Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Meuterei am Schlangenfluss (Anthony Mann, 1952) 8/10

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james-stewart-western-box-6-brs-blu-ray-stewart.jpg (22.08 KiB) 246 mal betrachtet

Glyn McLyntock soll eine Gruppe Siedler von Missouri bis nach Oregon führen. Unterwegs sammelt er den früheren Banditen Emerson Cole auf, er schüttelt ihn gewissermaßen von einem Baum, und gemeinsam bringt man die Siedler nach Portland. Dort kauft man vom örtlichen Wirtschaftsmagnaten Hendricks Lebensmittel für den Winter, und dieser verspricht, die Sachen bis Mitte September geliefert zu haben. Wochen später kommen die Siedler an ihrem Ziel an und beginnen sich einzurichten, aber die Lebensmittellieferung bleibt aus, und damit ist gewährleistet, dass der bevorstehende Winter nicht überstanden werden kann. McLyntock reitet nach Portland – Und landet in einem Hornissennest. Nachdem Gold gefunden wurde, haben sich die Lebensmittelpreise mittlerweile verzigfacht, und Hendricks weigert sich schlichtweg, seinen Teil des Handels einzugehen, weil er mit den Diggern mehr verdienen kann. Cole und McLyntock stehlen die Ware und wollen sie, mit der Hilfe einiger angeheuerter Galgengesichter, zu den Siedlern bringen, aber Hendricks lässt das nicht auf sich sitzen und verfolgt die kleine Gruppe. Unterwegs stellt Cole fest, dass die Goldgräber in der Wildnis ihm bis zu 100.000 Dollar bieten, wenn sie die Lebensmittel bekommen. Ein Preis, der ihn situativ nahe zu den besagten Galgengesichtern bringt. Und der ihm zwangsläufig McLyntock vor die Mündung seiner Pistole holt, denn der hält zu den Siedlern …

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Klassisches und großes Abenteuerkino! Ein aufrechter Mann mit zweifelhafter Vergangenheit, der zu den kleinen Leuten steht und jeden Gedanken an die eigene Bereicherung hintenan stellt, im Kampf mit anderen, ebenso harten Männern, die nur Geld wollen, und denen das Schicksal anderer Menschen schnurzpiepegal ist. James Stewart hat zwar noch ein wenig das weiche und Sonnyboy-artige seiner Vorkriegsfilme, aber der weiche Kern wird von einer sehr harten Schale umschlossen. Das perfekte Gegenstück und gewissermaßen die Umkehrung McLyntocks ist dann Arthur Kennedy als Cole, der immer lustig lacht und immer schnell ist mit dem Colt, und der den Tod in seinen Augen perfekt verbergen kann. Zwei großartige Schauspieler in einem großartigen Duell, und auch wenn von vornherein klar ist wie dieses Duell ausgehen w wird, so ist für den Zuschauer doch der Weg das Ziel.

MEUTEREI AM SCHLANGENFLUSS ist nicht eine einzige Sekunde langweilig! Es wird geschrien, geschossen, geritten und wieder geschossen, und falls ausnahmsweise nichts davon zutrifft dann nur, weil gerade geprügelt wird. Doch was in dieser Beschreibung wie ein plumper Actionfilm klingt ist unter der erstklassigen Regie von Anthony Mann eine hinreißend choreografierte Geschichte, die im Wesentlichen in sich stimmig ist und den abenteuerbegeisterten Zuschauer mit ihrem Tempo und ihrer kraftvollen Inszenierung einfach mit sich reißt. Die wenigen Löcher im Skript stören nicht weiter, kitschige Liebesszenen hat es fast gar keine, die Charaktere sind psychologisch fundiert ohne gleich in Geschwätzigkeit abzudriften, und irgendwie ist an diesem Film einfach alles am richtigen Platz. Wie so oft im klassischen und großen Abenteuerkino der silbernen Zeit Hollywoods.

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Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Unter den Brücken (Helmut Käutner, 1944/1946) 7/10

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Vor vielen Jahren habe ich mal Marcel Camus‘ ORFEU NEGRO gesehen, eine im Brasilien der Gegenwart angesiedelte Nacherzählung der griechischen Sage von Orpheus und Eurydike, die zwar rein prinzipiell ein modernes Setting hat und mit den Metaphern der Moderne auch umgeht, in ihrer Diktion und der Stimmung dabei aber ein reines Märchen ist. Ein Film, der gerade mit dieser Ambivalenz aus heutiger Großstadt und altem Märchen verzaubert und eine ganz eigene und wunder-bare und schwermütige Atmosphäre erschafft.

UNTER DEN BRÜCKEN zeigt sich als ebenso großes Märchen wie ORFEU NEGRO. Gedreht 1944 und uraufgeführt 1946, schafft Regisseur Helmut Käutner es scheinbar mühelos, Krieg, Zerstörung und Tod auszublenden und in einer zeitlos wirkenden Umgebung eine Geschichte über Freundschaft und Liebe, über Sehnsucht und Zusammenhalt zu erzählen.

Hendrik und Willy sind Flussschiffer. Enge Freunde, die nicht voneinander weichen und die am Seil eines Schleppers über die Flüsse Europas gezogen werden und Fracht von hier nach dort bringen. Sie sind mit ihrem Leben zufrieden, aber eines fehlt halt doch: Beide sehnen sich nach einer Frau an ihrer Seite. Wenn sie unter den Brücken hindurch fahren sehen sie, wie oben die Mädchen und Frauen stehen und ihnen nachschauen. Vielleicht voller Sehnsucht, vielleicht auch voller Neugierde, aber Hendrik und Willy werden hilflos weitergezogen und ihre kurzen Träume verschwinden schnell einmal hinter der nächsten Flussbiegung, wo wieder ein Mädchen auf einer Brücke stehen wird. Ob es ihnen zuwinken wird? Ob es schimpft? Das ist gleich, Willy und Hendrik werden es nie erfahren …
Eines Abends lernen sie Anna kennen, die sich vermeintlich von einer Brücke stürzen will. Hendrik bringt die junge Frau auf den Kahn, und gemeinsam fährt man von Potsdam nach Berlin. Eine kurze Strecke nur, aber es reicht, dass sie sich ineinander verlieben. Was nichts anderes heißen soll, als dass Hendrik sich verliebt, und dass Willy sich verliebt. Und Anna? Anna geht in ihre Wohnung, und keiner der beiden Freunde weiß wo diese Wohnung sein soll. Aber sie finden es heraus, und es beginnt ein Wettbewerb zwischen den Freunden: Wer bei Anna zum Zuge kommt geht vom Kahn, der andere bleibt.

Doch bis zu diesem tragischen Moment schippern wir mit großen glänzenden Augen durch die Flusslandschaften des Havellandes, sehen die alten deutschen Städte in ihrer modernen Pracht, und schauen zu, wie die Freundschaft zwischen den Männern unter der Bürde der Liebe zur gleichen Frau zu zerbröckeln beginnt. Haltet ein, möchte man ihnen zurufen, bleibt zusammen, mit den Frauen werdet ihr doch nur unglücklich, und hilflos muss man mitansehen wie Hendrik und Willy in ihr Unglück rennen. Aus Liebe, so wie Orpheus in die Unterwelt und damit in sein Verderben geht. Aus Liebe.

Anders als ich ursprünglich dachte, ist UNTER DEN BRÜCKEN kein Trümmerfilm, und auch kein später Propagandafilm. Gerade in den letzten Kriegsjahren wollten die Menschen in den noch verbliebenen Kinos nicht die Realität sehen, sondern vor dem Bombenhagel und dem Terror des Naziregimes in eine heile Welt flüchten. Käutner schafft hier das Kunststück, nicht nur das romantisierte Bild eines heilen Deutschlands zu erschaffen, sondern dies so geschickt in eine Märchen- und Wunderwelt einzubinden, dass etwas wie ein Zeitbezug völlig verloren geht. Hendrik, Willy, Anna und ihr Kahn – Etwas anders existiert nicht und wird auch niemals existieren. Eine zutiefst liebenswerte Welt, in welcher der Skipper morgens noch schnell Brötchen holt, eine umsonst geschlachtete Gans keinen finanziellen Verlust bedeutet, und Kunst etwas ist, was sich in selbstgemalten Efeuranken und Herzen an der Wand der Kajüte erschöpft.

Das mag vielleicht ein wenig abfällig klingen, ist aber nicht so gemeint! Auch heute noch funktioniert diese Traumwelt, genauso wie sie in ORFEU NEGRO funktioniert. Auch heute noch kann man zwar die Geschichte an sich in einer im heute angesiedelten Welt genießen, aber alles Unglück und alles Weh werden wie von Zauberhand ausgefiltert und zu etwas moduliert, was einem Märchenland verdammt nahe kommt. Ich meine, der Film ist 1944 gedreht worden, und die Drehorte wurden pragmatisch daran angepasst wo gerade Bomben gefallen waren und wo nicht. Wir sehen keine Verdunklung und keinen Fliegeralarm, in den Städten leuchten die Reklamen, Züge fahren über Brücken, und Fracht, bestehend aus Fässern und Kisten, kann problemlos von Berlin bis nach Rotterdam verbracht werden. Eine kleine Wunderwelt, ein in sich geschlossener Raum in dem Frieden und Licht die beherrschende Elemente sind, und die Liebe die Menschen nur temporär entzweit.

UINTER DEN BRÜCKEN ist etwas zum Träumen. Zum Liebhaben. Zum in den Arm nehmen und auf eine bessere Zeit hoffen. Der Teddybär unter den Filmen. Ist das etwas Schlechtes? Nein, es ist der Grund warum wir Menschen uns seit Anbeginn der Zeit Geschichten erzählen – Um uns Mut zu machen, und um an etwas Wahres und Gutes glauben zu können. Vielleicht ist der Film gerade zu Beginn der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts etwas, was uns wieder hoffen lässt, mit dem Ukrainekrieg, dem Krieg in Israel und all den doofen Pandemien in Europa. UNTER DEN BRÜCKEN ist ein schöner Film, der zum Träumen einlädt, ohne einen bitteren Nachgeschmack zu haben. Schön, dass es solche Filme und solche Geschichten gibt …
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Maulwurf
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Sword of God – Der letzte Kreuzzug (Bartosz Konopka, 2018) 7/10

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Nebel. Dunkle Wälder. Felsenlabyrinthe. Moos. Düsternis in wegloser Wildnis. Und mittendrin ein paar Menschen. Ein Stamm, inmitten einiger schwer zugänglicher Felsen lebend, von einem König und einem Schamanen angeführt, beten diese Menschen einen Gott namens Perun an. Sie hüllen sich in grobe Felle und schminken ihre Gesichter und Haare mit weißer Tonerde. Ein archaisches Leben auf Steinzeitniveau, die Waffen bestehen entsprechend in erster Linie aus behauenen Steinen.

In diese dunkle und in sich geschlossene Welt dringen Willibrord und Jan ein. Willibrord ist ein Missionar, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, diese Menschen zum einzig wahren Gott bekehrt und eine Kirche gebaut zu haben, bevor in ein paar Monaten sein König mit den Rittern kommt. Die erste Herausforderung ist der Schamane, den er in einem Duell grausam tötet. Daraufhin teilt sich der Stamm in zwei Gruppen auf. Und diejenigen, die Willibrord folgen, sind schnell besser bewaffnet. Doch Jan, dem der Tod des Schamanen sehr nahe ging, geht einen anderen Weg. Er näht sich selber die Lippen zu und wird vom Hauptstamm daraufhin als Prophet verehrt. Die Tochter des Stammeskönigs verliebt sich in Jan, aber Willibrord sagt, dass Jan ein falscher Prophet ist. Und falsche Propheten müssen sterben, denn nur er selber ist der wahre Prophet.

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Bewegte Bilder aus einer völlig anderen Welt. Ich weiß, das mit der „anderen Welt“ schreibe ich öfters, und ich meine damit genauso oft L.A. Central wie die Hinterhöfe von Neapel. Aber das hier, das ist anders. Ganz anders. Fremd. Wild. Ungeheuerlich. Die Missionierung von Heiden auf einer kleinen Insel. Ein Priester, der Menschen zu dem einen wahren Gott bekehren will. Und willst Du nicht mein Bruder sein so schlag ich Dir die Fresse ein. Filme wie Aleksey Germans ES IST SCHWER EIN GOTT ZU SEIN fallen mir da ein, oder Frantisek Vlácils MARKETA LAZAROVÁ. Filme, die in dreckiger Düsternis spielen und zeigen, was Menschen Menschen antun können und vor allem auch wollen. Und es ist schier unglaublich, mit welcher Intensität und Kunstfertigkeit Kameramann Jacek Podgórski diese archaische und dunkle Welt in Licht und Schatten taucht und mit Bildern zum Vorschein kommt, die wie grausame Gemälde eine unsagbare Schönheit ausstrahlen. Gemalte Momente des Grauens und des finstersten Menschseins, umrahmt von dieser schrecklichen Harmonie der reinen Natur

Die Geschichte, die von diesen Bildern aus Licht und Dunkel wie Suchschweinwerfern punktuell angestrahlt wird, birgt dabei relativ wenig Überraschungen. Zwei Missionare auf dem Weg zu Himmelreich und Hölle, und dass dieser Weg von jeder Menge Leid und Tod gesäumt ist, das überrascht niemanden, der jemals einen Blick in ein Buch der Menschheitsgeschichte geworfen hat. Oder der Kirchengeschichte, denn Regisseur Bartosz Konopka legt die schwärende Wunde namens gewaltsame Missionierung schon mit einer reichlichen Menge Bosheit frei. Der Alleinvertretungsanspruch des Propheten und das bittere Ende all der bislang freien Menschen sind nur die zwei Eckpfeiler, zwischen denen sich die alte Geschichte von Unterwerfung und Tod abspielt. Es fällt auf, dass die kleine heidnische Gemeinschaft mit sich und mit der Welt in Einklang steht. Man lebt mit der Natur, nicht gegen sie, man schläft in großen, aneinandergekuschelten Gruppen, man berührt sich viel und zärtlich, es ist eine Gemeinschaft im besten Sinne. Dem steht Willibrord gegenüber, der Steine zerschlägt um ein Fundament für seine Kirche zu erstellen, welche er aus gefällten Bäumen bauen wird. Wenn die abgespaltenen und somit „bekehrten“ Heiden bewaffnet werden ist dies der bezeichnendste Punkt der Geschichte: Nun haben diejenigen, die bisher nicht so ganz zufrieden waren in der Gemeinschaft, die immer wieder Anzeichen von Unruhe bis hin zur Aggression gezeigt haben, nun haben diese Männer endlich die Möglichkeit zu zeigen was sie wollen. Sie können Macht ausüben, sie können ihre Gewaltfantasien herauslassen, sie können hemmungslos sein. Ob die Kamera dann Heiden mit Waffen zeigt, kriegslüsterne Soldaten des Weltkriegs oder Fußball-Hooligans, das ist in dem Augenblick gleich, und die Szenerie ist auch immer die gleiche. Der Anführer der vorneweg geht und aufstachelt, und das Fußvolk hinterher voller Vorfreude auf das große Schlachten. Da ist es schon vollkommen wurscht, ob hier die Kirche ins Spiel gebracht wird oder ob das eine andere Gruppierung wäre. Hier sind es halt in Felle gehüllte und naturnah lebende Menschen, die durch Nebel und bemooste Steine wandelnd inmitten karg-romanischer Landschaften ihre Urschreie ausstoßen sich ihrem gewaltsamen Tod nähern.

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Vom ästhetischen Standpunkt gesehen ist SWORD OF GOD großartiges Kino, das unbedingt auf die ganz große Leinwand gehört. Die Geschichte hinter diesen Bildern allerdings tut weh, und sorgt für viel Unruhe im Gedärm. Auch wenn die ein oder andere Szene vielleicht ein klein wenig zu langsam erscheint, so wird gerade durch diese langsame und ausgesprochen ruhige Erzählweise, die nicht von großartigen Actionszenen oder Schockmomenten lebt, sondern vielmehr vom langsamen Grauen, eine meditativ-schreckliche Atmosphäre aufgebaut, die dann, wenn der Film zu Ende ist, den Zuschauer zu seinem eigenen Erstaunen noch nicht verlässt. Diese hypnotischen Gemälde und die beunruhigende Erzählung gehen eine Einheit ein, die in ihrer Perfektion fast an die Gemeinschaft der Heiden erinnert. Und auf eine unbestimmte Art an einer Sehnsucht nach einem anderen, einem einfacheren Leben rührt. Allerdings einem ohne Kampf oder gar Missionierung.

VVITCH: A NEW-ENGLAND FOLKTALE mag als filmischer Vergleich dienen, oder besser noch VIKING VENGEANCE – Die Synthese aus schönem Arthouse und blutigem Naturschauspiel, eingebettet in eine Welt die wir modernen Menschen niemals verstehen werden, und die uns wahrscheinlich genau deswegen so fasziniert. SWORD OF GOD entführt uns in eine Welt aus Düsternis und Grauen und zeigt uns dort die Schönheit des Todes. Ein bemerkenswerter und berührender Film.

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Maulwurf
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Time Breaker (Ferdinando Baldi, 1975) 6/10

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Wenn der eine Mann ein Karussell mit 5 Kanonen hat, und der andere ein großkalibriges Vielfachgewehr, wer meinst Du gewinnt das Duell?

Dem namenlosen Fremden, der mitten in der Wüste hinter seinem Pferd an einem Strick hing und durch die Gegend geschleift wurde bis hin zu einem verlassenen Kaff, diesem namenlosen Fremden werden 10.000 Dollar geboten, wenn er die Prinzessin Elizabeth Maria del Burgos zurück nach Spanien bringt, und die Barbaren, die das Land überfallen haben verjagt. Und die Prinzessin wieder auf ihren Thron setzt. Für 50.000 Dollar macht der Namenlose das glatt, aber er rechnet nicht damit, dass die Barbaren so richtig … barbarisch sind. Und irgendwie an die drei Brüder Rojo aus FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR erinnern, in ihrer Gemeinheit, Kampfeslust und Heimtücke. Der Fiese, der Böse und der Heimtückische, gewissermaßen. Aber er ist der namenlose Fremde in Gestalt von Tony Anthony, und da muss schon deutlich mehr daherkommen als in Felle gehüllte Barbaren (und Barbarinnen!) die ihn an den Füßen aufhängen, oder Geister die ihn in einen Wolf verwandeln wollen …

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Ganz heftiger Stoff, das. Die Geschichte ist im Prinzip die gleiche wie im 1968’er-Flick DER SCHRECKEN VON KUNG FU, nur dass es den Stranger dieses Mal nicht nach Japan verschlägt sondern eben nach Spanien. Und er nicht Samurais bekämpfen muss, sondern Barbaren. Raf Baldassarre im stählernen Harnisch und mit Wikingerhelm, David Deyer als schwuler Sadist, und Lloyd Battista als verkrüppelter spanischer Edelmann, der ungeheuer an Jack Gruber erinnert der zu viel Shakespeare geraucht hat, aber in einer Szene den Vincent Price gibt als ob er sein Leben nichts anderes gespielt hätte. Daneben darf Mirta Miller mit Lloyd Battista fechten und Diana Lorys als Prinzessin die feine Zicke raushängen lassen.

Ach so, Handlung soll es auch geben? Nein, nicht wirklich! Das Drehbuch dürfte auf folgende Weise entstanden sein: Bei einem Treffen von Filmfans hat jeder Anwesende eine Seite Handlung schreiben dürfen, die er schon immer mal gerne auf der Leinwand sehen wollte. Und diese Loseblattsammlung wurde dann als GET MEAN verfilmt. Weniges passt wirklich zusammen, die Szenenanschlüsse sind nicht immer logisch, die Szene mit dem Todesrätsel des Schatzes oder so ähnlich ist vollkommener Kokolores – Und der Unterhaltungswert ist merkwürdigerweise enorm! Die anderthalb Stunden gehen rum wie nichts, insofern man Willens ist eine Vollkommen-idiotisch-und-abgedreht-Version von besagtem SCHRECKEN VON KUNG FU zu akzeptieren, der ja für sich schon vollkommen idiotisch und abgedreht war. Ein gewisser Hang zu filmischen Abstrusitäten und hohem Trash-Faktor sollte also vorhanden sein, sonst wird’s schnell zäh.

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TIME BREAKER ist einer der sinnlosesten Filme die ich jemals sehen durfte, aber er macht ordentlich Spaß bei maximalem Kopfschüttel-Faktor. Und wenn das nichts ist weiß ich auch nicht weiter. Noch ein heißer Tipp: Da der Film nie in Deutschland im Kino lief, ist die deutsche Synchro eher auf dem Niveau einer unterdurchschnittlichen Tele 5-Ausstrahlung und zieht den Film ziemlich runter. Die englische Originalversion ist unbedingt zu empfehlen!

Und die Antwort auf die Frage zu Beginn kann nur lauten: Immer Tony Anthony …

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Maulwurf
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Das Attentat – The Man Standing Next (Woo Min-ho, 2020) 4/10

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Aus der deutschen Wikipedia zur Geschichte Südkoreas im 20. Jahrhundert:

Als auch eine parlamentarisch basierte Regierung die Probleme [Südkoreas] nicht in den Griff bekam, putschte sich am 16. Mai 1961 das Militär unter der Führung von General Park Chung-hee an die Macht. Man ließ in der Folgezeit zwar Wahlen zu, diese blieben aber praktisch folgenlos. Wesentliche demokratische Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit blieben den Südkoreanern versagt. Unter Park Chung-hee entwickelte sich eine Militärdiktatur, Oppositionelle (meist Kommunisten) wurden gefoltert und ermordet.

Währenddessen machte Südkorea wesentliche wirtschaftliche Fortschritte. Eine enge Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft ließ Großindustrien entstehen. Südkorea wandelte sich in dieser Zeit zu einem modernen, exportorientierten Industriestaat. Dadurch verbesserte sich auch der Lebensstandard der Südkoreaner. Das Bildungswesen wurde verbessert und breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht, die sogenannte Saemaeul Undong (Neues Dorf Kampagne) verbesserte die Lage der Landbevölkerung. Park gilt daher gemeinhin als Architekt des wirtschaftlichen Aufschwungs. [..]

1968 und 1975 versuchten nordkoreanische Agenten, Park zu ermorden; dem zweiten Attentat fiel seine Frau zum Opfer. Sein Ende kam unerwartet am 26. Oktober 1979, als Park vom eigenen Geheimdienstchef Kim Jae-gyu erschossen wurde.
(1)

DAS ATTENTAT konzentriert sich auf die 40 Tage vor Kims Anschlag und seinen Wandel vom frisch gekürten Chef des Geheimdienstes mit Sendungsbewusstsein, hin zum politischen Mörder mit dem Gedanken, dass sein Befehlshaber, dem er seit 18 Jahren dient, einfach nur noch weg muss. Und sei es, weil er selber sonst bald sterben wird. Der Trigger für diese Wandlung ist sein Vorgänger Park, der in die USA gegangen ist um dort seine Memoiren als Buch zu veröffentlichen. Schonungslose Memoiren, ohne Geheimnisse. Das südkoreanische Regime ist empört und fordert, dass Park zurückkommt, bereut, Buße tut, und überhaupt am Besten ganz schnell stirbt. Kim schafft es immerhin, die Memoiren an sich zu bringen und damit eine Veröffentlichung zu vermeiden, aber sein eigener Stand innerhalb des Regimes leidet im Lauf dieser Affäre zunehmend, während sein Konkurrent, der Sicherheitschef Kwak, Oberwasser bekommt und ihn, Kim, zunehmend an den Rand drängt. Kwak ist ein großspuriger und aggressiver Mann, der auch mal eben ein oder zwei Millionen Aufständische in Busan mit Panzern plattmachen will, da sei doch nichts dabei brüllt er, und Park vertraut immer mehr diesem bäuerischen Henker anstatt dem intellektuellen Kim. Der daraufhin versucht mit Ruhe und Vernunft gegenzusteuern …

Kim wird also Chef des Geheimdienstes, des sogenannten KCIA. In dieser Position sollte er ja eigentlich erfahren sein in Dingen wie Intrigen und Verschwörungen, sollte wissen wie er Macht und Einfluss behalten, ja sogar steigern, und andere ausbooten kann. Stattdessen wirkt er wie ein müder Bürokrat und lässt sich wie eine Pappfigur auf einem Schachbrett herumschubsen, während andere, lauter schreiende Menschen, ihn übertönen. Seine Versuche, zu verhindern, dass Aufständische in Busan nicht von Flugzeugen der Luftwaffe zusammengeschossen werden, sind leise und einer modernen westlich orientierten Vernunft geschuldet – Vollkommen zwecklos, einem Militärmachthaber und seinem begeisterten Exekutor so etwas ausreden zu wollen, und natürlich auch kein Wunder, dass er mit solch einem Vorgehen seine eigene Stellung unterminiert. Die Figur des Kim wird damit irgendwann unglaubwürdig und unrealistisch, was dann zu der betont nüchternen und technokratischen Atmosphäre passt. Bloß, lässt sich damit Stimmung aufbauen?

Irgendwie erinnert mich die Handlung von DAS ATTENTAT oft an die letzten Jahre der DDR. Ein abgehobener Machthaber mit dem Rücken zur Wand, der an das militaristische Auftreten seiner Kumpels aus der Staatssicherheit glaubt, in einem Ambiente wie – Ja, wie DDR 1985. Die Einrichtungen, die Büros, das gesamte Interieur hat diesen Damals vor dem Krieg war alles besser-Touch, dieses bürokratische etwas, das aus Behörden vom Zeitgeist überholter Regime so gut bekannt ist.

Und genauso dröge und trocken, genauso verstaubt wie dieses Ambiente, so wirken auch Handlung und der größere Teil der Figuren. Park (der Präsident) ist ein macht- und geldgeiler alter Mann, der nach 18 Jahren Herrschaft plötzlich Angst hat abgesägt zu werden, und Kim (der KCIA-Chef) entdeckt nach 18 Jahren genauso plötzlich sein Gewissen und versucht den alten Mann abzusägen. Dagegen stehen fast comichaft überzeichnete Charaktere wie Kwak (der Sicherheitschef), der Treppen hinaufläuft als ob er dringend aufs Klo müsste, und jede halbwegs vernünftige Frage mit Gewalt beantwortet (bis hin zu der grotesken Szene, dass KCIA-Chef und Sicherheitschef gegenseitig versuchen die aufeinander gerichteten Pistolen aus der Hand zu schlagen, und sich gleichzeitig dabei zu verprügeln), oder Park (der Ex-KCIA-Chef), dessen Phantasie nicht dazu ausreicht sich auszumalen, dass die geplante Buchveröffentlichung gleichzeitig seinen Tod bedeutet, der aber viele Szenen mit einem überheblichen Machogehabe absolviert und nur selten einmal zeigen kann, dass er auch nachdenken kann. Was er als Geheimdienstchef eigentlich ganz gut draufhaben sollte …

Dazu kommt, dass die historischen Figuren leider oftmals die gleichen Namen haben, was aus Sicht des westlichen Zuschauers schnell zu Verwirrung führen kann: Es gibt zwei Parks, und neben der Hauptfigur Kim gibt es noch den Gouverneur Kim, in dessen Provinz Busan gerade Aufständische versuchen auszuprobieren, wie sich Panzer anfühlen die über Menschen hinwegfahren.
Von diesen Aufständen ist allerdings nichts zu sehen, und als Kim (der KCIA-Mann) in einem Hubschrauber über Busan fliegt brennen zwar ein paar (mutmaßliche) Barrikaden, aber von Unruhen oder gar Straßenschlachten, von bewaffneten Soldaten oder randalierenden Studenten ist rein gar nichts zu sehen. Die Straßen sind genauso leer und sauber wie Niederkaltenkirchen bei Nacht. Ein Umstand, der sämtliche Außenaufnahmen betrifft: Die Place Vendôme in Paris dürfte das letzte Mal im frühen 5. Jahrhundert so leer gewesen sein, doch im Jahr 1979 war dort bereits ein veritables Verkehrschaos, das weiß ich aus eigener Anschauung. Aber hier? Nichts. Vier Autos fahren im Hintergrund auf und ab. Kleinigkeiten nur, sicher, aber Kleinigkeiten die die Stimmung des Films beeinflussen, und zwar im negativen Sinne. Die altmodische Sterilität der Vordergründe, also der Kulissen und der handelnden Figuren, setzt sich im filmisch kaum vorhandenen Hintergrund fort, was zu einem ständigen Gefühl der Künstlichkeit führt. Sollten die Kulissen CGIs sein sind sie optisch gut gemacht, aber ihre Wirkung ist gleich Null.

Der Kreis schließt sich bei den Handlungen der Hauptpersonen. Dass der Präsident sein geraubtes Geld behalten will ist nachvollziehbar, und dass Kwak noch viel mehr Macht will ebenfalls. Aber alle anderen Figuren entbehren eines rationalen Hintergrundes. Oder will mir wirklich jemand allen Ernstes glaubhaft versichern, dass der Chef des Geheimdienstes innerhalb von 40 Tagen vom Gläubigen zum Judas wird? Nach 18 Jahren überzeugt gelebter Revolution? Die dramaturgisch erfolgte Straffung von Handlungen ist an dieser Stelle nur noch teilweise glaubwürdig, was dazu führt, dass der geheime Geheimchef, der Protegé Parks (des Präsidenten), dessen Identität am Ende des Films für den Zuschauer aufgedeckt wird, überhaupt nicht interessant ist, und den Film einfach noch mal ein paar Minuten länger macht, ohne dass wirklich ein Nutzen aus diesen Szenen gezogen werden kann.

Und gerade dieser Nutzen fehlt über fast die gesamte Laufzeit des Films. Spannende Szenen wie die Prügelei der beiden Geheimdienstchefs oder die Vorbereitung und Durchführung der Attentate auf Park (den Präsidenten) und Park (den Ex-KCIA-Chef) sind wirklich gut gemacht und ziehen den Zuschauer unweigerlich in die Szenerie, aber dem stehen dann scheinbar endlose Sitzungen mit den immergleichen Dialogen gegenüber, in denen die vorhandenen Stellungnahmen der Protagonisten immer und immer wieder durchgekaut werden. Es wird viel von A nach B gefahren, es wird viel gesprochen, und letzten Endes schauen wir verknöcherten Bürokraten zu, wie sie nach 18 Jahren Herrschaft urplötzlich auf andere Gedanken kommen, sich aber dabei offiziell keinen Millimeter bewegen dürfen. Man stelle sich vor, Erich Mielke hätte im Herbst 1989 Lust bekommen die Mauer abzureißen, und Erich Honecker (Hah, da haben wir wieder das Spiel mit den verwechselbaren Namen …) würde stattdessen lieber Panzer einsetzen um die aufkommenden Demonstrationen zu unterdrücken. Genauso ist das Szenario hier, und mit dieser Analogie kann man sich als Mitteleuropäer auch besser vorstellen, dass zumindest Mielke nichts von seinen Gedanken oder Wünschen hätte offenlegen dürfen. Bloß, ist dies dann spannend? Wenn wir einem Mann zusehen, wie er in sein Verderben rennt, ohne an seiner Gefühlswelt wirklich teilhaben zu dürfen? DAS ATTENTAT zeigt uns, dass dies nicht immer spannend sein muss, sondern auch viel mit trockenem Staub und Langeweile zu tun haben kann …

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdk ... egierungen
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Out of Sight (Steven Soderbergh, 1998) 6/10

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Der Bankräuber Jack Foley flieht mithilfe seines Buddies Buddy aus dem Gefängnis. Dumm nur, dass auf dem Parkplatz, wo Buddy wartet, auch eine FBI-Agentin wartet, Karen Sisco. Diese wird kurzerhand in den Kofferraum gepackt, zusammen mit Foley, wo sich die beiden im Gespräch tatsächlich schnell näher kommen. Zwar müssen sie sich bald wieder trennen, aber die Wege werden sich immer wieder kreuzen, ob nun gewollt oder unabsichtlich. Jack macht sich über Miami auf nach Detroit, wo er ein letztes großes Ding durchziehen will, und Karen ist irgendwie immer in der Nähe und verfällt der Anziehungskraft Jacks immer mehr. Aber letzten Endes ist sie immer noch FBI-Agentin, und Jack ist immer noch ein Dieb. Was bei beiden zu einem gewissen Zielkonflikt führt …

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OUT OF SIGHT ist noch nicht OCEAN’S ELEVEN, da fehlen noch drei Jahre und ein paar Ideen und Erfahrungen. Aber Danny Ocean ist in der Anlage des Jack Foley bereits zu erspüren. Die supersympathische Art einen Dieb darzustellen, die Weise, in der ein eigentlich Krimineller zu einem Traummann ummodelliert wird, da fehlt nicht mehr viel bis wir in der Tresorknackerbande in Las Vegas angekommen. Ving Rhames passt zu diesem fluffigen George Clooney als ob die beiden Brüder wären, und überhaupt ist alles an diesem Film … fluffig. Eine romantische Krimi-Komödie, so habe ich es meiner Frau versucht zu beschreiben, und dazu stehe ich auch. Die Liebesgeschichte zwischen dem Ganoven und der Polizistin ist liebevoll gemacht, die Gangsterstory um den Überfall auf den reichen Typen wird im Lauf der Zeit immer härter und solider, ohne aber dabei in unnötige Grausamkeiten auszuufern (wunderschön in Szene gesetzt ist der Überall auf den abtrünnigen Dealer: Ein wenig Plastik, ein wenig blutbespritzte Wand, und ein völlig desolater Steve Zahn reichen aus, um das Kopfkino genau in die Richtung in Gang zu setzen, die der Regisseur will), und der Grundton des Films bleibt dabei immer ganz leicht heiter und verspielt. Eben fluffig.

Man darf bei OUT OF SIGHT vielleicht kein großes Kino erwarten, eigentlich(!) handelt es sich dabei um seichte Hollywood-Ware von der Stange. Aber die perfekten und grundsympathischen Darsteller, die Stimmung des Films und die verspielte und liebevoll gemachte Inszenierung ergeben dann halt doch irgendwie etwas Besonders. Diese spezielle Soderbergh-Magie, die dann ein paar Jahre später in ihren OCEAN’S ELEVEN-Höhepunkt münden wird. Passt!

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A War Named Desire – Bandenkrieg und Brudermord (Alan Mak, 2000) 8/10

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Jahr 2000, Neujahrsfest in Bangkok. Alle Menschen toben wie entfesselt durch die Straßen der Stadt und beschießen sich gegenseitig mit Wasserpistolen. Die Straßen sind überfüllt mit feiernden und lärmenden Menschen. Und mittendrin Henry, der wie besessen aus einer Pumpgun auf einen Regenschirm spritzt, dessen Besitzerin sich ständig vor ihm versteckt. Hinter dem Regenschirm verbirgt sich Snow, die wartet bis Henry ganz nahe bei ihr steht, und ihm dann ein Messer in den Körper rammt. Und irgendwo, am anderen Ende der Straße, steht Charles, der denkt dass Snow, seine Snow, die Snow die er immer heimlich geliebt hat, dass diese atemberaubend schöne und smarte Snow ihn an Henry verraten hat. Und der nun hilflos mitansehen muss, wie der verwundete Henry eine Waffe zieht.
Und das alles nur, weil Charles kleiner Bruder Jones aus Hongkong kommt und von Charles zwei Millionen will, die dieser seiner Familie vor zehn Jahren gestohlen hat. Und weil Jones‘ Freundin Jess meint, dass das alles ein ganz tolles Abenteuer ist, kommt sie auch mit. Doch aus dem ganz tollen Abenteuer wird ganz schnell ganz toll blutiger Ernst: Henry erkennt ein Schaf wenn er eines sieht, und Jones ist so ein Schaf. Ein Schaf, welches ihm ermöglicht, in der Gangsterhierachie aufzusteigen. Er tötet den Boss Sun und lässt erklären, dass Jones der Mörder ist. Jeder weiß dass dem nicht so ist, aber keinen interessiert es. Dem allerobersten Boss, King, ist das ebenfalls egal. Zwei Tage hat Charles Zeit, seinem Bruder die Schönheiten Thailands zu zeigen, doch am dritten Tag will er Jones‘ Kopf sehen. Und Charles‘ bester Freund und Partner, York, erhält den Auftrag Jones umzulegen. Doch weil Henry auch Snow töten will fliegt der Plan auf, und Charles und Jones, die beiden ungleichen Brüder, haben nur noch eine Möglichkeit: Sich ihren Weg durch die gesamte chinesische Gangsterfamilie Bangkoks freizuschießen.

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Viel Inhaltsangabe, aber die erste Stunde von A WAR NAMED DESIRE baut auch verdammt viele Handlungsstränge auf, deren Zusammenhänge nicht immer so ganz leicht zu durchschauen sind. Doch die Geschichte bekommt damit viel Tiefe, vor allem durch die starken Charaktere und die erstklassigen Schauspieler, und wenn dann im letzten Drittel das große Sterben losgeht wird einem schlagartig klar, warum sich Alan Mak so viel Zeit gelassen hat beim Aufbau der Story: Denn das Sterben geht wirklich unter die Haut, und manch ein Hauptdarsteller segnet das Zeitliche und hinterlässt dabei einen Kloß im Hals des Zuschauers.

Alan Mak hat uns den überragenden INFERNAL AFFAIRS geschenkt, und auch wenn A WAR NAMED DESIRE vielleicht nicht ganz in der gleichen Liga spielt, so konnte man vier Jahre vor dem erstgenannten auf jeden Fall bereits sehen, was Alan Mak zu dieser Zeit für ein Ausnahmetalent war. Die Bilder sind stylisch, die Figuren megacool, die Atmosphäre voller Blei genauso wie voller Freundschaft und Verrat, und die Shootouts stehen denen von John Woo in Punkto Choreographie nur wenig nach. Das Hongkong-Kino dieser Jahre kaute zwar rein prinzipiell meist nur die gleichen Geschichten durch, aber die Umsetzung macht den Unterschied, und die ist hier extrem zufriedenstellend. Die Charaktere sind geerdet genug um realistisch zu wirken, und durch den Drehort Bangkok ist die Grundstimmung auch willkommen anders als in den sonstigen HK-Thug-Filmen jener Zeit. Wobei diese Grundstimmung dabei ab den ersten Bildern bewusst als Ballade aufgebaut wird, wenn wir einem zerschossenen Pickup über die thailändischen Autobahnen folgen, sehen, dass aus dem Beifahrerfenster ein blutiger Arm hängt, und dazu melancholische Gitarrenmusik erklingt. Dieser traurig orientierte Score passt sowieso ganz hervorragend zu einem Film, zu dem mir gelegentlich sogar das Prädikat Noir einfällt.

A WAR NAMED DESIRE lässt sich Zeit für seine Geschichte, und macht damit alles richtig um ein hochgradig explosives Showdown vorzubereiten, dass mich an ein paar Stellen allen Ernstes atem- und fassungslos zurückließ. Unbedingte Empfehlung für alle, die tiefsinniges und hartes Gangsterkino mögen. Zeitlupen, Schießereien mit richtig Stil, heldenhaftes Sterben – Nichts Neues unter der Sonne, aber immer wieder gut!

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Beitrag von Maulwurf »

Killer Kid (Leopoldo Savona, 1967) 6/10

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Ausgerechnet ihr ärmlichen Hungerleider wollt die Welt verbessern? Der das sagt ist Offizier der mexikanischen Federales, und anschließend lässt er die Peones, die Tagelöhner und armen Bauern, von seinen Männern gnadenlos zusammenschießen. Ein fulminanter Beginn, ein knallharter Revolutionswestern wie es scheint, mit Fernando Sancho als Revolutionär Vilar, der am Waffenschmuggel aus den USA beteiligt ist und das damit verdiente Geld gerne in seine eigene Tasche stecken möchte, und mit Anthony Steffen als entflohenem Todeszellensträfling Chamaco, der in den Waffenschmuggel und damit auch in die Revolution hineingerät.

Doch es ist nicht alles Gold was glänzt: Chamaco entpuppt sich als Agent der amerikanischen Regierung, der den Waffenschmuggel nach Mexiko unterbinden soll, koste was es wolle. Zwar verliebt sich Chamaco in die Nichte des Anführers El Santo, und zwar lernt Chamaco, dass das, was die mexikanischen Armeebefehlshaber mit dem Volk machen wahrlich revolutionswürdig ist, aber letzten Endes dient dann doch alles nur als bunter Hintergrund für eine knallige Westerngeschichte. Chamaco schleicht sich in die Revolution ein, er infiltriert sie also, und Vilar, obwohl der ausgesprochen misstrauisch ist, kann geschickt aus der kleinen Gruppe entfernt werden. Doch amerikanische Schurken, die hinter dem Schmuggel stecken, kennen die wahre Identität Chamacos, und lassen ihn auflaufen. Alle gegen alle: Vilar gegen seine früheren Kumpane, die Revolutionäre gegen die Armee, die Schmuggler gegen Chamaco, und Chamaco gegen den Rest der Welt.

Als reiner Western geht CHAMACO soweit eigentlich in Ordnung. Regisseur Leopoldo Savona scheint zwar nicht allzu großen Wert auf Dinge wie Continuity oder einen vernünftigen Schnitt zu legen, auch sitzt sein Bildausschnitt gerne einmal 30 cm zu tief. Dafür aber ist die Luft in Mexiko ausgesprochen bleihaltig, und das Showdown in einer Kiesgrube, die mir verdammt ähnlich aussieht wie die aus DREI VATERUNSER FÜR VIER HALUNKEN, krankt eigentlich nur an einem gewissen künstlich-angestrengten Winnetou-Flair, macht aber durchaus Laune. Auch wird ständig etwas geboten, es kommt keine Sekunde Langeweile auf, und da kann man dann das technische Unverständnis des Signore Savona gerne mal hintenan stellen. Auch wenn Anthony Steffen in späteren Filmen mehr leiden muss, Fernando Sancho in früheren Filmen komischer ist, und Luisa Baratto eine viel zu kurze Filmographie hat (die allerdings ihrer Ausdrucksfähigkeit in nichts nachsteht), der Unterhaltungswert passt einfach.

Kein großer Western aus der ersten Reihe, eher ein ordentliches Stückchen Handwerk aus der zweiten Reihe, gewürzt mit einigen technischen Merkwürdigkeiten. Aber man muss ja nicht jeden Film auf die Goldwaage legen, wer weiß, was man dann auf der anderen Waagschale plötzlich findet …
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Beitrag von Maulwurf »

Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, 1946) 7/10

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Der Krieg ist vorbei, und alle sind sie wieder da: Die Tratschweiber die alles besser wissen, und bis vor ein paar Monaten auch als Blockwart durchgegangen wären. Die Scharlatane, die anderen unter dem Mantel der Wohlanständigkeit das Geld aus der Tasche ziehen. Die Kriegsgewinnler, die das Fett von der Suppe schöpfen, immer oben schwimmen und das Word Elend höchstens aus den Erzählungen anderer kennen. Und natürlich die stillen Armen, deren Leben aus Arbeit, Hoffnung und der Jagd nach etwas Essen besteht. Auch andere sind nach dem Krieg in diesem Mikrokosmos des menschlichen Lebens gefangen: Die junge Susanne, die nach ihrer Rückkehr aus der Vergangenheit immerhin das Glück hat, dass ihre Wohnung noch existiert, und sie dort noch leben darf. Zusammen mit dem zynischen Arzt Heinz Mertens, der Vergessen sucht im Alkohol und in der Zerstreuung. Der Susanne vorwirft, dass sie wahrscheinlich in den Bergen war, in Sicherheit, nicht ahnend, dass sie im Konzentrationslager war. In einer Art Sicherheit, so wie sie selber sagt. Susanne und Heinz verlieben sich ineinander, doch die Dämonen Heinz‘ lassen ihn nicht los: Susanne findet in den Sachen von Heinz den Brief eines toten Soldaten, der an die Frau dieses Soldaten überbracht werden soll. Heinz, der diesen Brief nie abgeben wollte, lässt sich erweichen den Brief abzugeben – Und steht urplötzlich vor seinem früheren Hauptmann, dem jetzigen Fabrikanten Brückner, dem es egal ist ob aus Kochtöpfen Stahlhelme hergestellt werden oder aus Stahlhelmen Kochtöpfe, nur zurechtkommen muss man dabei, darauf kommt es an. Und mit Brückner kommen auch die Erinnerungen wieder hoch. An das Massaker, das Brückner zu Weihnachten 1942 in einem kleinen Ort in Polen veranlasste. 36 Männer. 54 Frauen. 31 Kinder. Munitionsverbrach 347 Schuss. Ja um Gottes Willen, da war doch Krieg. Da waren doch ganz andere Verhältnisse …

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Bilder wie aus einem amerikanischen Noir jener Zeit. Schatten. Gitter. Menschen, deren Schuld sie fast greifbar umgibt. Szenen, die sich durch diese Kamera auf die Netzhaut brennen, und auch wenn aus heutiger Sicht die Charakterisierungen durch die Bilder wenig subtil stattfinden, so sind sie auf diese Weise doch ungeheuer eindrucksvoll.

Zum Beispiel Arno Paulsen als Brückner. Freundlich, jovial, liebenswürdig, kultiviert. Ein Mann dem man vertraut. Die Bilder mit Brückner sind lange Zeit hell und freundlich, und Heinz Mertens wirkt in seinem dunklen Mantel und dem unrasierten und mürrischen Gesicht wie ein böser Eindringling in einer heilen Märchenwelt. Einer Märchenwelt, die Brückner bewusst um sich herum aufgebaut hat, um die Vergangenheit auf Distanz zu halten. Erst am Ende, wenn er von dieser Vergangenheit eingeholt wird, umgibt ihn der Schatten der realen Welt in Form eines Gitters, der Schatten in Gestalt von Toten die sich als Schwärze über ihn werfen. Wie gesagt sicher nicht subtil, aber filmisch sehr eindrucksvoll.

Denn man muss sich eben auch vergegenwärtigen, wann dieser Film produziert wurde, unter welchen Umständen, und was er erzählt. Eine Geschichte von zerstörten Menschen in einem zerstörten Land, die in den wenigen Kinos gezeigt werden soll die es noch gab. Vor Menschen, die im Alltag von Zerstörung umgeben sind. Die sich nach einfachen Botschaften sehnen, und mutmaßlich keine verkopften Kunstgebilde sehen wollten, sondern etwas, womit sie sich identifizieren konnten.

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DIE MÖRDER SIND UNTER UNS trifft genau diese Vorgaben. Er bietet den damaligen Zuschauern Charaktere die sie kennen, die sie im alltäglichen Leben treffen können, und die in Form der Hauptfiguren so überhöht sind, dass sie als Identifikationsfiguren dienen können. Und wieviele Männer haben dort, irgendwo in den Ruinen, wohl ihren früheren Hauptmann getroffen, und sind mit ihm ihren Erinnerungen und ihren Dämonen begegnet? Wolfgang Staudte gibt diesen verlorenen Männern ein Gesicht und eine Stimme, und er zeigt ihnen, dass die Lösung, die den gewaltgewohnten Menschen sicher oft vorschwebt, dass dies keine Lösung sein kann, wenn man die Vergangenheit hinter sich bringen will.
Und damit bietet der Film gleichzeitig ein packendes Drama, eingebettet in die damalige Zeit, und er regt zum Nachdenken an und deutet auf ein Problem, dass auch die kommenden Generationen noch lange beschäftigen wird.

Aus heutiger Sicht gibt der Film, gerade als erster Film, der nach dem Krieg in Deutschland produziert wurde, Einsicht in eine Zeit, die heute kaum noch vorstellbar ist. Und von der viel zu viele wollen dass sie wiederkommt. Zwar kann man DIE MÖRDER SIND UNTER UNS vieles vorwerfen, vor allem gerade mit der Brille der modernen Zeit. Dass der Film oft plakativ ist und vereinfacht. Dass die Liebesgeschichte zwischen Susanne und Heinz unglaubwürdig ist. Dass die Charaktere schablonenhaft sind, und die Geschichte (fast) nur gut oder böse kennt. Aber zum einen sind zwingend die Produktionsbedingungen zu berücksichtigen, die auf keinen Fall einfach zu nennen waren, und zum anderen, ich erwähnte es bereits, wollten die Menschen zu dieser Zeit sicher vieles, aber keine komplizierten Geschichten, die nur durch eine kluge Filmanalyse zu verstehen sind. Staudte gibt hier nicht nur den verlorenen Männern ein Gesicht, sondern auch den einfachen Menschen, den Ausgebombten und den um Brot und Wasser Anstehenden, in der Schlange beim Bäcker oder beim Brunnen. Diesen Menschen gibt er eine Möglichkeit sich selber zu wiederzufinden und das Vergangene vielleicht ein klein wenig zu verarbeiten.

DIE MÖRDER SIND UNTER UNS ist nicht nur grafisch ein Noir, sondern auch narrativ. Die getriebenen Menschen mit dem zerstören Schicksal, mit der gebrochenen Seele, und trotzdem immer wieder der Versuch auf die Beine zu kommen. Gegen alle Widerstände doch noch etwas zu erreichen. Trotzdem er gelegentlich etwas plakativ daherkommt auch und gerade heute ein sehr eindrücklicher und starker Film mit großer Wirkung. Stark!

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Beitrag von Maulwurf »

Marinemeuterei 1917 (Hermann Kugelstadt, 1969) 6/10

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Im November 1918 stank es den deutschen Matrosen gewaltig und sie machten Revolution. Was in den ersten Tagen des Novembers in Kiel geschah war tatsächlich ein Umsturz, der das Ende des Krieges und den Sturz des Kaisers zur Folge hatte, genauso wie die Einführung des Parlamentarismus und der Demokratie. Das ist kurzgefasstes Wissen, welches so im Geschichtsunterricht gelehrt wird, und der ein oder andere hat das vielleicht sogar schon mal außerhalb der Schule gehört.

Weniger bekannt ist, dass etwas mehr als ein Jahr früher, im August 1917, bereits erste Meutereien bei den deutschen Matrosen ausbrachen. Der Krieg war 1917 bereits verloren, das Hurra-Geschrei der Offiziere und der konservativen Politiker war noch fast genauso groß wie 1914, und die Stimmung unter den Soldaten und im Volk war katastrophal. Gerade die Matrosen, die mitnichten auf großer Fahrt unterwegs waren, die bösen Feinde in glorreichen Schlachten zu schlagen, sondern die auf Reede lagen und unter schlechter Behandlung und miesem Essen litten, gerade die Matrosen hatten die Möglichkeit, sich die russischen Matrosen als Vorbild zu nehmen. Meutern, den Offizieren endlich mal zeigen dass man Mensch ist, dass man nicht dazu da ist vor den feinen Herren zu kriechen, sondern dass es eine Menschenwürde gibt, jawohl! Und endlich diesen verdammten Krieg beenden.

"Nicht mit Schiffen wird dieser Krieg geführt, Herr Kapitän, sondern mit Menschen." "Ja ja, das sind Ihre neumodischen Ansichten."

Die Matrosen reden miteinander, sie tauschen ihre Meinungen aus, und nach und nach reden sie sich immer mehr in Rage. Ein paar von ihnen fahren nach Berlin und reden mit Abgeordneten. Nicht nur mit den Linken der SPD und der USPD, sondern auch mit denen Bürgerlichen der Zentrumspartei und der Fortschrittlichen Volkspartei. Doch dieses Verhalten wird ihnen bereits als Aufstand ausgelegt, und als das Wort Streik die Runde macht, als sie sich treffen um Maßnahmen zu beraten und das Treffen von der Kriminalpolizei zerschlagen wird, als ein Aufruf zum Stilllegen der Flotte zu existieren scheint, da bleibt der Flotte als Institution nichts anderes übrig als erbarmungslos durchzugreifen. 11 Matrosen werden festgenommen, fünf von ihnen zum Tode verurteilt und zwei im September 1917 hingerichtet: Albin Köbis und Max Reichpietsch.

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MARINEMEUTEREI 1917, entstanden in einer Zeit des Umbruchs, in der man den Ungehorsam genauso wie die Menschenwürde neu entdeckte, zeigt als sogenanntes Dokumentarspiel die Ereignisse, die zum Tod von Köbis und Reichpietsch geführt haben. Dass sie eigentlich nur besseres Essen wollten. Dass sie menschlich behandelt werden wollten. Dass es ihnen mit dem Krieg allmählich reichte. Und dass jedes Aufbegehren gegen diese Dinge, ja auch jede Art Kritik, ihnen als Anstiftung zur Revolution ausgelegt wird. Das Kaiserreich und sein Militär waren allzeit bedingungslos bereit, alles und jeden zu vernichten der nicht für das Reich war. Allein die Diskussionen der Offiziere darüber, dass ja nur ein Sieg in Frage käme, und jedes Zugeständnis an einen anderen Frieden ein Unding wäre, schmerzt fast körperlich.

Man kann ja schließlich keinen Krieg führen, wenn dauernd vom Frieden die Rede ist.

Den Matrosen wird es verboten Zeitungen zu lesen, und wenn ihre Beschwerden ausnahmsweise einmal angenommen werden, so wird der Beschwerdeführer anschließend sofort genauestens kontrolliert und beim kleinsten Anlass sofort in Ketten gelegt. Jede Veränderung, politischer oder sozialer Art, wird als Affront gegen den Kaiser und das Vaterland angesehen und kategorisch abgelehnt, und selbst bei den Offizieren gibt es noch himmelweite Unterschiede: Die Deckoffiziere sind Techniker, ohne die das Schiff nicht fährt. Aber die Seeoffiziere weigern sich sogar, diese Deckoffiziere, also Ingenieure mit akademischer Bildung, als gleichberechtigt anzusehen. Gutes Essen gibt es nur für die Seeoffiziere, und wenn der Lärm der Ventilatoren im Offizierskasino zu laut ist, dann werden die Ventilatoren auf dem Schiff eben abgestellt – Und im Mannschaftsquartier beginnt es sofort zu stinken …

Wenn man MARINEMEUTEREI 197 allerdings ohne das Vorwissen um die damaligen Vorgänge ansieht, wird man schnell abgehängt. Die Dialoge sind scharf und schnell, vielleicht manchmal zu scharf und schnell, denn die Zusammenhänge zwischen einzelnen Szenen, ja sogar der zeitliche Abstand zwischen manchen Szenen, sind ohne Vorwissen nur schwer verständlich. Die Ausprägungen der damaligen deutschen Innenpolitik werden dem Zuschauer vor die Füße geworfen und der kann schauen wo er bleibt. Was so ganz nebenbei ein positives Schlaglicht auf die schulische Bildung des Jahres 1969 wirft, wo solche Dinge offensichtlich noch Allgemeinwissen waren. Dazu kommt die sehr niedrig budgetierte Machart mit hohem Bildungsanspruch, immerhin reden wir hier von einem Fernsehspiel mit wenigen Außenaufnahmen und ohne wirkliche Dynamik, und dann kann sich in Summe schnell eine gewisse Langeweile einstellen.

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Denn die Dynamik des Films (richtiger: Des Schauspiels) und seine innere Spannung entstehen ausschließlich über die Dialoge, das Dialogdrehbuch ist bewunderungswürdig geschrieben, und die Charakterisierungen der einzelnen Personen sind erstklassig herausgearbeitet. Manchmal vielleicht ein wenig zu plakativ, aber umgekehrt stehen einzelne Personen, wie es im Film nicht unüblich ist, für bestimmte Personengruppen. Der Oberleutnant z.S. Schuls, der mit seinen modernen und fortschrittlichen Ideen gegen Wände läuft. Der Kapitän z.S. Roden, der genau diese Wand ist, und alles, was nicht ein Seeoffizier ist, voller dünkelhaftem Abscheu betrachtet. Der Untersuchungsrichter Dr. Dobring, der genau weiß wie er die Leute zu verhören hat um die Aussagen zu bekommen die er braucht, der ausgesprochen selektiv ins Protokoll schreiben lässt, und seine Delinquenten kaum einmal aussprechen lässt, weil ihm der erste Satzteil, der vor dem aber, zur Überführung bereits ausreicht.
Ausgesprochen lebendige Figuren sind es, was die recht trockene Inszenierung dann wieder mehr als wett macht. Denn spannend ist der Film tatsächlich, vor allem gegen Ende hin, wenn der Untersuchungsrichter den Freisler macht und am liebsten alles erschießen lassen würde was bei drei nicht unter Deck ist. Auch ist sehr gut herausgearbeitet, wie sich so ein Vorgang emporschaukelt. Von der berechtigten Beschwerde über das Essen, bis zur versuchten Revolution ist es nur ein kurzer Weg, so scheint es, und dieser kurze Weg ist gespickt mit missgünstigen Kameraden, falschen Entscheidungen und viel zu wenig Mut. Oder zu viel …

Von daher ist MARINEMEUTEREI 1917 sehr wohl oder auch gerade heute sehenswert. Wenn es darum geht, das Verhalten des Rechtsstaates in der Gegenwart und in einer Krisensituation richtig beurteilen zu können. Und um zu erkennen, wie einfach es ist, vom Beschwerdeführer zum Terroristen zu mutieren und gebrandmarkt zu werden. Aber Vorwissen über die Zeit und die Vorgänge ist wie gesagt notwendig …

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Zum Nachlesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Albin_K%C3%B6bis
https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Reichpietsch
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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