Das Mirakel der Wölfe - Raymond Bernard (1924)

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Salvatore Baccaro
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Das Mirakel der Wölfe - Raymond Bernard (1924)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Le miracle des loups

Produktionsland: Frankreich 1924

Regie: Raymond Bernard

Darsteller: Vanni Marcoux, Charles Dullin, Yvonne Sergyl, Romuald Joubé, Gaston Modot, Armand Bernard, Ernest Maupain, Fernand Mailly


1461, kurz nach Ende des Hundertjährigen Krieges mit England, kehrt ins französische Königreich noch immer keine Ruhe ein: Nach dem Tod Karls des VII. besteigt dessen Sohn Ludwig XI. den Thron und sieht sich sogleich in Zwistigkeiten mit Karl dem Kühnen, seines Zeichens Herzog von Burgund, verwickelt, da es diesen nach Machtzugewinn, konkret: der Königskrone, dürstet und er nicht davor zurückschreckt, dem Landesvater offen den Krieg zu erklären, als dieser ihn öffentlich demütigt. Die Schlacht von Monthléry fällt unentschieden aus, dafür gelingt es Karl dem Kühnen, Ludwig XI. bei einem Treffen in Péronne, das eigentlich konsolidierenden Verhandlungen dienen sollte, in seine Gewalt zu bringen, als in dem Städtchen Liège das königstreue Volk gegen den burgundischen Gouverneur den Aufstand probt. Unter dem Vorwurf, Ludwig habe die dortige Bevölkerung per Sendschreiben zur Revolte gegen den Herzog aufgestachelt, möchte Karl den königlichen Kopf rollen sehen – alles, was unseren Regenten noch retten kann, ist der Beweis, dass er in dem Brief, den er nach Liège auf den Weg gebracht hat, die Stadtbewohner vielmehr zu Besonnenheit auffordert und ihnen um des lieben Friedens Willen regelrecht verbietet, zur Waffe zu greifen. Der umtriebige Graf von Lau, der schon längere Zeit darum besorgt ist, den Konflikt zwischen Ludwig und Karl am Schwelen zu halten, setzt nunmehr alles daran, in den Besitz des Briefes zu gelangen und ihn verschwinden zu lassen, weshalb er sich mit seinen Häschern an die Fersen des Mädchens Jeanne und ihres Vaters heftet, die damit beauftragt worden sind, das Schreiben nach Liége zu befördern. In der verschneiten Wildnis wird zunächst Jeannes Vater ermordet, sodann möchte man dem Mädchen an den Kragen, doch dies lässt die göttliche Gerechtigkeit nicht zu: Ein Rudel Wölfe wirft sich für die frenetisch betende Jeanne in die Bresche, schützt die Jungfrau vor ihren Feinden und bereitet diesen wiederum eine blutige Überraschung. Nachdem Jeanne somit bereits zur Heiligen geworden ist, muss sie, endlich angekommen in Liège, auch noch beweisen, dass ein echter Kämpfer in ihr steckt: Unter ihrem Kommando widersetzen sich die Bürger den Zugriffen der Burgunder und es entbrennt eine wahre Schlacht, die Jeanne von der Nachwelt den Beinamen „Hachette“ einbringen wird. Um aber noch mehr siedende Emotionen in die Waagschale zu werfen, trifft auch Jeannes Verlobter in Liège ein – allerdings als Soldat der feindlich gesonnen Burgunder, der nicht schlecht staunt, in der eine ganze Stadt befehligenden Revolutionärin seine Liebste wiederzuerkennen…

LE MIRACLE DES LOUPS ist ein Blockbuster aus dem Jahre 1924, der völlig unverhohlen den epochalen Atem eines D.W. Griffith schnaubt, und mit seinen hunderten Komparsen, seinen Dreharbeiten jenseits von Studiosterilität in tatsächlichen Burgruinen, seinen fulminanten Schlachtszenen, seinen überbordenden Dekors, Kostümen, seiner Verpflichtung der namhaftesten zeitgenössischen Schauspieler zu den teuersten Filmproduktionen zählt, die Frankreich bis dato gestemmt hat. Weit über zwei Stunden lang breitet Raymond Bernard, der zuvor hauptsächlich Stücke seines eigenen Vaters verfilmt hat und mit vorliegendem Werk den Sprung zum Shooting Star schaffen wird, dem auch in der Folge immer wieder bombastisch-historische Stoffe anvertraut werden sollten, vor uns ein Panorama aus Hofintrigen, Romeo-und-Julia-Herzschmerz, rasselnden Hellebarden und surrenden Armbrustpfeilen aus, dass ich die Begeisterung, die dem Film seinerzeit von Publikum und Kritik entgegengeschlagen ist, durchaus nachvollziehen kann. Selbst wenn man die arg konstruiert wirkende Liebesgeschichte, die wohl der Phantasie der Drehbuchautoren entsprungen sein und nicht viel mit den geschichtlichen Fakten zu tun haben dürfte, außen vor lässt, und auch wenn man ein paar Schritte zurücktritt vor der manchmal doch sehr nach Theaterbühne riechenden Inszenierung, bleibt ein unterhaltsames Epos, das sich zwar auf einer etwas simplen Schwarzweißmalerei ausruht – (König Ludwig XI. steht konsequent auf der weißen Seite der Macht, Karl der Kühne auf der lichtlosen) –, aber, wie übrigens nahezu alle Filme Bernards, die ich bislang gesehen habe, mindestens eine Handvoll Szenen aufbietet, für die es sich dann doch lohnt, Hals über Kopf abzutauchen ins feudalistische Spätmittelalter: Da ist ein Mysterienspiel aus dem 13. Jahrhundert, das Ludwig nach seiner Krönung am Hofe aufführen lässt, und in dem sich Monstren wie aus einem Hieronymus-Bosch-Gemälde tummeln, dass es mir eine helle Freude bereitet; da ist die Schlacht von Monthléry, bei der Bernard eine entfesselte Handkamera für sich entdeckt, die seemannstrunken zwischen den Kämpfenden umherschlingert, bei der das gegenseitige Abschlachten montagetechnisch zerstückelt wird in eine desorientierende Abfolge von Großaufnahmen und Halbtotalen, bei der man nicht mal vor ein, zwei tricktechnisch relativ gut gelösten frühen Splattereffekten zurückscheut; da ist, nicht zuletzt, die titelgebende Begegnung unserer Heldin Jeanne mit den Wölfen, gedreht unter freiem Himmel in einer weiten Schneelandschaft, in der der Film kurzzeitig in einen märchenhaft-frommen Legendenton verfällt, der mich ebenso entzückt wie das Agieren der dressierten Isegrimms, die sich mütterlich um Jeanne sorgen, und mit umso gefletschteren Kiefern gegen die vorgehen, die dem Mädchen nach dem Leben trachten. Und wenn dann auch noch Gaston Modot, von dem ich mich inzwischen frage, in welchem französischen Film zwischen den 20ern und 40ern dieser geniale Mime NICHT mitgespielt hat, den bösartigen Grafen von Lau verkörpert, bin ich sowieso im siebten Himmel…
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