Folies Meurtrières - Antoine Pellisier (1984)

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Salvatore Baccaro
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Folies Meurtrières - Antoine Pellisier (1984)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Folies Meurtrières

Produktionsland: Frankreich 1984

Regie: Antoine Pellisier

Darsteller: Magali Bernard, Elisabeth Carou, Carole Chapus, Samya El Alaoui, Mireille Duruisseaud, Jean-Pierre Fonzes, Marie-Pierre Fosses


Ein Schlächter, der als Maske einen Kopfkissenbezug über dem Schädel trägt und ansonsten habituell an den Killer aus dem US-Slasher MY BLOODY VALENTINE erinnert, inklusive Arbeitsbrille und Bergwerksoverall, meuchelt in fünf Vignetten genauso viele junge Frauen, wobei im Grunde lediglich das jeweilige Mordwerkzeug variiert – von Gartenschere über Kettensärge bis zu Schraubstock ist alles dabei –, und die Episoden ansonsten strukturell einander gleichen wie ein Ei dem andern, bevor am Ende seine (überraschende) Identität gelüftet wird und wir mit einem Finale konfrontiert werden, das die minimalistische „Geschichte“ auf den letzten Metern ins Metaphysische kippen lässt.

Wer den französischen No-Budget-Film FOLIES MEURTRIÈRES von Antoine Pellissier aus dem Jahre 1984 allein aufgrund seines (kaum existenten) Plots beurteilen möchte, wird diese gerade mal fünfundvierzig Minuten dauernde Gewaltorgie sicherlich schnell in einen Topf werfen mit späteren Amateur-Splatter-Machwerken wie VIOLENT SHIT oder aber in eine Reihe stellen mit weiterem Proto-Amateur-Gekröse wie dem nur ein Jahr zuvor ebenfalls in Frankreich produzierten OGROFF. Wem wiederum eine ausgeklügelt-raffinierte Story nicht das Nonplusultra bei einem Film ist, und wer sich nicht daran stört, dass ein Film weniger gekostet haben dürfte als ein Mittagessen in der örtlichen Mensa, sondern solche vermeintlichen Defizite vielmehr als Chance für umso rücksichtslosere Kreativität begreift, und wer sowieso das Medium Film als von psychologischen oder narrativen Konzepten zunächst einmal völlig unabhängiges Spiel aus Farben und Formen betrachtet, dem wird wohl nichts anderes übrigbleiben als zusammen mit mir auszurufen: FOLIES MEURTRIÈRES ist ein kinematographisches Juwel, eingepackt in die Folie einer Schlachtplatte der Fleischerei um die Ecke.

Wie auch bei dem ähnlich umwerfenden OGROFF ist die Tarnung perfekt – vielleicht so perfekt, dass nicht mal Hobby-Regisseur Antonie Pellissier, (der hauptberuflich eigentlich als Mediziner (!) arbeitet: Doctor Butcher, M.D.!), durchschaut hat, dass er eigentlich weniger einen reißerischen Horrorschocker, sondern vielmehr einen dezidierten Experimentalfilm drehte, der in einer einzigen großen Umarmung surrealistische Eulogien des Meisters Zufalls, Grand-Guignol-Effekte und Tendenzen des Cinéma Pur an seine Brust reißt – und bis zum himmelschreienden Finale auch nicht mehr loslässt.

FOLIES MEURTRIÈRES wurde auf Super8 gedreht, verfügt über keinen Originalton und auch über keine nennenswerten Dialoge – alles, was bis zum Finale an sprachlichen Lautäußerungen vernommen werden kann, ist eine verzerrte Off-Stimme, die jede der fünf Vignetten mit einer genauen Datumsangabe einleitet: Montag, 13. September; Mittwoch, 12. Dezember; Freitag, 4. Februar usw. Natürlich sind sämtliche der (bis auf eine Ausnahme) weiblichen Cast-Mitglieder schauspielerische Laien, und natürlich fanden die Dreharbeiten an kostengünstig akquirierbaren Orten wie vor allem Privatwohnungen oder freiem Gelände statt. Rein inhaltlich begegnet uns in den fünf Segmenten Folgendes: 1) Eine junge Frau wird vom Serienkiller an einem Badesee zunächst beim Sonnenanbeten, dann beim Schwimmen voyeuristisch beäugt. Es wird Abend, und die Dame ist in ihr Privathaus zurückgekehrt, zu dem sich der Mörder Zutritt verschafft, sie minutenlang durch verschiedene Zimmer und quer übers Grundstück hetzt, bevor er ihrem Leben mit einer Axt ein Ende setzt. 2) Eine junge Frau fährt mit ihrem PKW durchs französische Hinterland, als sie im Rückspiegel ein ihr offenbar folgendes Motorrad bemerkt. Statt ihr Fahrzeug in belebtere Gegenden zu lenken, vielleicht sogar eine Polizeistation anzusteuern, parkt sie in einer entlegenen Kiesgrube und versucht, ihrem Jäger zu Fuß zu entkommen. Ihr Ende findet sie unter Zuhilfenahme einer Kettensäge, die ihre Eingeweide quer über den Schotter verteilt. 3) Eine junge Frau erwacht aufgrund seltsamer Geräusche nachts in ihrem Eigenheim und entdeckt in ihrem Kühlschrank zwei gehäutete, bluttriefende Schafsköpfe. Es entspannt sich die obligatorische Hetzjagd, bei der der Killer seinem Opfer trotz des eigenen Schneckentempos alsbald eine Axt in die Magengegend zu schwingen vermag. 4) In einem üppigen Garten, der scheinbar zu einem herrschaftlichen Anwesen gehört, vielleicht aber auch Teil eines Botanischen Parks ist, materialisiert sich unser Schlächter vor einer weiteren jungen Frau, deren Flucht ihren Höhepunkt in einem Geräteschuppen findet, wo ihr der Kopf in einen Schraubstock eingespannt und zermalmt wird. 5) Eine letzte junge Frau ist im Wald mit ihrem PKW unterwegs, als ihr etwas, das wir nie zu sehen bekommen, den Weg versperrt, (wohl kein umgestürzter Baum, sondern eher ein zweiter PKW, denn sie hupt genervt, scheint etwas aus dem runtergekurbelten Fenster zu rufen.) Plötzlich ergießen sich Ströme von Blut auf die Windschutzscheibe. Endlos lange schleicht der Mörder dazu um das Fahrzeug herum, bevor er sich Zutritt ins Innere verschafft und zum Kehlenschnitt ansetzt.

Hätte FOLIES MEURTRIÈRES in den 80er Jahren eine weite Verbreitung auf VHS erhalten, hätte er sicherlich beste Karten gehabt, sowohl hierzulande auf dem Index zu landen wie in Großbritannien als „Video Nasty“ eingestuft zu werden. Rein inhaltlich bestehen seine ersten vierzig Minuten aus einer Sammlung von Genre-Topoi wie POV-Shots aus Killer-Perspektive, flackernden Deckenlampen, Kätzchen, die aus dem Off regelrecht ins Bild geworfen werden, um die Protagonistinnen zu erschrecken, und sowohl primitiv realisierten als auch primitive Instinkte befriedigenden Meuchelszenen, denen man gerne auch ein misogynes Mäntelchen umbinden könnte, da sie sich primär gegen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts richten, (und beispielweise in Gestalt der Kettensäge oder einer steif in die Höhe gereckten Axt durchaus phallisch in Szene gesetzt werden.) Jedem Jugendschützer, Medienapostel, Pfarrer der 80er hätte man aber das Finale von Pellisiers Film entgegenhalten können, in dem die etablierten Gender-Gesetze des Slasher-Films nahezu auf den Kopf gestellt werden. Ohne zu viel verraten zu wollen: Sobald man weiß, wer sich unter dem blutbespritzten Kopfkissenbezug verbirgt, und aus welcher (groschenromantrivialen) Motivation heraus diese Person all die zurückliegende Morde verübt hat, (denen nämlich mitnichten rein zufällig ausgewählte Damen zum Opfer gefallen sind), entpuppt sich FOLIES MEURTRIÈRES als durchaus intelligente Subversion eines Regelwerks, dem man zwar immer noch zügellose Blutgeilheit vorwerfen kann, dem man die Frauenverachtungs-Karte nunmehr jedoch wesentlich schwerer unterjubeln kann.

Sollte ich jemals in die Lage geraten, FOLIES MEURTRIÈRES vor Vertretern von Anstand, Moral, Gesetz verteidigen zu müssen, würde ich allerdings gar nicht so sehr auf die (zugegebenermaßen relativ simple) Geschichte um Schuld/Sühne, Rache/Vergeltung rekurrieren, sondern mich vorrangig an der ästhetischen Form abarbeiten, in die Pellissier seinen Film kleidet. Ich würde schwärmen von diesem völlig irren, weil filigran zusammengebastelten, stellenweise absurd-komischen, manchmal wirklich beklemmenden Post-Production-Tondesign: Diese Synthesizer-Klänge, die meist derart runtergepitcht sind, dass nicht mehr viel fehlt, und sie würden wie drohende Drones tönen, und die selbst in ihren helleren Momenten, wenn sie simple Sommermelodien anstimmen, ständig wirken, als würden sie gleich wieder im brummenden Sumpf versinken; dazu Katzensprünge, untermalt von übermäßig lautem Fauchen, verzerrtes Kettensägenrattern, oder, wie in der Kiesgrubenszene, auch einfach mal das leise Pfeifen des Windes. Ich würde ins Feld führen, wie auf heilsame Weise verwirrend der Film zuweilen geschnitten ist und wie unkonventionell seine Bilder zuweilen komponiert sind: Wie nach dem ersten Axtmord die Leiche in mehreren stakkatoartig aufeinanderfolgenden Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln photographiert wird, sodass der Betrachter für einen Moment den Boden unter den Füßen verliert; wie irritierend das ist, dass der Schnitt beim letzten Mord konsequent ausspart, WAS es ist, das das Mordopfer ihren PKW anhalten lässt, so, als seien dem Film im Nachhinein essentielle Gegenschüsse geraubt worden; wie überbelichtet das Material sich in der glorreichen Kiesgrubenszene präsentiert, wo die Figuren im gleißenden Sonnenlicht zu undeutlich erahnbaren Schemen werden, kurz davor, sich in Nichts aufzulösen. Ich würde die vielen surrealen Momente auf- und nacherzählen: Das wiederholte Auftauchen eines blutüberströmten Zombies, das erst das Finale (halbwegs sinnvoll) erklärt, und der zuvor völlig kontextlos wahlweise angekettet in Schränken eingesperrt ist oder als rote Masse auf ein Autodach plumpst; überhaupt, dieser letzte Mord im parkenden PKW – wenn ihr jemals sehen wolltet, wie das aussieht, wenn ein Auto blutet, dann führt euch das dieses Segment eindrucksvoll vor Augen; der Kopf im Schraubstock, unrealistische Blutfontänen zum Boden schießend, wo die Handkamera den Tod der Frau aus Froschperspektive beäugt, als handle es sich um eine Gewaltphantasie Max Ernsts…

„Ce Film est fortement deconseille aux personnes sensibles” heißt es nach einer blinkenden ATTENTION!-Texttafel zu Beginn von FOLIES MEURTRIÈRES. Falls Pellissier mit den angesprochenen „sensiblen Menschen“ diejenigen meint, die auf jede Änderung ihrer Blickrichtung, ihrer Gewohnheiten, ihrer vorgefassten Meinungen allergisch reagieren, und die nach Verboten schreien, sobald ihr festgefügtes, unverrückbares Weltbild droht, von einem ästhetischen Artefakt um ein Jota aus der angestammten Position geschubst zu werden, danach, die verfemten Teile einer Gesellschaft noch effektiver zu amputieren, und die Mauern um das, was das Unterbewusste nicht verlassen darf, noch ein paar Meter höher zu ziehen, so ist dem Regisseur in diesem Fall tunlichst zu widersprechen: Gerade solche Personen sollten sich FOLIES MEURTRIÈRES und vergleichbare Werke tagtäglich zum Frühstück anschauen, um leibhaftig Zeugen zu werden, wie dem Kino etwas zurückgegeben wird, das man entweder als verspielt-blauäugige Unschuld oder aber als barbarisch-unverformte Archaik bezeichnen kann.
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