerseits am schlechten Bild, andererseits schaut in dieser Szene jemand durch eine löchrige Wand und kann auch nichts erkennen. Als nun filmArt eine deutsche DVD ankündigte, war dies nicht nur für mich ein Grund für uneingeschränkte Euphorie, die sich bei der Aussicht auf gleich vier verschiedene Schnittfassungen zur Ekstase wandelte.

„Das Grauen kommt nachts“ ist kein Film für jedermann. Die einen werden ihn als langweiligen und unglaublich schlecht gemachten Müll abtun. Andere werden sich über den Film und seine offensichtlichen Unzulänglichkeiten schief lachen, um ihn anschließend als „Trash“ abzufeiern. Und dann gibt es noch die, denen sich seine somnambule Seltsamkeit ins Herz schleicht. Für diese stellt diese perfekte Edition ein wahres Schatzkästchen dar.

Als Freund des Filmes „Das Grauen kommt nachts“, muss man filmArt für diese Doppel-DVD zu tiefem Dank verpflichtet sein. Diese kommt nämlich gleich mit vier (!) unterschiedlichen Fassungen daher. Wer sich in der Vergangenheit mit „Das Grauen kommt nachts“ beschäftigt hat, weiß sicherlich, dass der Film immer wieder in anderer Form aufgetaucht ist, was seinen Mythos nur noch verstärkt hat. Die erste Scheibe enthält die Hauptfassung, also quasi den „Director’s Cut“. Es ist der Film, wie er damals in Italien veröffentlicht wurde, d.h. ohne Vietnam-Bezüge. Diese Fassung läuft 97:34 Minuten und besitzt ein wunderbar klares und farbintensives Bild. So gut hat man den Film – zumindest in Deutschland – bisher nicht zu Gesicht bekommen. Ferner wird diese Scheibe noch um die sogenannte „Sex-Fassung“ (93:41 Minuten) ergänzt. Um Gerüchten, die im Internet herumschwirren, gleich den gar aus zu machen: Dies ist keine Hardcore-Variante. Es werden alternative Szene aus einer sehr schlechten Quelle (scheinbar von einem bereits häufig kopierten VHS-Tape) hineingeschnitten. Der auffälligste Unterschied ist der Mord Miss Heindrich, der hier gänzlich anders und sehr viel offenherziger vollzogen wird. Auf der zweiten Scheibe befindet sich die deutsche Langfassung. Dies ist im Grunde die italienische Fassung mit dem Vietnam-Vorspann und einem anderen Ende (99:23Minuten). Die deutsche Kurzfassung (79:01 Minuten) besitzt auch den Vietnam-Vorspann, ist aber massiv gekürzt. Als quasi fünfte Version findet man auch der Scheibe noch die Szenen, die nur in der US-Fassung vorkommen. Diese laufen zusammen knapp eine halbe Stunde und haben es in sich. So gibt es nur hier zwei zusätzliche Morde, die in keiner anderen Fassung vorkommen. Eine dieser Szenen ist komplett neu, in der anderen nimmt eine bereits bekannte Sequenz einen gänzlich anderen, mörderischen Ausgang. Ferner gibt es es noch weitere zum Teil drastische Abweichungen von der italienischen Fassung und auch das Ende ist neu. Die Szenen liegen in exzellenter Qualität vor, daher finde ich es sehr schade, dass die US-Fassung nicht komplett auf der Scheibe ist. Ich hätte dies besser gefunden als die zusammengestückelte Sex-Fassung – aber Sex verkauft sich eben besser. Neben diesen vielen Fassungen hat es auch das Special „The Theorem of Delirium” von der US-DVD auf diese Veröffentlichung geschafft. Hier gibt es knappe 15 Minuten lang Interviews mit Renato Polselli und Mickey Hargitay. Ein weiteres Highlight ist der hervorragende Audiokommentar von Christian Keßler und Pele Felsch, der die italienische Fassung begleitet. Besonders schön: Christians überschäumende Begeisterung, als er das erste Mal das Ende dieser Version sieht. Desweiteren gibt es als PDF noch einen Fotoroman des Filmes. Wie immer ist auch wieder ein ausführliches Booklet dabei. Geschrieben von Heiko Hartmann, der am Ende Christian Keßler und Ivo Ritzer dankt, deren sehr speziellen und unterschiedlichen Schreibstile er in seinem Booklet zusammenführen möchte. Ob ihm dies gelungen ist, mag jeder selber entscheiden. Mir hat dieser Schreibstil überhaupt nicht zugesagt, auch wenn eine Menge Informationen zum Film untergebracht wurden.

Screenshots: http://www.filmforum-bremen.de/2014/05/ ... mt-nachts/
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Dick Cockboner »

Wundervoll bekloppter Film!
Meine erste Begegnung hatte ich Anfang der 90er und war bass erstaunt über soviel Irrsinn(der stand damals ganz unten,direkt neben "Krieg der Roboter" von Alfonso Brescia in der Videothek,hab beide am selben Tag mitgenommen... :thup: )
Gibt es wirklich Menschen die SOWAS drehen,gibt es wirklich Menschen die sowas anschauen?
Antwort:Ja! &Ja!
Die DVD ist wirklich ganz famos!
...aber...,
der Audiokommentar,der Audiokommentar.
Der ist,leider,nur so mittelprächtig.
Keßler/Felsch plaudern zwar ganz nett daher,aber verlieren sich (etwas) zu oft im bloßen "beömmeln" über jeden belanglosen Pipifax.
Richtig gut (und bei anderen Audio-Kommentaren würde ich sowas hassen) ist allerdings das die beiden mal ebenso nebenbei noch das (fast) gesamte filmische Werk Polsellis durchrattern.
Die (fast) nicht Verfügbarkeit von Polsellis Schaffen ist eine Schande.
Vor etlichen Jahren konnte ich mal "Oscenita" & "Langer Titel mit sesso am Ende" bei ebay fürn Appel & n Ei kaufen
(IT VHS)und das sind auch ganz bemerkenswerte Stücke filmischer Durchgedrehtheit.
Fazit:geile DVD,Polselli is super,Cimarosa is noch superer & KeßlerFelsch sind die leicht überhitzte audiokommentierung eines Klassikers jenseits von gut und normal(ich relativiere das jetzt nochmal etwas-man merkt in jeder Sekunde das beide Fans vom bekloppten Anderthalbstünder sind-und das ist toll)
PS:Rita C.,Du bist molto bene.Chiamami!
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Gestern beim Weird Xperience mit Arkschi, Karlschi und Bonpenschi gesichtet. Die übrigen Zuschauer schienen den Film vorher nicht gekannt sein, aber dem Charme von Herbert, Marcia, dem Kartoffel und der deutschen Synchro kann sich niemand entziehen. Ein Festival der guten Laune!
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Canisius
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Canisius »

ugo-piazza hat geschrieben:Gestern beim Weird Xperience mit Arkschi, Karlschi und Bonpenschi gesichtet. Die übrigen Zuschauer schienen den Film vorher nicht gekannt sein, aber dem Charme von Herbert, Marcia, dem Kartoffel und der deutschen Synchro kann sich niemand entziehen. Ein Festival der guten Laune!
Klingt nach einem gelungenen Abend! Ich hatte überlegt, nach Bremen zu fahren. Hätte ich mich mal dazu durchgerungen... :)

Nochmal zum Film an sich: ich finde auch, dass der trashige und humoristische Charakter deutlich mit der deutschen Synchro zu tun hat. Hargitays eingeschränkte Mimik und hölzerne Schauspielkunst tragen weiterhin zu einigen unfreiwillig-komischen Szenen bei.
Allerdings hatte ich vor Jahren bei der englischsprachigen Fassung das Gefühl, dass diese wesentlich ernster und weniger trashig rüberkam. Irgendwie hat "Delirio Caldo" in Deutschland diesen Ruf der trashigste und lustigste Giallo überhaupt zu sein, was ich ein bisschen unfair finde. :nick:
„Ist es denn schade um diesen Strohhalm, Du Hampelmann?“
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Arkadin
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Re: Das Grauen kommt nachts - Renato Polselli (1972)

Beitrag von Arkadin »

Canisius hat geschrieben: Ich hatte überlegt, nach Bremen zu fahren. Hätte ich mich mal dazu durchgerungen... :)
Hättest du das mal gemacht. Wir können ejden Zuschauer gebrauchen.

War ein wirklich toller Abend, Karlschi und ich waren zufrieden.

Ich habe mal in die italienische Fassung reingeschaut und die ist auch sehr viel "ernsthafter". Vor allem kann man da die Musik und die Geräusche richtig hören. Gerade der Soundtrack ist ja in der dt. Fassung so leise, dass man ihn gar nicht mitbekommt.
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