Fait-divers - Claude Autant-Lara (1923)

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Salvatore Baccaro
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Fait-divers - Claude Autant-Lara (1923)

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Originaltitel: Fait-divers

Produktionsland: Frankreich 1923

Regie: Claude Autant-Lara

Cast: Antonin Artaud, Louise Lara, Paul Barthet


Vor einigen Jahren, als ich einen dreiteiligen Artikel über Antonin Artauds theoretisches und praktisches Kino-Involvement geschrieben habe, - (nachzulesen in den Ausgaben 38 bis 40 des 35mm-Magazins) – ist der allererste Leinwandauftritt dieses theoretischen und praktischen Grenzgängers nahezu unsichtbar gewesen. Tatsächlich musste ich mehrere französische Filmarchive um ein Digitalisat des knapp zwanzigminütigen Streifens FAIT-DIVERS aus dem Jahre 1923 anflehen, um überhaupt einen Blick auf das obskure Werk werfen zu können.

Regie bei FAIT-DIVERS führt Claude Autant-Lara, damals gerade mal Anfang Zwanzig, und innerhalb der Filmgeschichte inzwischen wohl vor allem als erklärtes Feindbild der Nouvelle Vague bekannt: Es sind Regisseure wie Autant-Lara, René Clement oder Jean Delannoy, gegen die die jungen Wilden von den Cahiers du Cinéma ins Feld ziehen, da sie ein steifes „Qualitätskino“ bedienen, das jegliche schöpferischen Impulse dadurch erstickt, dass es sich träge auf literarische Klassiker und eine absolut konventionelle, nahezu anti-kreative Mise en Scene beruft. Tatsächlich dreht Autant-Lara vorzugsweise starbesetzte Konfektionsware: LE COMTE DE MONTE-CRISTO (1961) nach Dumas; LE ROUGE ET LE NOIR (1954) nach Stendhal; L’AUBERGE ROUGE (1951) nach Balzac – allesamt zwar Kassenschlager, aber freilich nichts, was dem Geschmack von Kino-Reformern wie Truffaut oder Godard auch nur annähernd entgegenkommen würde. Retrospektiv wird Autant-Lara erklären, dass ihn die Nouvelle Vague und ihre Vertreter förmlich aus dem Kinobetrieb herausgeschwemmt habe – und folgerichtig ab Mitte der 60er nur noch sporadisch Filme drehen, nach 1977 gar nicht mehr. Aufsehen erregt er erst wieder in den 80ern durch sein politisches Engagement für Jean-Marie le Pens „Front National“, für die er 1989 gar ins Europaparlament gewählt wird. Als mit knapp 90 ältestes Parlamentsmitglied bekommt Autant-Lara automatisch den Status des Alterspräsidenten zuerkannt. Mit seiner Eröffnungsrede löst er einen Eklat aus: Leider kann ich den Originaltext nirgendwo im Netz finden, doch scheint seine Rede nur so zu strotzen vor befremdlichen und skurrilen Formulierungen, die letztlich gar in den Holocaust mindestens verharmlosenden Aussagen gipfelten. Autant-Laras Politikkarriere endet nur wenige Monate später und sein irdisches Leben 2000 im methusalemischen Alter von 98 Jahren.

Hat man sich in Autant-Laras Output der 40er bis 60er bereits ein bisschen umgeschaut, staunt man nicht schlecht, wenn man sein Debüt FAIT-DIVERS zu Gesicht bekommt, bei dem es sich um einen waschechten Independent-Experimentalfilm handelt, sowohl produktionstechnisch wie ästhetisch vollkommen außerhalb der etablierten Filmindustrie gedreht. Hierfür ist wohl nicht zuletzt Produzent Marcel L’Herbier verantwortlich, der später mit Projekten wie dem feuchten Traum eines jeden Kubisten L’INHUMAINE (1924) oder der megalomanischen Zola-Adaption L’ARGENT (1928) Avantgarde-Filmgeschichte schreiben sollte. Ebenfalls mit an Bord sind Autant-Laras Mutter Louise Lara, ihres Zeichens renommierte Schauspielerin der Comédie-Francaise, sowie ein gewisser Paul Barthet, der ansonsten in keinem weiteren Film aufgetaucht zu sein scheint. An der Kamera agiert Henri Barreyre, der zu einem gefragten Operateur des französischen Kinos der 30er werden sollte; den entfesselten Schnitt besorgt Autant-Lara selbst; vervollständigt wird das nur über drei Akteure verfügende Ensemble von Artaud, der seinerzeit im Umfeld der Surrealisten als Poète maudit in Erscheinung tritt, und heutzutage vor allem noch für seine (oft genug missverstandene) Idee eines „Theaters der Grausamkeit“ berühmt ist, der der Italo-Horror-Aficionado oft und gerne in Verbindung mit Fulcis Splatter-Kunst der frühen 80er über den Weg laufen kann.

Was mir bei meiner Erstsichtung von FAIT-DIVERS die Kinnlade in kamikazeartigen Sinkflug versetzt hat, das war nicht unbedingt so sehr, dass mich der Film auf emotionaler Basis besonders berührt hätte, (das tat er nämlich nicht), oder dass es mir ungemeine Freude bereitete, den jungen Artaud in Aktion zu sehen, (das tat es nämlich), sondern vielemhr der Umstand, dass FAIT-DIVERS in kaum einer mir bekannten Geschichte des Experimentalfilms erwähnt wird – und wenn, dann bloß versteckt in den Fußnoten einer Fußnote. Egal, ob man von filmischem Surrealismus sprechen möchte, oder vom spezifisch französischen Stummfilmimpressionismus, oder von Filmen, die es fertigbringen, narrative und absolute Elemente miteinander zu verrühren, und egal, ob man Germaine Dulacs LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN oder Dalís/Bunuels UN CHIEN ANDALOU als ersten surrealistischen Film bezeichnen möchte, oder ob man Louis Delluc, Abel Gance oder Jean Epstein die Ehre erteilt, den ersten impressionistischen Film Frankreichs gedreht zu haben – FAIT-DIVERS kommt den üblicherweise angeführten Werken genannter Regisseure entweder zeitlich voraus oder hält problemlos mit ihnen mit, was seinen schieren Willen angeht, die schematische Bildsprache des Spielfilmkinos in tausend schwarzweiße Fetzen zu zerschießen.

Die Story ist völlig zweitrangig, fragmentarisch, diffus: Eine Frau und zwei Männer. Mit dem einen scheint sie verheiratet, in einen andern hat sie sich verguckt. Monsieur 1, dessen Perspektive wir einnehmen, kocht vor Eifersucht wegen Monsieur 2. In ausufernden Tagträumen imaginiert er sich seine Liebste in einer Jazz-Bar schäkernd mit dem Nebenbuhler oder steigert sich gar in Mordphantasien hinein, wie er Monsieur 2 langsam erdrosselt. So weit, so banal: Mehr liefert das Drehbuch aus narrativer Hinsicht nicht, und will es offenkundig auch gar nicht, was man allein daran sieht, dass diese bruchstückhafte, kaum über eine abgeschmackte Grundskizze hinausgehende Handlung durch zahllose technische Innovationen und zusammenhanglos anmutende Szenen nicht nur durchbrochen, sondern nach allen Regeln der Kunst gepfählt wird, - Szenen und Innovationen, die allein für sich stehen, ihren ästhetischen Wert in sich selbst tragen, ohne groß etwas erzählen oder bedeuten zu müssen.

Autant-Lara arbeitet mit Doppelbelichtungen, bei denen beispielweise Artaud (alias Monsieur 2) als Parade seiner eigenen Doppelgänger ein Haus betritt; es gibt für heutige Augen mitunter unfreiwillig komisch wirkende Zeitraffersequenzen, in denen die Personen sich bewegen, als würden unsichtbare Schnüre sie in Windeseile durch die Szenerien ziehen; in wahren Gaspar-Noé-Rotationen wirbelt die Kamera um ihre eigene Achse, während sie den regen Pariser Straßenverkehr filmt; immer wieder: Großaufnahmen von Händen, Gesichtern, von den Wellenkämmen der bedrohlich sprudelnden Seine; in einem stilisiert-sterilen Raum, der links und rechts von übergroßen Musiknoten flankiert wird, tanzen Artaud und Louise Lara miteinander, winzigklein angesichts der überbordenden Bühnenarchitektur; in einer Einstellung, die die Köpfe unserer Protagonisten ornamenthaft nebeneinander anordnet, findet der Film nicht nur zu einem Bild, das seine Ménage-à-trois pointiert zum Ausdruck bringt, sondern scheint frappant einen ganz ähnlichen Moment in Dulacs COQUILLE zu antizipieren; Höhepunkt ist allerdings jene bereits erwähnte Szene, in der Monsieur 1 seinem Widersacher den Garaus macht und Artaud einen völlig theatralisch überzogenen Zeitlupentod stirbt: Sein schwarzgeschminkter Mund scheint wie ein aufs Trockene geratener Fisch nach Luft zu schnappen, sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse irgendwo zwischen Agonie und Orgasmus, regelrecht tröpfchenweise scheint das Leben aus ihm herauszurinnen.

Natürlich kann man FAIT-DIVERS seinen fehlenden Fokus vorwerfen, seinen Manierismus, seinen angestrengten Stilwillen: Über weite Strecken wirkt es nicht anders, als ob man einfach zahllose Stadtansichten aus ungewöhnlicher Kameraperspektive, zahllose technische Tricks, zahllose bedeutungsschwangere, letztlich aber sinnentleerte Aufnahmen der Darsteller ohne rechten roten Faden aneinandergereiht hätte, und das angedeutete Liebesmelodrama mehr schlecht als recht dafür herhalten muss, ein notdürftiges Lötmaterial zwischen all diesen disparaten Teilen zu bilden. Wohl deshalb hat mich FAIT-DIVERS auch nicht so sehr emotional abgeholt, wie, um nur einige Beispiele zu nennen, Louis Dellucs FIÈVRE (1921), bei dem wilde Story und wilde Kinematographie Hand in Hand gehen, oder Jean Epsteins COEUR FIDÈLE (1923), der seine ikonoklastischen Effekte gezielt einsetzt, um eine anrührende Geschichte zu transportieren, oder Henri Chomettes JEUX DES REFLETS ET DE LA VITESSE (1925), der sich gar nicht erst bei irgendwelchem narrativen Ballast aufhält, sondern sich ganz den visuellen Eindrücken hingibt, die seiner Kamera bei einer Zugfahrt quer durch Paris in die Linse geraten.

Aber, puh, wenn ich dann sehe, wie die Kamera hier umherwirbelt, dass es wirkt, als würde dieses emotional bis zum Bersten aufgeladene Liebesdreieck ganz Paris aus den Fugen geraten lassen, oder wie Artaud, in einem schrägen Winkel unterhalb des Kameraobjektivs liegend, nach Luft schnappt wie ein erstickender Fisch, dann kehrt mein Staunen darüber mit Siebenmeilenstiefeln zurück, dass diese interessante, manchmal faszinierende, manchmal anstrengende Fingerübung eines aufstrebenden Regisseurs, der letztlich einen ganz anderen, kein bisschen mehr progressiven, die Starrheit über die Agilität in jedweder Hinsicht setzenden Weg einschlagen sollte, bislang so unbesungen ist im Kanon der 20er Filmavantgarde.

Umso erfreulicher, dass ARTE den Streifen derzeit in der hauseigenen Mediathek zur Verfügung stellt. Man schaue und staune:

https://www.arte.tv/de/videos/098026-002-A/vermischtes/
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