Vortex - Gaspar Noé (2021)

Moderator: jogiwan

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Adalmar
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Vortex - Gaspar Noé (2021)

Beitrag von Adalmar »

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Buch und Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz, Kylian Dheret u. a.

Ein Film über ein von Demenz geplagtes altes Ehepaar. Die erste Hauptrolle für Argento (falls mir nichts entgangen ist).

Trailer (mit deutschen Untertiteln)
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McBrewer
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Re: Vortex - Gaspar Noé (2021)

Beitrag von McBrewer »

Wenn Frankreichs Enfant terrible Gaspar Noè & der italienische Meister des Suspense , Dario Argento, sich zusammen tun, um einen Film zu verwirklichen, sollte man sich auf was besonderes einstellen.
Nun, das dürfte auf VORTEX auch gut passen, aber "besonders" in vielerlei Hinsicht.
Der Film ist vor allem eins: besonders laaaangatmig.
Und das soll auch gar nicht so wertend klingen wie ich es gerade erst ausgeschrieben habe.
Wir begleiten als Zuschauer_innen ja sozusagen den letzten Lebensabschnitt von dem alten Ehepaar, gespielt von Dario Argento und
Françoise Lebrun.
Sie, die ehemalige Ärztin, leider stark unter Altersdemenz. Er, der Filmregisseur & Drehbuchautor, kümmert sich um seine kranke Frau, kämpft aber selber mit einer angeschlagenen Gesundheit & will gerne noch ein Filmbuch zu ende schreiben.
Sohn Stéphane, selbst ehemaliger Junkie & Papa eines kleinen Sohnes Kiki, versucht von aussen zu helfen wo er kann.
Und so begleitet man das Ehepaar gefühlte Tagelang dabei, wie sie durch die große Wohnung & oder dem Einkaufsladen irren. Oder bei dem Toilettengang.
Die Botschaft ist dann auch klar & es gab (für mich) keine Überraschungen.
Ich möchte fairerweise betonen, das der Film extrem wichtig ist (so wie der ähnliche THE FATHER mit Anthony Hopkins).
Ich frage mich nur, ob dem Film gar eine Straffung um gut eine Stunde nicht etwas besser getan hätte?
So bleibt VORTEX als einzigartige Korporation von Noè & Argento in Erinnerung . Nicht mehr - nicht weniger
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Salvatore Baccaro
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Re: Vortex - Gaspar Noé (2021)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Ein paar lose Gedanken zu meiner gestrigen Sichtung von Gaspar Noés neuem Meisterwerk VORTEX:

Ein schöner Sommertag in Paris. Ein älteres Ehepaar lässt es sich auf dem heimischen Balkon gutgehen. Inmitten von Blumen köpft man eine Flasche Weißwein, prostet sich zu: Auf uns! Auf die Zukunft! Das Leben ist ein Traum, oder?, fragt Sie. Er bestätigt: Ja, das ist es. Ein Traum in einem Traum. Die Kamera begleitet das Postkartenidyll in statischen Bildkompositionen. Nur manchmal wird für Sekundenbruchteile die Leinwand schwarz, so, als würde der Apparat blinzeln. Dann aber, nachdem die Gläser erhoben worden sind, schweift die Kamera nach links vom Balkon weg, gleitet an der Hauswand entlang, bleibt an einer Backsteinmauer kleben, neigt sich minimal zur Seite, so, als würde sie sich darauf vorbereiten, in einen Abgrund zu kippen. Auf der Leinwand erscheinen die Namen der Hauptdarsteller und des Regisseurs – mitsamt ihrer Geburtsjahre: Françoise Lebrun, Jahrgang 1944. Dario Argento, Jahrgang 1940. Alex Lutz, Jahrgang 1978. Gaspar Noé, Jahrgang 1963. Es ist, als würden diese Geburtsjahre nur darauf warten, sich mit ihren zugehörigen Todesdaten zusammentun zu können, um einen abgeschlossenen Zirkel zu bilden.

Vor Filmbeginn im Foyer: Ich entdecke ein Poster von METROPOLIS und muss mich noch einmal zu Fritz Langs DER MÜDE TOD äußern, den wir tags zuvor als Stummfilmkonzert in einer Altstadtkirche gesehen hatten. Dass ich sie ja anerkennen würde, die filmhistorische Bedeutung des Films, seine atemberaubende Studioarchitektur, die den Orient, die das kaiserliche China, die das Renaissance-Venedig, die ein märchenhaft-schauerromantisches Deutschland zum Leben erwecke, seine Spezialeffekte, seine Farbdramaturgie usw., aber dass ich inhaltlich weiterhin mit ihm nicht habe warmwerden können, denn zu heterogen sei mir seine Episodenstruktur, zu schwammig sei mir seine Moral und das, was er eigentlich erzählen möchte, zu plakativ die eingestreuten Segmente voller Karl-Mary-Orientalismus, fremdschaminduzierender rassistischer Späßchen und sterbenslangweilig ausgedehnter Liebesverwicklungen. Ich schließe damit, dass sich Fritz Lang bislang mit keinem seiner Filme wirklich in mein Herz habe spielen können, und dass er mir am liebsten sei in Jean-Luc Godards LE MÉPRIS, wo er sich selbst spielt.

Cineastische Referenzen allüberall, wie so oft bei Noé: Die Wohnung des namenlosen, im Mittelpunkt von VORTEX stehenden Ehepaars gleicht einem Museum, einem Bollwerk aus Erinnerungen, Büchern, handschriftlichen Notizen, Filmposter, verstaubten Gegenständen, die sich bis zur Decke stapeln, - eine Wohnung, in der sich ein langes, erfülltes Leben kondensiert. Sie hat als Psychiaterin praktiziert, Er ist Filmwissenschaftler: In einer Szene setzt er sich Er vor den Fernseher, um sich die berühmte POV-Beerdigung in Carl Theodor Dreyers VAMPYR anzuschauen und daraus Inspiration für das Buch zu schöpfen, das Er schreiben möchte, vielleicht sein letztes Werk, vielleicht das Werk, das ihn unsterblich machen soll. Der Arbeitstitel lautet PSYCHE, und es soll vom Kino und den Träumen handeln. Seine These: Kino und Traum sind verwandte Phänomene, - wir liegen in einem dunklen Raum, bewegen uns kaum, haben keinen physischen Kontakt zur Außenwelt, einzig unsere Augen sind mit den Gestalten, den Geschichten verbunden, die auf der physischen Leinwand im Kinosaal oder auf der imaginären Leinwand unseres Gehirns an uns vorbeiflimmern. Es ist eine These, die wir bis in die Frühzeit des Kino-Diskurses zurückverfolgen können, zu Hofmannsthal, zu Jean Epstein. Am Ende des Films wird während einer Trauerfeier, die Ihr gilt, der Satz fallen: Alle Träume sind kurz. Noch kürzer sind die Träume innerhalb von Träumen.

Keine Stroboskoplichter, keine scheinbar schnittlos herumwirbelnde Kamera, keine expliziten Sexualakte, keine Gewaltexzesse, keine ohrenbetäubende Musik, nicht mal der Vorspann wartet mit irgendwelchen der herausfordernden Formalien auf, die Noés Filme sonst kennzeichnen: Der wahre Schock von VORTEX liegt in der nahezu abgeklärten Ruhe, mit der der Film von Alter und Tod erzählt, und davon, wie schwierig es sein kann, für Menschen da zu sein, die man liebt, und wie schwer, ihnen überhaupt zu zeigen, dass man für sie da sein möchte, weil man sie liebt.

Sie wird verkörpert von Françoise Lebrun, die in ihrer Jugend für Nouvelle-Vague-Spätwerke wie Jean Eustaches monumentalen LA MAMAN ET LA PUTAIN (1973) oder BEN ET BÉNÉDICT (1977) von Paula Delsol vor der Kamera stand; Er wird verkörpert vom italienischen Horrorregisseur Dario Argento, der bislang noch nie vor einer Kamera stand, und mit knapp 80 Jahren sein Schauspieldebüt gibt. So sehr Noé sich einmal mehr darin gefällt, seinen Idolen zu huldigen, so sehr wirkt es auf mich aber auch, als wolle VORTEX zugleich davon erzählen, wie wichtig das ist, was außerhalb einer solchen selbstreferentiellen, intellektualistisch angehauchten, sich sehnsüchtig auf eine vergangene Kinogeschichte beziehenden Seifenblase stattfindet: In einer eindrücklichen Szene telefoniert Er mit einem Freund, um ihm enthusiastisch von seinem aktuellen Buchprojekt zu berichten, - und zeitgleich wandert Sie rastlos durch die Wohnung, von Ihm getrennt durch die Tür seines Arbeitsbereichs, angetrieben von einer Unruhe, die Sie keine Sekunde lang auf ihrem Platz hält. Man wünscht sich, er würde einmal aus seinem Elfenbeinturm treten und sie einfach nur in den Arm nehmen.

In einer Szene kann man, wenn man besonders gut aufpasst, Jean-Pierre Bouyxou entdecken, jenen Intimus Jean Rollins, der, unter anderem, 1968 den wilden Kurzfilm SATAN BOUCHE UN COIN gedreht hat, von dem ich mir bei seiner grenzüberschreitenden Fetisch-Phantasien sicher bin, dass er weit oben auf Noés Lieblingsfilmliste steht.

Nach dem Vorspann liegen Er und Sie wie aufgebahrt in ihrem Ehebett. Er schläft tief und fest; sie wälzt sich stöhnend auf ihrer Seite, kommt einfach nicht zur Ruhe. Ein schwarzer Streifen frisst sich von oben vertikal ins Bild hinein, separiert es direkt in der Mitte, schneidet es förmlich auseinander. Von nun an erleben wir in VORTEX quasi parallel zwei Filme: Die linke Bildhälfte gehört Ihr, die mit einer beginnenden Demenz zu kämpfen hat; die rechte Bildhälfte gehört Ihm, der sich in sein Projekt verbeißt, sein literarisches Opus Magnum zu Papier zu bringen.

Es stimmt nicht, was Jörg Buttgereit im Deutschlandfunk-Interview sagt: Es sei die Demenz der Frau, die das Paar auseinanderdividiere. In Wirklichkeit sitzt der Bruch viel tiefer: Nach dem Aufstehen grüßt man sich nicht mal mehr; seit 20 Jahren hat er eine Geliebte; man redet kaum miteinander, lebt aneinander vor. Vielmehr ist die Demenz der Auslöser dafür, dass die Statik, die Einzug in die Beziehung gehalten wird, offenkundig wird, und dass sich Er und Sie noch einmal, ein letztes Mal, ihrer Liebe versichern können.

Sie stellt sich eigenmächtig Medikamentenrezepte aus; Er sitzt voll Arbeitseifer an seiner Schreibmaschine; Sie verlässt das Haus, um den Müll wegzubringen, vergisst im Anschluss, was sie eigentlich draußen wollte, geistert im Viertel umher, verliert sich in Lebensmittelgeschäften, in Spielwarenshops; Er merkt ihr Fehlen, läuft ihr nach, findet sie schließlich verloren in den labyrinthischen Gängen eines Krämerladens; Sie schlurft ziellos durch die Wohnung, knipst Lichtschalter an, knipst Lichtschalter aus, pinkelt, vergisst die Toilettenspülung zu drücken, öffnet ein Fenster, schließt ein Fenster, stöhnt, seufzt; Er versucht seine Geliebte zu erreichen, die jedoch auf keinen seiner Anrufe reagiert, spricht ihr auf die Mailbox: Wie sehr sie ihm fehle, Dass er sie jetzt dringend brauche, Dass sie sich melden solle, bitte.

Der gemeinsame Sohn Stéphane gewinnt zunehmend an Wichtigkeit. Er wirkt wie ein Katalysator, der dazu führt, dass die beiden Wünsche und Sehnsüchte äußern, die sie sonst womöglich nie über die Lippen gebracht hätten. In einer bewegenden Szene fragt Er Sie eindringlich, was er denn für sie tun solle. Sie flüstert in einem ihrer zunehmend weniger werdenden klaren Momente: Sei einfach da für mich!

Zu sehen, wie Dario Argento sich weinend an einen Türrahmen klammert, nachdem Sie sein Buchmanuskript die Toilette hinabgespült hat, - wahrscheinlich in einem Anflug geistiger Umnachtung, vielleicht aber auch, um sich an ihm rächen, vielleicht, um ihm das zu nehmen, was ihn immer wieder davon abhält, sich mit ihr zu beschäftigen? -, ist eine Sache, für die ich Noés Film genauso dankbar bin wie für jeden der mühsam geflüsterten Sätze Françoise Lebrun, die immer wieder neu ansetzen muss, die nach Worten sucht, die ihrem Sohn und ihrem Ehemann kaum hörbar verspricht: Ich werde euch von mir erlösen!

Man kann die formale Strenge des Films manieristisch finden, sicher. Ich fand es schlicht brillant – formal und narrativ -, wie hier zwei Leben gezeigt werden, die im Prinzip parallel nebeneinander herlaufen, sich manchmal ineinander verschlingen, nur um anschließend umso mehr Distanz zwischen sich zu bringen, selbst wenn sich diejenigen, die diese Leben leben, in ein und demselben Raum, in ein und derselben Situation aufhalten.

Bei einem Regisseur, zu dessen Alleinstellungsmerkmalen es zählt, Inhalt und Form unzertrennlich miteinander zu verzahnen, nicht bloß eine rein ästhetische Entscheidung: Grandios nutzt Noé die beiden Kameraperspektiven, um seine Figuren – Ihn, Sie, Sohn Stéphane sowie Enkel Kiki – sinnfällig in Küche und Wohnzimmer auf eine Weise anzuordnen, die viel über die derzeitige emotionale Gemengelage innerhalb der Familie aussagt. Einmal platziert Noé Sie inmitten von Sohn und Ehemann, die darüber diskutieren, was man angesichts der Tatsache Ihrer weit fortgeschrittenen Demenz nun tun solle, - der Sohn plädiert für ein Pflegeheim; Er spielt ihre Krankheit herunter, behauptet, die Sache noch immer im Griff zu haben -, während sie entweder gar nicht mehr in der Lage ist, ihren eigenen Standpunkt zu artikulieren, oder längst resigniert hat: Wenn sie sich, erschöpft und müde, nur ein bisschen zurücklehnt, wir ihr Kopf vom diagonalen Bildstreifen regelrecht in zwei Hälften gespalten. Und dann sind da natürlich die zahllosen teilweise fünf- bis zehnminütigen Plansequenzen, in denen wir sie einfach nur brabbelnd herumirren sehen, während Er im rechten Bildkader seine letzten Kraftreserven darin investiert, den Anschein von geregeltem Alltag zu wahren, und wenn auch nur vor sich selbst.

Wie Noé sukzessive den Fokus erweitert vom „Kernproblem“ Dementia hin zu Dingen, die zuvor schon zwischen den Eheleuten sowie zwischen dem Ehemann und ihrem Sohn im Argen gelegen haben müssen, dabei aber vieles im Vagen belässt, zwischen den Zeilen spricht, uns Andeutungen hinwirft, die wir selbst ausdeuten müssen; wie feinfühlig Noé ein Ehepaar portraitiert, dem die Kontrolle entgleitet, und einen drogenabhängigen Sohn, der alles daran setzt, diese entglittene Kontrolle aufzufangen oder zumindest abzufedern, und wie feinfühlig sein Ensemble dieses Auseinanderwirbeln von Sekuritäten umsetzt; wie das Hintergrundrauschen aus Tod und Verfall lauter und lauter wird, Minute für Minute, und uns im letzten Akt mit den Endlichkeiten konfrontiert, mit denen sich jeder von uns schon auseinandergesetzt hat oder noch auseinandersetzen werden wird.

Wenn einer von beiden stirbt, begeht Noé nicht den Fehler, auf Vollbild zu schalten: Eine Bildhälfte bleibt einfach schwarz, um das zu zeigen, was nicht gezeigt werden kann, und was bald vergessen sein wird.

Trotz all des Pessimismus, der Unvermeidbarkeiten, der Tristesse diese kleinen Momente der Zärtlichkeit, dieses bisschen Hoffnung: Wie die Großmutter mit dem Enkel Samenkörner in Blumenbeete einpflanzt; wie Sie Ihn ein letztes Mal berührt und streichelt, nachdem ihm das Herz den Dienst versagt hat; wie sich in der letzten Einstellung die Kamera aus der inzwischen leeren Wohnung entfernt, sich einmal kurz um sich selbst dreht und uns dann ganz kurz ein Panorama von Paris zeigt, andere Gebäude mit anderen Menschen und anderen Schicksalen.

Am Ende wird das Set abgebaut. Stillphotographien der Wohnung, die sich mehr und mehr entblättert. Ein ganzes Leben in einem Haufen Umzugskartons. Im Kino gewesen, geweint. Und da das für mich, der schon lange nicht mehr so ausgelaugt aus einem Kinosaal gewankt ist, scheinbar noch nicht genug ist, erklingt bei der finalen Urnenbeisetzung ausgerechnet das "Camillie"-Thema, das Georges Delerue für den Soundtrack von Godards LE MÈPRIS komponiert hat.
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