Wo in Paris die Sonne aufgeht - Jacques Audiard (2021)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 2992
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Wo in Paris die Sonne aufgeht - Jacques Audiard (2021)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

2a6a4cd9a4e640db2d47fa28ae8dec243b306d32.jpg
2a6a4cd9a4e640db2d47fa28ae8dec243b306d32.jpg (299.4 KiB) 339 mal betrachtet

Originaltitel: Les Olympiades

Produktionsland: Frankreich 2021

Regie: Jacques Audiard

Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth


Mein persönlicher Höhepunkt des diesjährigen Braunschweiger Filmfests ist, wider Erwarten, nicht etwa das Stummfilm-Livekonzert mit der restaurierten Originalmusik zu Paul Wegeners DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM und auch nicht meine Erstsichtung von Marcell Jankovics FEHERLOFIA auf großer Leinwand und auch nicht, dass ich Nikos Nikolaidis‘ Affront gegen das klassische Hollywood-Kino SINGAPORE SLING einführen durfte. Mein persönlicher Höhepunkt stellt vielmehr ein französischer Liebesfilm dar, in den ich mich ohne nennenswerte Erwartungen gesetzt hatte: LES OLYMPIADES von Jacques Audriard, der in Deutschland voraussichtlich nächsten Februar unter dem irreführenden (und wahrlich irrsinnigen!) Titel WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT in die Kinos gelangen wird.

Nachdem ihre Großmutter wegen einer Alzheimererkrankung in einem Pflegeheim untergebracht worden ist, bezieht Enkelin Émilie deren Wohnung in einem der Hochhäuser des 13. Pariser Arrondissements, „Les Olympiades“ genannt. Ihr Geld verdient sich die junge Frau in einer Call-Center-Agentur, wo sie Menschen überteuerte und/oder mit Winkelzügen versehene Tarifverträge aufschwatzt. Da es für Émilie abzusehen ist, dass sie in naher Zukunft entweder a) wegen ihres zunehmend unfreundlichen Umgangs mit den Kunden gefeuert werden wird, oder b) nicht anders kann, als von allein das Handtuch dieses freudlosen Jobs zu werfen, geht sie auf die Suche nach einer Mitbewohnerin. Anfangs weist sie Camille, den sie aufgrund seines Namens zuerst für eine Frau hält, ab: Ein Typ, nein danke! Schließlich findet sie den Doktoranden in Literaturwissenschaften doch sympathisch genug, dass sie ihn in das freie Zimmer ziehen lässt. Eine Woche lang haben die beiden innigen und leidenschaftlichen Sex, - dann erklärt ihr Camille, dass er glaube, Émilie habe sich in ihn verliebt, dass er hingegen nicht bereit für eine Beziehung sei, und dass er es daher gut fände, wenn sie im Sinne eines harmonischen WG-Lebens erstmal Finger und Geschlechtsteile voneinander ließen. Émilie, die tatsächlich ihr Herz an Camille verloren hat, fällt in ein tiefes Loch, in dem sowohl MDMA-Trips wie auch herbe Eifersuchtsattacken auf sie warten.

Die Schwarzweißbilder, die ich im Vorfeld im Festivaltrailer und im Festivalkatalog zu Gesicht bekam, erinnerten mich an Philippe Garrel. Auch die kursorische Inhaltsangabe, dass LES OLYMPIADES sich um eine vertrackte Ménage-à-trois ranken soll, weckten Assoziationen zu den Filmen eines meiner Lieblingsregisseure, in denen seit geraumer Zeit ja ebenfalls immer wieder die komplizierten Beziehungsgeflechte junger Pariser im Mittelpunkt stehen. Zugleich musste ich bei einem scheinbar intellektuell angehauchten französischen Herzschmerzfilm natürlich an Eric Rohmer denken: Wahrscheinlich reden die drei Hauptfiguren in LES OLYMPIADES am Küchentisch rauchend permanent über ihre Gefühle, schlafen zwischendurch miteinander, gehen irgendwann auseinander, raufen sich irgendwann wieder zusammen. Wäre LES OLYMPIADES ein Rohmer-Aufguss im 21. Jahrhundert, eingepackt in die wunderschöne Schwarzweißphotographie eines Garrel, hätte ich den Kinosaal wahrscheinlich schon weitgehend befriedigt verlassen. Tatsächlich sind beide Referenzen gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt: Ja, LES OLYMPIADES kreist um die Emotionen seiner Protagonisten Émilie, Camille und Nora, als würden sie eine ganze Welt bedeuten, und ja, es gibt viele Dialoge und viel Sex, und, ja, die Bilder sind erlesen, die Bildkompositionen exquisit, das Erzähltempo ruhig, unaufgeregt – und zugleich ist der Film viel mehr als Pastiche, viel mehr als aufgewärmter Tee, viel mehr als der Transfer einer bestimmten französischen Kinotradition, die wie keine andere für das Label "Arthouse" steht, ins Jahr 2021, - nämlich einer der schönsten Filme über Liebe, Lust und Leben, die mir in den letzten Jahren begegnet sind.

Nora ist bei ihrem angeheirateten Onkel aufgewachsen, für dessen Immobilienbüro sie arbeitet und mit dem sie jahrelang ein sexuelles Verhältnis hat. Ihr Befreiungsschlag besteht in einem radikalen Orts- und Berufswechsel: Nora schreibt sich an der Sorbonne für ein Jurastudium an, nabelt sich ab von der toxischen Beziehung zu ihrem Onkel, sucht neue Freunde im Uni-Umfeld. Für die Erstsemesterparty wirft sie sich besonders in Schale – inklusive einer blonden Perücke, die ihr zum Verhängnis werden wird, denn mit dieser sieht sie dem Cam-Girl Amber Sweet zum Verwechseln ähnelt, das einem ihrer Kommilitonen einen feucht-fröhlichen Geburtstag beschert hat. Bald kursiert das Gerücht, Nora sei eben besagter Internet-Pornostar – und ihr Studium wird für sie zum Spießrutenlauf. Wegen des anhaltenden Cyber-Mobbings wagt sie es irgendwann nicht mehr, ihre Seminare zu besuchen, verfällt in Depressionen, bewirbt sich spontan bei einem Immobilienbüro um die Ecke. Dessen Leiter, Camille, ist eigentlich Doktorand für Literaturwissenschaft, lässt seine Promotion aber gerade schleifen und versucht, die eigene Sinnkrise dadurch zu überwinden, dass er für einen befreundeten Makler dessen Laden unter die Fittiche nimmt, obwohl er nicht die geringste Ahnung vom Handel mit Häusern und Wohnungen hat. Anfangs begegnen sich Nora und Camille distanziert, aber freundschaftlich, schließlich wird ihre Beziehung intimer. Zugleich aber beginnt Nora, zur echten Amber Sweet Kontakt aufzunehmen – erst als zahlende Kundin ihrer Internet-Dildoshow, dann auch im privaten Rahmen, wo die beiden Frauen sich alsbald per Videochat beim gegenseitigen Einschlafen und gemeinsamen Aufwachen begleiten.

LES OLYMPIADES besitzt durchaus witzige Momente – wenn Émilie sich im Drogenrausch an Camilles neue Freundin heranwirft; wenn Camilles kleine Schwester, die davon träumt, Stand-Up-Comedian zu werden, ihrem Bruder erzählt, sie würde an einem Bühnenprogramm über die Sexualität ihres gemeinsamen Vaters schreiben; wenn Nora sich mit einer Mischung aus Irritation und Faszination in die Welt des Online-Datings und Online-Sex begibt –, doch sind diese niemals auf dem Niveau marktschreierischer Schenkelklopfer, sondern entwickeln sich organisch aus den liebenswerten Figuren, aus den frisch erzählten Geschichten, aus der bodenständig-zurückhaltenden Inszenierung. LES OLYMPIADES besitzt durchaus tragische Momente, - wenn Camille den Rollstuhl seiner verstorbenen Mutter verkauft und beim erfolglosen Versuch, ihn zusammenzuklappen, in Tränen ausbricht, die durchaus auch der verlorenen Liebe Noras zu gelten scheinen; wenn Nora sich vor einem Strom anzüglicher Nachrichten ihrer aufgeheizten Mitstudenten nur noch dadurch zu retten weiß, dass sie ihr Smartphone zertrümmert; wenn Émilie sich von eigenen Schuldgefühlen und den Vorwürfen ihrer Mutter übermannt sieht, weil sie erst Tage später vom Tod ihrer Großmutter erfährt, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr besucht, stattdessen ihre neue Mitbewohnerin als Ersatz ins Pflegeheim geschickt und ihr für diesen Dienst Mietminderung versprochen hat –, doch sind diese niemals auf dem Niveau aggressiv meine Tränendrüsen zusammenquetschender Fäuste, sondern entwickeln sich ganz unsentimental aus den behutsam modellierten Situationen zwischen den Charakteren, aus der sprunghaften, eher elliptischen statt ausgewalzten Dramaturgie, aus den stillen Bildern, die mehr zeigen als erzählen. LES OLYMPIADES kann man als Milieustudie begreifen, als Einblick in einen spezifischen Pariser Stadtbezirk, der studentisch und migrantisch geprägt ist, oder als Generationsstudie, als Einblick in das, was junge Franzosen Ende 20, Anfang 30 umtreibt, oder einfach nur als Studie darin, wie man 2021 einen Film drehen kann, der zeitgleich zeitlos, modern und herrlich altmodisch wirkt.

Camille ist Doktorand für Literaturwissenschaften, der seinen Lehrerberuf an den Nagel gehängt hat, um sich ganz seiner Promotion widmen zu können. Mit der läuft es aber auch nicht allzu flott, denn mehr Zeit verbringt Camille auf der Suche nach neuen Sexualkontakten. Auch mit Émilie, in deren WG er kurzzeitig einzieht, verbindet ihn anfangs unverbindlicher Sex, - solange zumindest, bis die junge Frau sich in ihn verliebt, und er vor ihrem Wunsch nach einer Beziehung Reißaus nimmt: Sowohl physisch, indem er zu einer Kollegin zieht als auch emotional, denn mit dieser Kollegin beginnt er eine Liaison, die allerdings ebenfalls nach kurzer Zeit endet. Als ein Freund ihn bittet, ein Auge auf sein Maklerbüro zu haben, ergreift Camille diese Gelegenheit für einen Neuanfang. Er lernt Nora kennen, stellt sie ein, entwickelt Gefühle für sie. Zeitgleich aber knüpft er aber auch wieder Kontakt zu Émilie, die zu so etwas wie seiner besten Freundin, seiner engsten Vertrauten avanciert: Gemeinsam swipen sie bei einer Online-Dating-App potenzielle Partner Émilies nach links oder nach rechts; entsetzt zuckt er zurück, als Émilie ihm die Dick-Pics zeigt, die sie von manchem Bewerber um ihre Gunst zugeschickt bekommt; ohne falsche Scham berichtet Émilie Camille von ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit den virtuell geknüpften Bekanntschaften. Dann stirbt Émilies Großmutter; sie ist von Schuldgefühlen geplagt – und bittet Camille, sie zur Beerdigung zu begleiten, damit er ihre Hand halte, ihr beistehe, sie vor den vorwurfsvollen Blicken ihrer Familie schütze, die längst Wind davon bekommen hat, dass Émilie ihre Großmutter seit Monaten nicht mehr im Pflegeheim besuchte.

Es sind einzelne, fast flüchtige Momente, die LES OLYMPIADES zu einem Kleinod machen: Wie Nora erstmals jenseits der digitalen Welt auf Amber Sweet trifft; wie Émilie im Trauerflor in ihrem Wohnungsflur darauf wartet, dass Camille endlich bei ihr klingelt, um sie zur Beerdigung abzuholen; wie Camille einen ehemaligen Schüler wiedertrifft, der hauptberuflich als Maler arbeitet und nebenberuflich an seiner Rap-Karriere bastelt. Was LES OLYMPIADES ebenso zum Kleinod macht, das ist, wie das Drehbuch von Jacques Audiard, Léa Mysius und Céline Sciamma all diese Körper und Herzen und Lebensentwürfe und Schicksalsschläge und Alltagssituationen miteinander verwebt, dass mir mein Zeitgefühl während der Sichtung komplett abhanden ging und der Abspann fast schon wehtat, weil mit ihm das Wissen verbunden war, nun erstmal hinausgekickt worden zu sein aus all diesen fremden, fiktiven Leben, - denn, ehrlich gesagt, hätte dieser Film für mich auch noch gut und gerne ein paar Stunden weiterlaufen können, - etwas, das ich nicht von jedem Film Rohmers oder Garrels behaupten kann. LES OLYMPIADES - Wo im zeitgenössischen Kino die Sonne aufgeht...
Antworten