Raw - Julia Ducournau (2016)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Grave

Produktionsland: Frankreich 2016

Regie: Julia Ducournau

Darsteller: Garance Marillier, Ella Rumpf, Rabah Nait Oufella, Laurent Lucas, Joana Preiss
Justine wird flügge. Sie verlässt ihr streng vegetarisches Elternhaus, um Studentin an der renommierten Saint-Exupéry-Veterinärschule zu werden, wo bereits ihre Schwester Alexia, das schwarze Schaf der Familie, eingeschrieben ist. Ihr Alltag als Neuling ist gekennzeichnet von bizarren Ritualen, die die älteren Studierenden ihr und allen anderen Erstsemestern auferlegen. Wenn die angehenden Tiermediziner nicht lebende oder tote Pferde studieren bzw. sezieren, betrinken sie sich auf Neonlicht-Partys bis zur Besinnungslosigkeit, müssen befremdliche "Mutproben" absolvieren wie öffentlichen Sex oder das Kriechen auf allen Vieren, oder werden, wie Justine, heimgesucht von lange in ihrer Psyche verschlossen gehaltenen Ungeheuern: Es ist ein Stück Fleisch, das Justine vor den Augen ihrer Kommilitonen - und forciert von der eigenen Schwester! - in der Mensa herunterschlucken muss. Zwar erbricht sie es gleich darauf, doch es dauert nicht lange bis ihr Körper auf den ersten Kontakt mit dem, was ihm all die Jahre verwehrt worden ist, ganz eigene und eigenwillige Reaktionen entwickelt. Nicht nur, dass Justine sich fortan im Schlaf den kompletten Körper blutig kratzt, in der Kantine lässt sie immer wieder Fleisch mitgehen, das sie dann unbemerkt und voller Heißhunger verschlingt. Als Alexia in ihrer Gegenwart bei einem Unfall einen Mittelfinger verliert, stützt Justine sich auch über diesen wie ein wildes Tier her. Das ist aber nur eine von vielen weiteren Stationen auf einer Spirale der Grenzüberschreitungen, die die französische Regisseurin Julia Ducournau ihrer Protagonisten und ihrem Publikum bis zum bitteren Ende zumutet…

Grave, das heißt auf Französisch so viel wie ernst, feierlich, würdevoll, und ist damit weitgehend deckungsgleich mit dem lateinischen gravis, das allerdings noch die Bedeutungen schlimm, ekelhaft, widerlich haben kann. Umgangssprachlich kann der Franzose mit grave auch ausdrücken, dass eine Person oder eine Sache vollkommen durchgeknallt ist. Im Englischen wiederum bezeichnet grave als Adjektiv genau das Gleiche, kann aber, als Substantiv, außerdem eine Begräbnisstätte meinen. All diese Bedeutungen lassen sich in GRAVE irgendwie wiederfinden, schaffen es aber trotzdem nicht, die Essenz dieses wunderbaren Films wirklich zu fassen.

Da ich kein Etymologe bin, versuche ich es mit Querbezügen zur Filmgeschichte. GRAVE, das ist so ein Mittelding zwischen den ungestümen, weit über die Grenze zur Hardcore-Pornographie hinausschreitenden Transgressionen eines Emiliano Rocha Minters (TENEMOS LA CARNE) und den weniger experimentellen, narrativer ausgerichteten Körperdekonstruktionen einer Marina de Van (DANS MA PEAU). Ich könnte mir den Film als Doppelvorstellung mit einer ganzen Reihe außergewöhnlicher neuer Spielfilme vorstellen – zum Beispiel mit Nicolette Krebitzs WILD (weil in beiden Filmen eine junge Frau im Zentrum steht, die Gesellschaftskonventionen überschreitet, und dadurch zur Bestie wird), oder mit Achim Bornhaks DER NACHTMAHR (weil beide Filme von einer jungen Frau, halbes Kind noch, handeln, deren Auflehnen gegen das Elternhaus in einer aus der Balance geratenen Beziehung zum eigenen Körper gipfelt), oder mit Lucie Hadzihalilovics INNOCENCE (weil beide Filme im Kern coming-of-age-Dramen sind, die allerdings in einer leicht surrealen, (alp-)traumhaften Internats- bzw. Eliteuniversitätswelt angesiedelt wurden). Zugleich hat GRAVE auch einiges von Giorgios Lanthimos, denn alles, was innerhalb der Veterinärakademie geschieht, erinnert zwar durchaus an die westliche Gesellschaft des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist aber doch, gerade was die kulthaften Initiationsriten betrifft, immer soweit neben der Spur, dass ein subtiler Irritationseffekt entsteht, der dann im Zusammenhang mit dem recht minimalistischen Sujet ein weites Feld für Interpretationsansätze und Metapher-Decodierungen eröffnet, auf dem genügend Platz ist, dass jeder von uns seine ganz eigene Sicht darauf, was der Film uns denn nun eigentlich sagen (oder verschweigen) soll, ausstreuen kann.

Von all den aufgezählten Werken (und Meisterwerken) ist GRAVE vielleicht nicht unbedingt der Wurf mit der weitesten Reichweite, doch im Prinzip hat Ducournau, zumindest meinem Empfinden nach, vieles richtig gemacht. GRAVE kann zärtlich sein, wenn er will, aber auch ziemlich ekelerregend. Der Film ist auf eine absurde Art witzig – vor allem dann, wenn man meinen Humor teilt -, genausogut aber auch ein ernstzunehmendes, wenn auch freilich reichlich derangiertes, Jugend- bzw. Geschwisterdrama. Es gibt Elemente des (Body)Horrors, ein bisschen (feministische) Gesellschaftskritik, und mit Garance Marillier eine gar nicht genug zu lobende Hauptdarstellerin. Die Kinematographie schlägt weder zu viele Kapriolen noch kann man ihr vorwerfen, nicht doch pausenlos ästhetisch adrette - und vor allem angenehm bunte - Bilder zu produzieren.

Jedem, der einen (oder alle) der oben genannten Filme schätzt oder sogar liebt, kann ich GRAVE demnach nur wärmstens an Herz legen – auch wenn ich die Anekdote, dass bei der Premiere angeblich reihenweise Kritiker das Kino fluchtartig verlassen haben sollen, um ihre Mägen zu leeren, für einen klugen Marketing-Schachzug halte – oder aber ich bin, wie so oft, schon durch zu viele kinematographische Schlachthöfe gewatet, dass ich schon gar nicht mehr recht ermessen kann, was einem „normalen“ Kinogänger bereits übel aufstößt. Sei’s drum: Falls GRAVE hierzulande in die Kinos kommen sollte, ziehe ich mir ein Ticket.
purgatorio
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von purgatorio »

Während ich las erinnerte ich die werbestrategisch geschickt und kontinuierlich wiederholte Begebenheit während der Premiere auf einem kanadischen (?) Festival. Schön, dass du sogar dieses reflektierst :mrgreen:
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Jedem, der einen (oder alle) der oben genannten Filme schätzt oder sogar liebt, kann ich GRAVE demnach nur wärmstens an Herz legen – auch wenn ich die Anekdote, dass bei der Premiere angeblich reihenweise Kritiker das Kino fluchtartig verlassen haben sollen, um ihre Mägen zu leeren, für einen klugen Marketing-Schachzug halte – oder aber ich bin, wie so oft, schon durch zu viele kinematographische Schlachthöfe gewatet, dass ich schon gar nicht mehr recht ermessen kann, was einem „normalen“ Kinogänger bereits übel aufstößt. Sei’s drum: Falls GRAVE hierzulande in die Kinos kommen sollte, ziehe ich mir ein Ticket.[/align]
Schöne Kurzeinführung (wahrlich, für deine Maßstäbe überaus kurz!)! Macht Laune auf den Film :nick:
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
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Arkadin
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von Arkadin »

purgatorio hat geschrieben: Macht Laune auf den Film :nick:
Laune würde ich jetzt nicht unbedingt sagen, aber das Interesse ist geweckt. Interessanterweise habe ich bis heute morgen - als Tim Lucas auf Facebook ein Foto aus "Raw" veröffentlichte und der Film dann in den Kommentaren dazu höchst gelobt wurde - nie davon gehört. Und dann lese ich jetzt auch noch hier darüber. Wie gsagt: Interesse ist geweckt - auch wenn ich die oben als Referenz angeführten Filme allesamt noch gucken muss (und will).
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McBrewer
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von McBrewer »

Als ich RAW (bzw. GRAVE) letztens als verfügbare französische Original Version bei AMAZON-Prime entdeckte, erinnerte ich mich an sehr wohlwollende Kritiken in der der älteren DEADLINE Ausgaben. Nur die Story war mir nicht mehr geläufig, irgendwas mit junger Studentin, Aufnahmeritual & das sie damit nicht ganz einverstanden war/ist.
Das war es auch schon um mein Vorwissen zu dem Film..und das war auch gut so. Umso erstaunter war ich dann während der (Erst-)Sichtung, ohne all zuviel an Unwissende verraten zu wollen.
Fazit ist, das mich dieser gelungene Genre Beitrag positiv an (von den Bildern her) NACHTMAHR erinnert. Oder vielleicht auch CALVAIRE als (gutes) Beispiel.
Und das bittere Ende lässt einem mit einem Magenschlag zurück.
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purgatorio
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von purgatorio »

McBrewer hat geschrieben:Als ich RAW (bzw. GRAVE) letztens als verfügbare französische Original Version bei AMAZON-Prime entdeckte, erinnerte ich mich an sehr wohlwollende Kritiken in der der älteren DEADLINE Ausgaben. Nur die Story war mir nicht mehr geläufig, irgendwas mit junger Studentin, Aufnahmeritual & das sie damit nicht ganz einverstanden war/ist.
Das war es auch schon um mein Vorwissen zu dem Film..und das war auch gut so. Umso erstaunter war ich dann während der (Erst-)Sichtung, ohne all zuviel an Unwissende verraten zu wollen.
Fazit ist, das mich dieser gelungene Genre Beitrag positiv an (von den Bildern her) NACHTMAHR erinnert. Oder vielleicht auch CALVAIRE als (gutes) Beispiel.
Und das bittere Ende lässt einem mit einem Magenschlag zurück.
Wäre jetzt natürlich noch was für den PRIME-Thread ;) War der mit Untertieteln? Oder hast du den einfach auf Französisch geguckt?
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McBrewer
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von McBrewer »

Der ist dort im französischen Original mit deutschen Untertitel verfügbar :nick:
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purgatorio
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von purgatorio »

McBrewer hat geschrieben:Der ist dort im französischen Original mit deutschen Untertitel verfügbar :nick:
:o geil 8-)
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von jogiwan »

Die 16jährige Justine stammt aus einer streng vegetarisch lebenden Familie und beginnt wie schon ihre ältere Schwester Alexia ein Studium an einer renommierten Uni für Veterinärmedizin. Doch die erste Woche entpuppt sich anders als erwartet und die eher introvertierte Justine, der ein Ruf als Wunderkind vorauseilt, findet sich auf einmal in einer für sie völlig fremden Welt voller Party, Alkohol und seltsamer Initiations-Riten wieder. Als sie vor den Augen ihrer Kommilitonen von der eigenen Schwester dazu genötigt wird, eine eingelegte Hasen-Niere mit viel Alkohol runterzuspülen, beginnt sich die junge Frau zu verändern. Der Körper reagiert mit Ausschlag und Schüttelfrost und Justine entwickelt einen seltsamen und schwer zu kontrollierbaren Heißhunger auf alles Fleischliche…

Kannibalismus ist ja eines der großen, wenn nicht das größte Tabu der menschlichen Gesellschaft, bei dem schon allein der Gedanke daran bei vielen Menschen höchstes Unwohlsein hervorruft. Denen sei von „Raw“ auch dringend abgeraten, da die französisch-belgische Koproduktion dem Zuschauer trotz der FSK-16-Freigabe doch so einiges zumutet. Dabei ist dieser höchst spannende und ziemlich ungewöhnliche Beitrag eigentlich kein herkömmlicher Horrorfilm über Kannibalismus, sondern ein Drama über eine junge Frau, die in einer Selbstfindungsphase einen schwer zu kontrollierbaren Heißhunger auf Menschenfleisch entwickelt. Dabei streift „Raw“ neben seinem „Coming-of-Age“-Auftakt auch Elemente des Zombie-und Werwolf-Films ohne sich in fantastischen Gefilden zu bewegen und statt billiger Schocks erinnert mich Julia Ducournaus Streifen viel mehr an die Werke von Giorgios Lanthimos, der ebenfalls seine komplexen, aber auch wieder völlig jenseitigen Welten formal sehr streng, mit schwärzesten Humor und voller Ernsthaftigkeit entwirft. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich durch die Herangehensweise viele schwer tun, diesen Film in einem Genre-Kosmos einzuordnen und Distanz zu wahren und der durchaus verstörende „Raw“ wirkt natürlich sehr abstoßend, während man für seine Figuren durchaus Mitgefühl entwickelt. Eigentlich ein Widerspruch und doch auch das greift eigentlich auch wieder inhaltlich viel zu kurz für diesen nachhaltig erschütternden Streifen, der sicherlich zu dem interessantesten Beiträgen der letzten Zeit gehört.
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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purgatorio
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von purgatorio »

Gestern gesichtet - abermals: Danke für den Tipp, Dän :thup:
Ich war begeistert. Ein netter Bilderrausch, der zwischen Albtraum und Uni-Realität pendelt und nebenher zum Erweckungserlebnis einer Fleischfresserin führt. Mir gefiel der ständige Wechsel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Radikalität, die Farben, die Bilder - und die Musik! Ja, die Musik war toll. Und dann? Dann kam das Ende!
Echt? Haben wir alle den gleichen Film gesehen? Ich fand, dass die letzten dreißig Sekunden aus dem Film durchschnittlichen Horror machten und die gesamte Vorarbeit von ihrem Arthouse-Charakter entrückten. Die hätten nicht sein müssen und ich mag sie nicht. Aber ansonsten ist der Film toll!
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jogiwan
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Re: Raw - Julia Ducournau (2016)

Beitrag von jogiwan »

Gestern noch mal mit meinem netten Besuch geguckt, der hinterher doch auch etwas verschreckt gewirkt hat. Aber dieser ungewöhnliches Streifen ist doch auch sehr gut angekommen. Ein Film über das Erwachen von Fleischeslust... nur eben etwas anders wie erwartet... ;)
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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