Claudine - Martin Cognito (2002)

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Maulwurf
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Claudine - Martin Cognito (2002)

Beitrag von Maulwurf »

Claudine
Claudine
Frankreich 2002
Regie: Martin Cognito
Ovidie, Hervé P. Gustave, Alban Ceray, Jade, Manuel Ferrara, Lilith, Estelle Laurence, Jean-Seb Bach, Thibault, Pinkie, Juliette Dragon, A.X.L.


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Wenn David Lynch jemals einen Porno drehen würde, dann könnte er so aussehen. Die Sexdienstleisterin Claudine findet ein Videoband, auf dem zu sehen ist was heute passierte: Der Anruf am Morgen, das Herrichten des Studios, der eintreffende Kunde, der Unfalltod des Kunden, die verzweifelte Aufräumaktion und das Eintreffen der Polizei. Das Band endet damit, dass Claudine das Band anschaut! Bei der nächsten Sichtung läuft das Band dann ein gutes Stückchen weiter, und zeigt sogar das Eintreffen der nächsten Kunden am kommenden Morgen. Und bei der dritten Sichtung sieht Claudine, wie sie einen Mord begehen wird …

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Der standardisierte Mainstream-Porno der letzten geschätzt 20 Jahre besteht in erster Linie aus einer abgefilmten Reihe von Rammelszenen, die steril und ausgesprochen athletisch oft eher zum Abschalten reizen als zum Aufgeilen. Eins und zwei, zwei auf eins, von hinten von vorne von unten von oben von links von rechts, Oh ja Baby mach es mir, Ohderistsohartichbinsogeil, und immer immer immer endet es mit dem Cumshot auf den Körper oder ins Gesicht der Frau. Gähn …

CLAUDINE ist anders. CLAUDINE kommt erst nach 35 Minuten Laufzeit zur ersten intensiveren Sexszene, und bis man die Hauptdarstellerin überhaupt einmal komplett nackt sieht vergeht noch viel mehr Zeit (auch wenn der Film damit beginnt, die nackte und schlafende Claudine mit der Kamera zu streicheln – Eine zärtliche und fast verschämt wirkende Szene). Bis dahin ergeht sich CLAUDINE in düster-mysteriösen SM-Dekors, in Folterstudios und in einer Kunstaktion (oder so etwas ähnlichem), die damit endet, dass der Polizist, der den Tod von Claudines Kunden untersucht, wilden Sex hat mit zwei weiblichen Dalmatinern. Auch hier ist die Atmosphäre eher nebulös, auch wenn der Auftritt von Alban Ceray als alterndem Impresario heiter-grotesk angelegt ist, aber es bleibt einfach alles etwas verschwommen. Eine sehr starke und den Zuschauer reizende Stimmung, die nicht wie so oft durch den exzessiven Einsatz von Weichzeichner entsteht, sondern durch eine Akte X-artige Narration und eine Kameraführung, die sich lange Zeit weigert zu viel zu zeigen.

CLAUDINE muss auch nicht immer alles zeigen, denn der Film hat eine Handlung, die durch Sexszenen ergänzt wird und damit ist er die Erweiterung des Pornos auf die Ebene des Arthouse im Stile eines David Lynch. Vielleicht ein klein wenig vergleichbar mit Michael Ninns HC-Dystopie LATEX, ist CLAUDINE erfrischend anders. Düster, intelligent, sexy – Welcher Porno kann diese drei Attribute schon auf sich vereinen?

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Vor allem wahnsinnig sexy ist CLAUDINE geworden, gerade WEIL nicht immer alles gezeigt wird, und gerade WEIL der Sex nicht so olympiareif dargestellt wird. Natürlich sind die Darsteller*innen so gut gebaut wie das eigene Selbst davon nur träumen kann, aber wenn ich dicke schwitzende Menschen sehen will schaue ich in den Spiegel. Wenn ich einen Porno anschaue, dann möchte ich schöne Menschen sehen die schöne Dinge tun.
Tun sie das? Werden hier schöne Dinge getrieben? Nun ja, nicht immer. Gerade der erste Kunde, der das Video in Claudines Leben mitbringt, wirkt extrem unbeteiligt, und auch der Sex mit dem Schwarzen endet eher in einer alltagstauglichen Szene. Seltsam für einen Film, der sich forciert in träumerischen Andeutungen und Rätseln ergeht, und damit eine spannende und dramatische Stimmung erzeugt. Wenn Claudine sich selbst befriedigt, während sie gleichzeitig auf dem Video anschaut was sie mit dem letzten Pärchen gemacht hat, dann ist dies hocherotisch und melancholisch-düster zugleich. Melancholisch deswegen, weil Claudine in diesem Augenblick ausgesprochen verletzbar und natürlich wirkt, und ihre Einsamkeit, und die Unfähigkeit, mit ihrer eigenen Lust umzugehen, sehr deutlich werden. Dies ist, nach fast einer Stunde Laufzeit, auch das erste Mal, dass wir die Darstellerin Ovidie in ihrer ganzen und natürlichen Schönheit sehen. Nicht verkleidet und gestylt, sondern so wie sie ist. Claudine wird erregt wenn sie sich selbst zuschaut: Was für ein Kommentar zur Sexualität des 21. Jahrhunderts. Und dass in dem Moment, wenn sie sich das Handy selbst hineinsteckt, ein Anruf auf ebendiesem Handy kommt und das Multifunktionsspielzeug für den modernen Menschen vibriert, ist dann die Fußnote zu diesem Kommentar …

Es gibt da diese Sequenz, wenn Claudine durch das nächtliche Paris läuft, und inmitten der Sex-Reklame und den Pornoschuppen fast verloren wirkt. Gerade hat sie den Rat bekommen mal wieder ordentlich durchgebumst zu werden, doch es gibt einfach niemanden der ihr nahe steht. Sex ist für sie in erster Linie berührungslos und vor allem Geschäft. Genauso ein Geschäft, wie sie das auf diesem Spaziergang um sich herum wahrnimmt. Das Angebot des Schwarzen, mit ihr die Nacht zu verbringen, nimmt sie gerne an, aber sie ist dem Business und dem dahinterstehenden Gedanken zutiefst verhaftet: Leistung, Dauergeilheit, Erotik vom Fließband (Hochleistungsficken wird das bei FIGHT CLUB genannt), und da auch der Liebhaber in dieser Gedankenwelt lebt, geht der One-Night-Stand gnadenlos schief und sie wirft den Mann aus der Wohnung. Zurück bleibt eine verletzte Hülle die sich fragt, warum eigentlich alles so anders gekommen ist als ursprünglich gedacht. Und dabei befinden wir uns hier immer noch in einem Pornofilm, was erstaunlich ist, haben doch viele von uns diese Situation so oder ähnlich bereits erlebt: Die Videorealität der Hochglanzpornos hat unsere Selbstvorstellung schon längst so beeinflusst, dass wir denken wir könnten das, was diese gut bestückten und sportlich trainierten Athleten können, ebenfalls. Die Wirklichkeit holt uns dann oft ganz schnell ein, und ein ernüchternder Blick auf das Ich als Liebhaber zeigt uns den deutlichen und deprimierenden Unterschied zwischen einem Pornostar und uns selbst. Diese Situation in einem Pornofilm zu zeigen finde ich ganz außerordentlich, und vor allem irritierend mutig. In diesem Zusammenhang sei auf die Filmsammlung SEX STORIES verweisen, gedreht von Jack Tyler und Ovidie, die „darauf abzielt, realistischere Sexszenen als üblich zu zeigen und die Unterschiede in der Wahrnehmung von Sexualität bei Männern und Frauen zu beschreiben. [..] Auf Canal + in seinem für X [also Erwachsenenfilme] vorgesehenen Zeitfenster ausgestrahlt, hat er die beste Publikumsbewertung des Senders seit drei Jahren erhalten, mit dreimal mehr weiblichen Zuschauern als üblich." (1)

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Auffallend ist auf jeden Fall, dass die männlich dominierten Szenen, also sowohl die Demütigung des ersten Kunden, die Szene mit dem Polizisten und den Hunden sowie die Schlussszene, sehr kühl gehalten sind und eher in Begriffen wie professionell gehalten oder geschäftsmäßig beschrieben werden können. Die Paarszene hingegen ist eher vom weiblichen Gesichtspunkt aus gefilmt – Der Mann sitzt im Hintergrund und onaniert, während Claudine ihre Kundin mit einem Dildo befriedigt. Zwar wiederum ein männliches Symbol, aber von einer Frau eingesetzt, und ohne den rein phallischen Duktus den man sonst so oft sieht, sondern vielmehr mit dem Anspruch, Lust zu schenken. Ovidies Anspruch, weibliche Sexualität darzustellen, und der Anspruch des Produzenten, männliche Sexualität zu verkaufen, gehen hier einen interessanten Dialog ein. Der männliche Höhepunkt ist in CLAUDINE mitnichten die Climax des Aktes, wie es normalerweise immer der Fall ist. Der Phallus als Symbol der Macht wird zwar in den beiden Sexszenen des Polizisten sehr wohl thematisiert, was natürlich auch zu seiner Charakterisierung als Machtmensch passt. Aber sein Höhepunkt ist eben nicht der Höhepunkt der Frau – Bei der abschließenden Szene spritzt er auf seinen eigenen Körper, nicht auf den der Frau, und für die vorhergehende Demütigung Claudines wird er auch entsprechend bestraft. Es fällt auch auf, dass Claudine sich lange weigert, den Penis des Polizisten in den Mund zu nehmen, und wenn man weiß, dass Ovidie demütigende Praktiken auch in ihren Filmen rigoros ablehnt, dann stellt sich durchaus die Frage, in wieweit der dargestellte Ekel Claudines nicht auch der Ekel Ovidies ist. Und ob die Szene so wohl im Drehbuch stand ...

In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Hauptdarstellerin Ovidie und ihren Werdegang interessant. Seit dem Beginn ihrer Karriere ist Ovidie sowohl als Darstellerin wie auch als Regisseurin unterwegs, sowohl im HC-Bereich wie auch in Nicht-HC-Filmen. Die Mitwirkung in Jean Rollins NACHT DER UHREN spricht für einen gewissen Anspruch der eigenen künstlerischen Ziele (ganz zu schweigen von der Mitarbeit an dem 2001 entstandenen DER PORNOGRAPH, der sich, zumindest der Beschreibung nach, Rollins Leben als Fiktion annimmt). In der Vita der bekennenden Feministin finden sich aber auch Filme wie INFIDÉLITÉ, an dem sie als Produzentin, Regisseurin, Cutterin, Kamerafrau und Schauspielerin gearbeitet hat, genauso wie Dokumentarfilme über die Pornobranche (PORNOCRACY – DIE DIGITALE REVOLUTION DER PRONOBRANCHE) und über die Ausgebeuteten in der weiten Welt der Prostitution (WO SEXARBEITERINNEN KEINE RECHTE HABEN). Die Ausgangssituation war dabei, dass Ovidie einen radikalen Feminismus in den Porno-Betrieb einbringen wollte. „Sie zeichnete sich nicht nur durch ihre Karriere als Philosophiestudentin aus, sondern auch durch einen Protestdiskurs - sie präsentierte sich als "Sexarbeiterin" - und Feministin, der ihr damals den Spitznamen "Intellektuelle" einbrachte.“ (1) Eine Frau, bei der es sich definitiv lohnt, sich mit ihrem Material und ihrer Karriere näher zu beschäftigen.

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CLAUDINE ist spannend-mysteriöses Hardcore-Kino für denkende Menschen, in dem man sowohl sehr starke, sexy Szenen wie auch einiges für den eigenen Intellekt finden kann. Die attraktiven Darsteller und die mysteriöse Handlung tun ihr übriges, CLAUDINE weit aus dem Einheitsbrei herauszuheben. Unbedingte Empfehlung für alle, die beim Benutzen der rechten Hand ihr Gehirn nicht ausschalten wollen …

(1) Alle Zitate übersetzt aus https://fr.wikipedia.org/wiki/Ovidie

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