Was vom Tage übrigblieb ...

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Das Phantom von Soho (Franz Josef Gottlieb, 1964) 8/10

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Franz Josef Gottlieb ist im klassischen Krimi-Umfeld eigentlich eher bekannt als der Mann für das Biedere. DIE GRUFT MIT DEM RÄTSELSCHLOSS oder DAS 7. OPFER gelten beide nicht unbedingt als Highlights deutscher Krimi-Unterhaltung, und auch für etwa DER FLUCH DER GELBEN SCHLANGE muss man schon ein klein wenig Liebe mitbringen. Umso erstaunlicher ist DAS PHANTOM VON SOHO, das inszenatorisch so dermaßen am Rad dreht, dass man in den Regie-Credits eher einen Namen wie Zbigeniew Brynych erwarten würde. Inszenatorisch, wohlgemerkt, denn die Story ist hanebüchen hoch drei. Ein Mörder geht im Umfeld des Nachtclubs Sansibar um, und nach und nach werden viele Gäste oder Personen aus dem Umfeld von einem unheimlichen Handschuhmörder erstochen. Ende der Inhaltsangabe …

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Aha, denkt sich der Connaisseur, ein früher Giallo, und liegt damit gar nicht so verkehrt. Dem Produktionsjahr geschuldet ermittelt hier zwar noch die Polizei und keine Privatperson, und die Szenerie ist natürlich ganz klar im Edgar Wallace-Umfeld zu verorten, aber sonst? Keine einzige Figur ist lebensecht, alle sind mindestens ein klein wenig übertrieben, wenn nicht sogar völlig grotesk, die Stimmung ist sinister und verrucht, die Musik ebenfalls, es sind mehrere Male nackte Damen zu sehen, und die roten Heringe könnten ein ganzes Aquarium bevölkern, so reichlich werden sie gefüttert. OK, der Blutgehalt ist natürlich extrem gering, aber dafür hat man das Vergnügen, jedem Mord in Form von Handschuhen, Messer und schreckgeweiteten Augen live beizuwohnen. Eine Darstellungsweise, die in dieser Konsequenz erst die Italiener ab etwa 1969 wieder verfolgten. Und wenn dann das Phantom tatsächlich am Ende das erste Mal zu sehen ist, dann hat es immer noch eine gruselige Maske auf. Auch wenn der Zuschauer bis dahin längst weiß wer sich unter der Maske verbirgt, so ist der Moment dank dieser Maske trotzdem nochmal eine Ecke spannender als nur ein schlichter Kameraschwenk.

Das Spannendste und Aufregendste in DAS PHANTOM VON SOHO ist aber die entfesselte Kamera von Routinier Richard Angst! Der Mann, der vor dem Krieg Großartiges wie DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ unter Arnold Fanck und Georg Wilhelm Pabst, und nach dem Krieg Klassiker wie WIR WUNDERKINDER oder ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA filmte, wurde hier offensichtlich mit reichlich Drogen abgefüllt, damit er diese abgedrehten Ideen verwirklichen konnte. Der Messerwerfer Jussuf, der seine Messer auf eine sich drehende Scheibe mit Helga Sommerfeld in der Mitte wirft, wird nicht nur aus Jussufs Perspektive gezeigt, sondern auch aus Helgas Blickwinkel. Und dabei sich drehend, immer schneller und schneller und schneller, bis zum kreiselnden Wirbelwind der fliegenden Messer. Oder die Idee, die Kamera in ein Regalfach zu legen, und ein Telefongespräch quasi aus Sicht des Telefons zu filmen. Überhaupt ist die Kamera gerne einmal hinter den Dingen – Ein längerer Dialog zwischen Werner Peters und der Flickenschildt findet hinter einem Gitter statt. Das Gefängnis wirft da seine Schatten ganz weit voraus …
Helga Sommerfeld verdreht einem völlig die Sinne und die Perspektive gleich mit, die Kamera versteckt sich unter einem Tisch und fotografiert nach oben, alternativ auch gerne über einer Statue mit Blickrichtung nach unten. Überwältigend auch der Moment, wo Hans Söhnker sich so vor einen goldenen Teller stellt, dass sein Kopf ausschaut als ob lauter Blitze auf ein eindreschen. Oder aus ihm herauszucken, je nachdem …
Auch der Teaser ist bemerkenswert, in dem die Kamera eine Mauer entlangfährt die mit Werbeanzeigen von Prostituierten vollhängt, und während dieser langsamen Fahrt hört man von der Tonspur die Verlockungen der Damen, das Gekicher, die kessen Sprüche.

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Mit solchen Ideen im Gepäck wird das Problem, dass der Ermittler eigentlich viel zu alt ist um als Identifikationsfigur für das Publikum zu taugen, und nicht einmal eine Liebesgeschichte stattfindet, dieses Problem wird geschickt umgangen. Dieter Borsche als bösartig-ältlicher Inspektor, dem Peter Vogel als Sergeant an die Seite gestellt wird (dem man hier mehr Ernsthaftigkeit und damit verbunden auch mehr Screentime gewünscht hätte, denn humoristische Tiefflieger wie Eddi Arendt stellte Vogel allein mit einem Zwinkern seiner Augenbraue problemlos in den Schatten). Hans Söhnker als Chef von Scotland Yard – Hochgradig verdächtig und ominös. Barbara Rütting als blonde Krimiautorin, die so gerne mal bei einem richtigen Fall dabei wäre, und natürlich Elisabeth Flickenschildt als fiese Herrin hinter der Kulissen, die, im Rollstuhl sitzend und mit einem Tuch um den Kopf, nur durch ihre Augen, ihre Ausstrahlung und ihre Bosheit wirkt, sowie Werner Peters als Heilpraktiker – Klein, rund, gemein. Wie man ihn kennt und liebt. Dieses Personal, eingerahmt von Charaktergesichtern wie Stanislaw Ledinek oder Hans Nielsen, lässt die völlig idiotische und, wenn man mal ehrlich ist, nebensächliche Krimihandlung zur Gänze in den Hintergrund treten. Wer hier wie und warum gerade ermordet wird? Unwichtig! Viel spannender ist das Mienenspiel von Hans Söhnker, der so seine kleinen Geheimnisse gerne für sich behalten will, und der nassforsche Dieter Borsche (hah, das reimt sich!), der seinen Chef mächtig angeht um ebendiese Geheimnisse zu erfahren. Barbara Rütting entpuppt sich wieder einmal als eine der aufregendsten Frauen des deutschen Kinos der 60er-Jahre, der man gerne eine größere Karriere im Exploitation-Film gegönnt hätte, und Helga Sommerfeld im extremst kleinen Schwarzen wird von Szene zu Szene schöner und sinnlicher.

DAS PHANTOM VON SOHO spielt eindeutig nicht in der 08/15-Klasse der Krimis vom Fließband, dafür steckt hier viel zu viel Liebe zum Detail. Wenn man denn erst einmal einen Zugang zum unsympathischen Kriminaler gefunden hat, und sich mit der Künstlichkeit dieser Welt arrangiert hat, dann stellt man voller Verwunderung fest, dass hier Ideen für mindestens wenn nicht noch mehr Filme drinstecken. Was vielleicht auch der Grund für die oft nicht so guten Bewertungen ist – Der Film ist einfach zu vollgestopft um wirklich zu überzeugen. Aber Spaß macht er richtig …

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Maulwurf
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Das Superding der 7 goldenen Männer (Marco Vicario, 1966) 6/10

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So viel Mühe haben sie sich gegeben die Bank auszurauben, nur die modernste Technik eingesetzt, alles ist wie am Schnürchen gelaufen, und der Plan des Professors hat sich wie immer als perfekt erwiesen. Und doch standen hinterher diese Männer mit den Maschinenpistolen da und haben sie und ihre Beute eingesackt. Sie, die sieben goldenen Männer. Doch der Professor zeigt sich in seiner Genialität mindestens genauso grenzenlos wie seine Gefährtin Giorgia in ihrer Gier nach Gold. Das ganze Vorspiel ist nur der Teil eines noch viel größeren Plans: Im Auftrag des Hexagons(!) soll von einer karibischen Insel ein General entführt werden, der gerne Zigarren raucht, einen Vollbart hat, und gerade eine erfolgreiche Revolution hinter sich gebracht hat. Eine verdammt große Nummer für die Meisterdiebe …

DAS SUPERDING ist ein schönes Beispiel dafür, dass a) Fortsetzungen beileibe keine Filmkrankheit unserer Tage sind, und b) das Original meistens doch der bessere Film ist. Nicht immer, aber fast immer. Wo DIE SIEBEN GOLDENEN MÄNNER von 1965 noch grundsätzlich auf dem Boden der Realität fußt, und trotz gelegentlicher comichafter Übertreibungen durchaus auch irgendwo Sinn macht, ist DAS SUPERDING einfach nur noch ein vollkommen abgedrehter Unfug. Amüsant, komisch, vor allem charmant, aber eben Unfug. Die sprechendste Szene ist die, wenn ein Wachposten der Villa das Generals außer Gefecht gesetzt werden soll. Und was benutzt man dafür? Natürlich eine Art Raketenwerfer, der aber keine Rakete sondern einen Boxhandschuh abfeuert. Boing, der Wachposten ist KO …

Der Professor fliegt mit einer Bell-Einmannrakete durch die Luft wie James Bond ein Jahr zuvor in FEUERBALL, ein Jeep wird mittels wasserdichter Garage von einem U-Boot an Land gebracht, ein Schiff mit 7000 Tonnen Gold an Bord wird mittels Elektromagnet gekapert und zu einer einsamen Insel gebracht, eine Art Luftkissenboot dampft sich problemlos durch das dichte Unterholz des karibischen Dschungels, und überhaupt piepsen und zirpen und jaulen die elektronische Geräte wie beim ersten Konzert von Tangerine Dream. Etwas anders als eine italienische Heist-Variante von James Bond ist da beim besten Willen nicht mehr zu erkennen.

Und dieses ganze überkandidelte Elektronik-Gedöns mitsamt dem Overkill an Gadgets und verrückten Ideen führt dann schlussendlich dazu, dass die Figuren in dem Film fast völlig untergehen. Adolf, Albert, Alfred, Aldo, Anthony und August, die Sieben Goldenen Männer, sind kaum noch voneinander zu unterscheiden, und einzig Gastone Moschin als Adolf bekommt eine Extrawurst zugeschustert, als der Professor ihm die alleinige Befehlsgewalt über das entführte Schiff gibt, und er fast sofort einen rüden Befehlston an den Tag legt, zusammen mit einer gnadenlosen Herrenmenschenattitüde. Auch ist der Fast-Schlusskampf nur auf sein Machtstreben und seine Goldgier zurückzuführen – Ein echter Adolf eben. Bloß die anderen Goldmänner, die bleiben durch die Bank blass und unauffällig.

Gar nicht blass und unauffällig hingegen ist (mal wieder) Enrico Maria Salerno als General. Vollbart, Zigarre, militärischer Khakianzug, ein ganz leichter Kajal und eine hemmungslos Gier nach Frauen (vor allem nach Giorgia) und Gold, und Salerno fegt hemmungslos über alle Vorurteile drüber, die man revolutionären Commandantes oder ihren Maximo Liders gegenüber eventuell haben könnte. Salerno gibt dem Affen restlos Zucker und macht sich zum willenlosen Liebessklaven Giorgias, die hier allerdings, dass muss man dem General zu gute halten, extrem verführerisch aussieht. Allein das häufige Wechseln der Augenfarbe ist schon ein Hingucker, und dann dieser Rücken. Und der Emma Peel-artige Gummianzug …

DAS SUPERDING ist, ich erwähnte es, charmant und heiter. Aber halt auch furchtbar übertrieben, ein echtes Produkt seiner Zeit, und ich musste mehr als einmal an GEFAHR: DIABOLIK denken, genauso so an einige MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE-Folgen mit Emma Peel, und damit dürfte die Stoßrichtung des Filmes klar sein: Ein Rausch aus Farben, Tönen, ansteckend swingender Musik von Armando Trovajoli und einem gehörigen Maß Urlaubsstimmung mit einem European-All-Star-Cast, und wenn mit den letzten Bildern ein harmonischer Bogen zurück zum ersten Film geschlagen wird, dann weiß man als Zuschauer, dass man mit diesem Film letzten Endes doch nichts falsch gemacht hat.
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Inception (Christopher Nolan, 2010) 8/10

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Ein Traum. Wir wissen alle was ein Traum ist, und wenn wir morgens um 5 auf die Uhr schauen, dann nochmal ein wenig schlummern, etwas träumen, und nach einem, gefühlt eine Stunde dauernden, Traum wieder auf die Uhr schauen, und es erst kurz nach 5 ist, dann fühlen wir uns verwirrt.

Was ist nun, wenn wir in einem Traum einschlafen und träumen? Uns in eine nächste Ebene träumen, wo die Zeit wieder langsamer vergeht? Wenn wir die Geheimnisse und Phantasien, die Menschen so in ihren Träumen an das Licht des … Tages? … holen, wenn wir die dort auf dieser zweiten Ebene einfangen könnten? Und die ganz tiefen Geheimnisse, die ganz tief im Unterbewusstsein liegen, wenn wir die in der dritten Traumebene aufspüren könnten?

Womit die Handlung von INCEPTION beschrieben wäre. Cobb und sein Team sind darauf spezialisiert, in die Träume anderer Menschen einzudringen und dort Geheimnisse zu stehlen. Geheimnisse, die so tief im Gehirn anderer Menschen vergraben sind, dass es mehrere Ebenen Träume braucht, um diese aufzuspüren. Wenn man aber Träume ausspionieren und gewissermaßen stehlen kann, dann kann man auch, dort drinnen im Unterbewusstsein, im Empfindsamsten und Gefühlvollsten was der Mensch hat, im Spinngewebe der Gedanken, Erinnerungen und Sehnsüchte, dann kann man dort drinnen auch einen Gedanken einpflanzen. So behutsam, dass der Mensch, in dessen Unterbewusstsein Cobb sich gerade bewegt, denkt, dass er diesen Gedanken selber gefasst hat. Der Auftrag zu dieser Aktion kommt von einem Industriellen: Cobb soll einen Konkurrenten dazu bringen, seinen weltbeherrschenden Trust in mehrere unabhängige Firmen zu teilen.

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Was aber natürlich nichts anderes als ein McGuffin ist, also ein Objekt, welches dazu dient, die Handlung in Gang zu bringen. Denn der Auftrag selber ist für den Film nicht interessant, viel interessanter sind die Bilder. Die Ebenen, die wie Schichten übereinander liegen. Und in jeder Schicht vergeht die Zeit anders. In der obersten (Traum!-) Schicht stürzt ein Lieferwagen von einer Brücke in einen Fluss. Geschätzte Zeit bis zum Aufprall auf das Wasser: 5 Sekunden. In der nächsten Ebene, in der einer von Cobbs Leuten gegen feindliche Agenten um das Überleben der Gruppe kämpft, sind dies schon 3 Minuten, und da der Lieferwagen sich im freien Fall befindet, hat es auf dieser Ebene in diesen Minuten keine Schwerkraft. Noch eine Ebene weiter ist der Safe im Kopf des Beraters der eigentlichen Zielperson: Eine Betonfestung in einer verschneiten Wildnis, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten. Zeit bis zum erfolgreichen Eindringen: Eine Stunde. Und wer hier stirbt, der wacht nicht mehr auf, sondern kommt in den Limbo, die unterste Schicht der Träume, wo 50 Jahre einer Stunde in der Realität entsprechen.

Cobb hat mit seiner Frau 50 Jahre im Limbo verbracht, und sie haben dort eine vollständige eigene Welt aufgebaut, nur für sich beide. Und als sie zurückkamen, als sie aufwachten, waren ihre Seelen um 50 Jahre gealtert und sie wurden von ihrer eigenen Jugend überwältigt. Cobbs Frau hat dies nicht verkraftet und sich umgebracht, was bei Cobb dazu geführt hat, dass er seine tote Frau nicht mehr aus seinen Träumen heraushalten kann. Und sie in seinen Welten seine Pläne und Aktionen sabotiert.

Verwirrt? Der Film ist nichts, wo man nebenher mal eben aufs Klo geht oder Mails checkt! INCEPTION ist zweieinhalb Stunden Dauerbeschuss von Informationen und anderen Welten, die so schnell vergehen wie eine Stunde (Was zur Frage führt, auf welcher Traumebene die gesehene Blu-ray läuft …). INCEPTION ist Eskapismus in seiner höchsten Vervollkommnung: Was wäre, wenn wir uns eine eigene Traumwelt bauen könnten, in der wir kaum altern, und nicht auf Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme oder gar –beschaffung Rücksicht nehmen müssten? Wenn wir mit der Kraft der Gedanken ganze Städte bauen und darin herumlaufen könnten, ohne dafür Energie aufzuwenden? Selbst ein schriftstellerischer Akt ist mit Energieverbrauch verbunden, und auch Regisseure müssen irgendwann schlafen und essen. Im Limbo entfällt dies alles. Ein … Traum?

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Bei aller Komplexität, und so ein Thema kann nur mit einem hohen Komplexitätsgrad abgehandelt werden, schafft Christopher Nolan das unglaubliche Kunststück, eine hochphilosophische Handlung zu verbinden mit einer actiongeladenen Handlung, die mit spannenden Verfolgungsjagden, aufwendigen Schießereien und raffinierten Zweikämpfen so verschwenderisch umgeht wie jeder Scott Adkins-Film. Ohne dabei aber den gedanklichen Unterbau zu vergessen. Klar, bei so einem Thema hat es zwangsläufig jede Menge Logikfehler im Ablauf, aber wer sich einen Fantasyfilm anschaut um nach Logikfehlern zu suchen, der sollte mal in seinen eigenen Träumen nachschauen ob dort alles immer ganz logisch ist. Träume haben ja eben den Charme(?), dass sie nicht immer logisch fortführend sind. Warum sollte also ein Film über Träume in Träumen in Träumen komplett der Realität(?) entsprechen?

Was ist Traum? Und was ist Realität? Cobb hat ein simples Mittel, um zu testen ob er in der Realität ist: Er dreht einen kleinen Stahlkreisel. In der Wirklichkeit hört dieser irgendwann auf sich zu drehen und fällt um, in der Traumwelt dreht er sich immer weiter und weiter. INCEPTION ist wie ein Traum: Im Kopf des Zuschauers bilden sich Möglichkeiten, neue Bilder, neue Welten, und der Film dreht sich immer weiter. Wie ein kleiner Stahlkreisel, der Landkarten von Universen vorgaukelt, die niemals erfasst werden können.

INCEPTION ist im Oeuvre Christopher Nolans das Bindeglied zwischen dem rückwärts erzählten MEMENTO und dem die Zeit rückwärts laufen lassenden TENET: Hier ist die Zeit zwar bis auf eine Ausnahme linear, aber dafür hat sie verschiedene Fließgeschwindigkeiten. INCEPTION ist philosophisches Actionkino für Anspruchsvolle. Ist ein interpretationsfähiger Diskurs über das Wesen der Zeit. Ist verdammt noch mal ganz großes Kino aus der Traum-Fabrik …

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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Revenge of the virgins (Peter Perry Jr., 1959) 5/10

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Mulvy Potter und seine Frau Ruby kommen aus der Stadt in den Wilden Westen. Sie will unbedingt einen Saloon besitzen – Hach, es wäre so schön, wenn sie endlich jemand Wichtiges wäre, und alles sich nur um sie drehen würde. Doch der nichtsnutzige Mulvy kauft vom sauer ersparten Geld nicht etwa wie vorgesehen den Saloon, sondern lässt sich auf ein windiges Geschäft mit einem alten Goldgräber ein, der dort draußen, irgendwo im Indianergebiet, eine Bonanza weiß. Noch ein paar Pistolenhelden dazugekauft, und mit Ruby Stinkstiefel zusammen geht es in die Wildnis. Unterwegs gabelt man noch ein paar desertierte Kavalleristen auf, doch die blutrünstigen und wilden Rothäute warten bereits auf die Abenteurer.

Blutrünstige und wilde Indianer. In Arizona gab es die großen und bekannten Stämme der Apachen, der Navajo, der Hopi, der Zuni, Arapahoe und viele andere mehr. In Kalifornien waren es kleinere und unbekanntere Stämme, die zum Teil wie in der Steinzeit lebten. Diese Geschichte erzählt die letzten Tage eines solchen Stammes im Kampf gegen die weißen Eindringlinge. Es waren nicht viele Stammesmitglieder, und da sie immer weniger wurden, wurden ihre Feinde immer mehr. Es waren die weißen Goldgräber, die in ihr Territorium vordrangen [und den Stamm der Nudecuties dezimierten], deren Männer alle bereits getötet waren. Diese Geschichte erzählt das Vordringen einiger Männer und einer Frau, die auf ihrer Suche nach Gold auf diese Amazonen des Westens trafen.

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So zumindest erzählt es ein Sprecher, pittoresk unterlegt von Bildern von barbusigen Schönheiten, die mit Pfeil und Bogen vorsichtig durch die Landschaft tappern. Und um hier von vornherein alles klarzustellen: Die Damen sind mitnichten die Hauptdarstellerinnen! Die Geschichte handelt weitestgehend von einer Gruppe Goldsucher, die sich in feindliches Gebiet wagt und durch Rivalitäten, Dummheit und Goldgier ziemlich dezimiert wird. Die Indianerinnen sind im ganzen, 52 Minuten langen, Film vielleicht 5 Minuten zu sehen. Wenn überhaupt. Als Bedrohung hinter den Büschen werden sie ein paar mal eingeblendet, immer dann, wenn man denkt dass man einen “richtigen” Western sieht, aber der Hauptteil der Geschichte handelt davon, wie Menschen mit Waffen anderen Menschen mit Waffen das Leben schwer machen. Ein Western eben. Insofern ist REVENGE OF THE VIRGINS sicher eine cineastische Kuriosität, ein kleines Stückchen Filmgeschichte von dem niemand etwas wissen will, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Ignoranz auch nicht von ungefähr kommt. Sehr hübsch anzusehen ist es sicher, wenn die halbnackten Wilden (gendergerecht ja wahrscheinlich eher Wildinnen) um ihre Anführerin tanzen, aber wesentlich mehr gibt der Film halt auch nicht her. Oder anders ausgedrückt: Wäre es nicht ein Unding, von einem Nudie aus dem Jahr 1959 mehr zu erwarten als ein paar Minuten barbusige mehr oder weniger Schönheiten im Gebüsch, kombiniert mit einer 08/15-Wildwest-Handlung? Eben. Und wenn man genau dieses sehen möchte, dass ist REVENGE OF THE VIRGINS sicher nicht die schlechteste Wahl …

Nur dass die Schlussszene, wenn sich die grausamen Wilden über ihre dahingemetzelten Opfer beugen, dass diese Szene entfernt an CANNIBAL HOLOCAUST erinnert, das gibt durchaus zu denken.

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Beware the savage guardians of the golden hoard – Ja nee klar, erzähl mir noch einen ...

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Beitrag von Maulwurf »

Der Doppelgänger (E.W. Emo, 1934) 7/10

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Früher war Harry Selsbury mal ein gefeierter Stabhochspringer, aber jetzt ist er „nur noch“ ein biederer Geschäftsmann mit Junggesellenhaushalt, Butler und heimlicher Geliebter. In Australien hat sich seine Kusine Jenny allerdings in das Bild des erfolgreichen Sportlers verliebt, und reist also nach London, weil sie Harry heiraten will. Jenny stellt Harrys Haushalt böse auf den Kopf, und da kommt ihm die Einladung seiner Geliebten Germaine, ein paar Tage in Ostende zu verbringen, gerade recht. Der Butler wird nach Schottland geschickt um Telegramme über die erfolgreiche Jagd zu verschicken, und Bruder Bobby hilft Harry bei der Umsetzung des Plans. Niemand weiß, dass Germaine die Komplizin des sogenannten Doppelgängers ist, der sich in der perfekten Maske des abwesenden Hausherrn in die Häuser schleicht, um in aller Ruhe die Pretiosen zu rauben. Doch, einer ahnt dies: Der Detektiv Superbus, der 20 Jahre Erfahrung, zwei Pistolen, und einen Löwenmut in der Größe eines kleinen Fingernagels hat. Die Probleme fangen an, als Harry aus Versehen der Schnurrbart abrasiert wird, und er von dem geplanten Kurztrip unerwartet zurückkommt in sein Haus – Denn niemand glaubt ihm, dass er Harry ist. Alle denken er sei der Doppelgänger, zuvorderst Jenny, die mit der Pistole auf ihn losgeht und wissen will, wo ihr geliebter Harry steckt. Und Bobby, der das Rätsel auflösen könnte? Ist aus Versehen im Zug nach Ostende gelandet …

Auch wenn auf dem Plakat und auf der DVD groß mit Edgar Wallace geworben wird, und auch wenn DER DOPPELGÄNGER prinzipiell ein Kriminalfall ist, so sollte doch jedem klar sein, dass ein E.W. Emo definitiv keine Krimis inszeniert hat! Emo war Komödienspezialist, und der Film ist eine klassische Verwechslungskomödie mit allen Zutaten die es dazu braucht. Ein Hausherr der nicht erkannt wird, ein schusseliger Detektiv der den Hausherrn für einen Dieb hält, und jede Menge lustiger Missverständnisse und eben Verwechslungen. Zwar basiert die Geschichte sehr lose auf einem Kriminalroman (The Double von 1928, deutscher Titel Das Geheimnis des alten Derrick), aber die Inszenierung wirkt eher wie die Umsetzung eines Theaterstücks. Im Wesentlichen spielt die Handlung in einem einzigen Haus, die wenigen Ausflüge an den Bahnhof oder das Büro Selsburys sind nur marginal, und die einführende Handlung auf einem Dampfer könnte auch problemlos anders aufgebaut werden. Dafür ist aber das Timing der Auftritte und Abgänge oft bemerkenswert stimmig und die Dialoge fliegen zu großen Teilen nur so hin und her.

Wer mit dieser etwas künstlich-theatralischen Atmosphäre leben kann, bekommt dafür ein flottes und größtenteils wirklich recht lustiges Verwechslungsstück geboten, dass streckenweise an Géza von Cziffras wundervollen KRIMINALTANGO erinnert, und das bei aller Vorhersehbarkeit auch heute noch ziemlich Laune macht. Man darf sich halt bloß nicht von dem Etikett „Edgar Wallace“ irreführen lassen …
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Tatort: Ein Freund, ein guter Freund (Janis Rattenni, 2022) 4/10

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Die ersten Münsteraner Tatorte habe ich vor sehr vielen Jahren gesehen, und als wunderbare Alternative zu düsterer Krimieinheitskost in Erinnerung. Sarkastisch, überzogen, grell, comichaft, dabei musste man aber aufpassen dass man nichts verpasste, die Figuren schienen fast der Commedia all'italiana entliehen, und hinten kam im Ergebnis ein riesiger Spaß heraus.

Letzten Sonntag war da von gar nichts übrig. Eine mühsame Geschichte, müde Witzchen, stereotype Charaktere, und Feuer und Tempo der damals gesehenen Folgen haben komplett gefehlt. Müde ist das Wort, dass ich mit diesem Tatort verbinde: Das Filmchen schleppte sich müde über die anderthalb Stunden und konnte sich kaum einmal dazu aufraffen, in lebendiges Fahrwasser zu springen. Einzig das Wiedersehen mit Proschat Madani, die ich früher im ALPHATEAM sehr gerne gesehen habe, hat mir ein wenig Freude bereitet. Als Abturner dann auf der anderen Seite die widerliche generische "Musik" im Hintergrund - Nee, das war nix ...
Zuletzt geändert von Maulwurf am Do 24. Nov 2022, 17:55, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Maulwurf »

Der verbotene Schlüssel (Iain Softley, 2005) 5/10

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Die junge Pflegerin Caroline kommt in ein Haus mitten den Bajous von Louisiana, in dem abgeschlossene Türen wackeln, Spiegel streng verboten sind, und alles ganz arg gruselig ist. Sie darf überall hin, außer in das Dachzimmer. Und da DER VERBOTENE SCHLÜSSEL in einer Parallelwelt spielt in der es keine Horrorfilme gibt, macht Caroline natürlich genau was? Richtig, sie betritt das Dachzimmer. Die Dinge, mit denen sie dort konfrontiert wird, erschüttern ihr Weltbild und ihren Glauben, sagen wir mal, nachhaltig …

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Ich gebe zu, dass der Showdown spannend erzählt ist, wenngleich die tollen Bilder der ersten Drittels von der Unübersichtlichkeit und Hektik dieses Showdowns in Grund und Boden getrampelt werden. Ich gebe auch zu, dass die Stimmung des Films, dieses von Grund auf Böse und Verderbte, das in den Sümpfen von Louisiana vor sich hin fault wie ein Geschwür, dass diese Stimmung wunderbar getroffen wird, und den Zuschauer tief in seinen fauligen Brodem hineinzieht. Und ich gebe auch zu, dass mir der schöne Schluss ganz außerordentlich gut gefallen hat.

Aber alles andere sieht selbst für mich Gelegenheits-Horrorgucker aus wie die standardisierten Horror-Bausteine eines Steckbaukastens, die zusammengesetzt werden um eine Geschichte zu erzählen, die wenig Überraschungen, dafür aber umso mehr Vorhersehbares enthält. Die Figuren sind das, was man von ihnen vermutet hat, und die Abläufe sind so wie man wie erwartet. Gena Rowlands mit ihrer großen Schauspielerfahrung spielt ihre Rolle so locker aus dem Handgelenk, dass es ein Riesenspaß ist, ihr bei ihrer allmählichen Wandlung zuzuschauen, aber alles andere ist mir persönlich einfach zu stereotyp, um wirklich Freude zu machen. Wenn man halt immer weiß was gleich passiert, dann ist meines Erachtens irgendwo der Wurm drin, und dann kann man als Freund guter Geschichten seine Zeit definitiv besser nutzen.

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Der Bulle von Tölz: Bauernhochzeit (Walter Bannert, 1996) 8/10

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Am Morgen nach ihrer Hochzeit findet die Bäuerin Klara ihren frisch Angetrauten Franz tot in der Scheune. Franz war der älteste Sohn und hätte den Hof von seinem Vater übernommen, und auch wenn das alles andere als eine Liebeshochzeit war: Die Klara wäre, gegen den erbitterten Widerstand des alten Hopfner, Bäuerin geworden. Und ihr unehelicher Sohn, von dem niemand den Vater kennt, hätte einen Vater bekommen. Motive für den Mord am Franz gibt also jede Menge: Der Alte will nicht dass die Klara auf dem Hof ist, Karl, der zweitälteste, will den Hof für sich haben und Xaver, der jüngste der drei Brüder, will die fesche Klara …

Für eine BULLE VON TÖLZ-Folge außergewöhnlich düster und ernst. Die Kabbeleien zwischen Benno und Resi halten sich in angenehm erträglichen Grenzen, die Slapstick-Handlung rund um die neue Staatsanwältin und Pfeiffer, der plötzlich Karriereluft wittert, hätten gerne auch etwas weniger kindisch sein können, halten sich aber noch im Rahmen und sind ziemlich unterhaltsam, und Katerina Jacob steht meistens im Hintergrund und kichert sich eines. Aber die Haupthandlung um die Klara geht wahrlich unter die Haut. Monika Baumgartner gibt der Klara mit Blicken und Gesten so unglaublich viel Tiefe und Ausdruckskraft, so viel Wut und Trauer, dass man vor ihr schaudernd auf die Knie gehen möchte. Da können auch die starken Ernst Cohen und Joseph Hannesschläger als Hoferben und Brüder nicht gegen halten, dies ist die Folge von Monika Baumgartner. Ihre Klara ist eine Frau, wie es sie auf dem Land wahrscheinlich reichlich gibt: Abgearbeitet, verbittert, einsam, in erster Linie als Magd und Kinderproduzentin angesehen. Kein schönes Schicksal, das hier intensiv und gefühlsnah vorgestellt wird. Und wenn am Ende der Täter entlarvt wird, dann ist, auch wenn man die Wahrheit schon lange vorher vermutete, pure Gänsehaut angesagt. Nur den Schlussgag hätte man sich vielleicht sparen sollen, aber wahrscheinlich wäre das für das Fernsehpublikum zu düster geworden. BAUERNHOCHZEIT ist finsterstes Bauernkino aus der tiefsten Provinz, und erhebt sich in seiner Brutalität und in seinem Realismus weit über die üblichen Heile-Welt-Folgen der Serie. Großartig!
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L’Immortelle (Alain Robbe-Grillet, 1963) 7/10

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André ist jung und schüchtern, er spricht kein türkisch, hat aber in der Nähe von Istanbul eine Stelle als Lehrer angenommen. André lernt Lale kennen, das bedeutet Tulpe. Lale ist alles was er sich jemals gewünscht hat, auch wenn sie sich Leila nennt. Lale ist schön, auch wenn sie Lucille heißt. Lale ist klug. Lucille spricht mehrere Sprachen. Lale ist voller Geheimnisse. Leila verbringt die Tage mit André, und doch fällt ihm bei aller Verliebtheit auf, dass immer ein sonnenbebrillter Mann mit zwei Dobermännern in ihrer Nähe ist. Und dass jeder Mann und jede Frau sie zu kennen scheint, unter welchem Namen auch immer. Und dass Lucille seine Berührungen nur akzeptiert, wenn sie unter sich sind. Wenn niemand zuschauen kann. Dann, und nur dann, gibt Lale sich ihm bedingungslos hin.
Leila zeigt André Istanbul. Die Moscheen, die Schiffe, die Frauen zu den Sultanen bringen, wo sie versklavt werden. Glaubt dies nicht! Es ist alles nur ein Traum. Nichts ist wahr.
Und eines Tages ist die schöne rothaarige Frau nicht mehr da. Tot. Tot? Kann ein Traum sterben? Oder lebt er weiter? Unter einem anderen Namen, in einer anderen Gestalt vielleicht. Wie eine Vision, die sich auf unstete Art weiterentwickelt und zu etwas wird, was vorher nicht da war. Und hinterher nicht mehr da sein wird. Wenn doch alles ein Traum ist, ist dann auch die Frau ein Traum?

Die Straßen Istanbuls sind mit Häusern bestanden die gar nicht existieren. Eine Frau die in einer Moschee betet, obwohl sie das gar nicht dürfte. Die Frau spricht türkisch, aber nur das Touristentürkisch. Und Französisch. Und griechisch. Die Frau kennt die Gedichte des Sultans Selim. Welches Sultans? Das ist nicht wichtig, sie hießen alle gleich, und ihre Gedichte handeln von Rosen und von Frauen und von Schiffen und von Palästen …

Ist Lale real? Ist Lale ein Wunschbild Andrés? Ist das nicht eigentlich völlig unerheblich? In einer Stadt, die aus Träumen und aus Geschichte(n) besteht, in der sich eine uralte Historie mit einer ewigen Lust am Fabulieren verbindet, wer kann da noch wissen wo die Visionen beginnen und eine, wie auch immer geartete, Realität endet? Wo die tief empfundene Weiblichkeit Leilas an ihre physischen Grenzen stößt, die wie ein sonnenbebrillter Aufpasser aussehen könnte. Oder wie ein Fischhändler. Oder wie ein kleiner Junge. Oder wie ein Straßenverkäufer. Wie eine Märchenprinzessin reitet Lucille in ihrem großen weißen Auto in die Stadt der Träume und entführt den kleinen Mann in eine Welt jenseits von Hier. Und Alain Robbe-Grillet, der Regisseur dieser Träume, findet dafür genau die passenden Bilder. Mal steht die Zeit, und nur André bewegt sich noch. Mal rennt sie, und in einer Szene, wenn André meint dass er seine Lale, das bedeutet Tulpe, dass er sie wiedergefunden hat, drängeln sich die Menschen um ihn und er kann sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Ein Traum … Vielleicht?

Allerspätestens in der letzten halben Stunde des Films verlassen wir dann die gewohnten narrativen Pfade und betreten den Lost Highway in Richtung des Mulholland Drives, um das Inland Empire Robbe-Grillets zu betreten. Es gibt keine Geschichte mehr und keine Erzählung, die Geländer an den schwammigen Rändern der Narration lösen sich in Nebel auf und Protagonist und Zuschauer fallen in ein Meer, bestehend aus Träumen, Fantasien und Einbildungen. Nichts ist wahr. Außer dass es hier tatsächlich jemand geschafft hat, einem Traum eine zelluloide Gestalt zu geben. Und der Prinzessin dieses Traums gleich mit.

DIE UNSTERBLICHE ist becircend. Ist verstörend. Ist verträumt. DIE UNSTERBLICHE ist kein Film, den man in herkömmliche Muster pressen und mit gewohnten Kriterien beurteilen könnte. Michel Gondry könnte das vielleicht, und David Lynch ganz sicher. Alle anderen müssen sich dieser leichten und in der Hitze der sommerlichen Stadt sirrenden Fantasie hingeben und mit den Bildern und der Träumen mitschwimmen. Davon träumen, mit Lale, dieser Tulpe, im kühlen Schatten im hohen Gras zu liegen und den Zikaden zuzuhören, während die Schiffe auf dem Bosporus Frauen zu den Sultanen bringen …

DIE UNSTERBLICHE ist so anders als alles, was man 60 Jahre später mit dem Begriff Film verbindet, dass sich die Realität tatsächlich aufzulösen beginnt. Zumindest scheint sie an den Außenseiten faserig und durchlässig zu werden. War da gerade etwas? Sicher nur ein Traum …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

In jenen Tagen (Helmut Käutner, 1947) 8/10

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1947 – Während es ausgeschlachtet wird, erinnert sich ein Auto an verschiedene Episoden in seinem Leben. So steht an der Windschutzscheibe das Datum seines zweiten Lebenstages: Der 30. Januar 1933. Peter Keyser hat das Auto seiner angebeteten Sybille geschenkt, sie möchte mit dem Auto doch bitte nach Berlin kommen. Auf dem Weg dorthin trifft sie zufällig Steffen, der am nächsten Tag Deutschland verlassen wird und Sybille mitnehmen will. Sie weigert sich und möchte lieber mit Peter in die Oper, gemeinsam bleibt man aber in den Menschenmassen rund um die Reichskanzlei stecken. Als Sybille zufällig erwähnt, dass sie Steffen traf und dieser abreisen wird, kommt Peter auf den Grund für die überstürzte Reise: Steffen wäre unter den ersten, die „die da sich schnappen“ würden. Sybille bekommt Mitleid mit Steffen und muss sich entscheiden …

Der Komponist und Pianist Grunelius plant eine Konzertreise. Nach der Tournee macht er mit der befreundeten Familie Buschhagen einen Ausflug aufs Land, wo er erzählt, dass die Konzerte alle abgeblasen wurden. Spielen darf er noch, aber er wird nie wieder komponieren dürfen. Weil im Auto ein Kamm vergessen wurde kommt die junge Angela darauf, dass Grunelius in diesen Tagen mit ihrer Mutter zusammen war, anstatt, wie diese erzählt, bei Freunden in Bremen. Eine Welt stürzt für sie zusammen.

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Das Ehepaar Bienert ist seit 31 Jahren – Nein, es sind 32 Jahre! – verheiratet. Sie haben ein Geschäft für Bilderrahmen, und nach all den Jahren und über dem Alltag im Geschäft ist die Ehe längst in Floskeln erstarrt. An diesem Tag packt Sally Bienert das Auto komplett voll und fährt mit ihrem Mann aufs Land, wo man eine kleine Parzelle besitzt. Das ist sowieso die letzte Fahrt für sie, der Bescheid, dass sie nicht mehr Autofahren darf, ist heute gekommen. Das Nachbargeschäft schreibt die jüdischen Namen der Besitzer bereits in großen weißen Lettern ins Schaufenster, aber Wilhelm Bienert weigert sich noch standhaft. Das Geschäft läuft mittlerweile sowieso auf ihn, denn er ist Arier, im Gegensatz zu seiner jüdischen Frau. Am abendlichen Feuer gesteht Sally ihrem Wilhelm, dass sie die Scheidung will, weil sie als Jüdin das Geschäft schädigt, und weil die Ehe doch eh längst erkaltet ist. Durch diese Aussprache kommen die beiden sich wieder nahe, und fahren am Abend zurück nach Berlin. Direkt hinein in die Reichskristallnacht …

Dorothea ist verzweifelt. Ihr Mann Jochen ist mit ein paar Männern aus dem Büro fortgegangen und seitdem verschwunden. Krankenhäuser, Polizei, keiner weiß Bescheid. Selbst im Gefängnis der SS fragt sie nach, aber auch dort weiß niemand etwas über den Verbleib ihres Mannes, „aber sehr höflich sind sie dort“. Dorotheas kleiner Schwester Ruth obliegt es zu gestehen, dass sie und Jochen schon lange ein Verhältnis haben, und auch schon seit geraumer Zeit Fluchtwege für den Widerstand organisieren. Dorothea ist am Boden zerstört. Von einem Bekannten erfährt Dorothea, dass Jochen „auf der Flucht erschossen“ wurde, und dass nun nach der Frau gefahndet würde, mit der er das Land verlassen wollte. Dorothea ruft Ruth an um ihr zu erklären, dass Jochen in Sicherheit sei, womit sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt und Ruth in Sicherheit bringt. Am nächsten Morgen wird Dorothea von der Gestapo abgeholt, und das Auto von der Wehrmacht requiriert.

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An der Ostfront soll der Soldat Hintze einen Leutnant am Bahnhof abholen und in sein Einsatzgebiet fahren. Der Leutnant ist noch neu, zumindest in Russland („Ich war doch in Polen!“ „Herr Leutnant, das hier ist nicht Polen, das ist Russland. Polen war ein Feldzug, das hier ist Krieg.“), und besteht darauf, sofort durch das von Partisanen kontrollierte Gebiet zu fahren, trotz aufziehenden Vollmondes. Eine Fahrt von fünf bis sieben Stunden beginnt. 5 bis 7 Stunden? Na ja, Herr Leutnant, kommt darauf an ob uns die Partisanen in Ruhe lassen …

Dann landet das Auto wieder in Berlin, wo das Mädchen Erna ihre frühere Arbeitgeberin, die Baronin von Thorn, versucht aus der Stadt zu bringen. Das Auto ist geliehen, sie hat keine Papiere, und von Thorn ist ein Name, den man besser nicht erwähnen sollte, seitdem der junge von Thorn als Verschwörer gegen den Führer im Juli 1944 hingerichtet wurde. Als das Kühlwasser alle und Erna auf der Suche nach Wasser ist, kommt prompt ein Gendarm der die Papiere sehen will und, als er den Namen der Baronin hört, diese und die zurückkehrende Erna verhaftet. Erst jetzt erfährt die Baronin, dass Erna von der Beteiligung des Sohnes an dem Attentat auf Hitler wusste, und sich wissentlich in Gefahr gebracht hat, nur um sie in Sicherheit zu bringen.

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Das Auto kommt in eine Scheune und schaut zu, wie die Flüchtlinge durch den Ort ziehen, wie die Dorfbewohner flüchten, und dann wird es ruhig. Bis eines Nachts ein Kradmelder, der sein Motorrad verloren hat, sich über es beugt und versucht, es wieder in Gang zu bringen. Dabei weckt er eine junge Flüchtlingsfrau die ihren Treck verloren hat, und die mit einem kleinen Kind in der Scheune gestrandet ist. Sie will bis nach Ihlienworth in Schleswig-Holstein, dort wollte sie sich mit ihrem Mann treffen. Der mittlerweile aber schon längst tot ist. Die beiden finden Gefallen aneinander und liegen nebeneinander im Heu, die Ruhe und die Nähe des jeweils anderen genießend. Wie heißt Du eigentlich? Maria. Ich heiße Joseph …
Trotz seines Gestellungsbefehls bringt der Soldat Maria nach Hamburg, bei der Rückfahrt gerät er allerdings in eine Patrouille der Feldjäger und wird verhaftet. Doch einer der Kettenhunde hat Mitleid und gibt ihm eine Chance zur Flucht.

In der Rahmenhandlung sehen wir Herrn Willi und Herrn Karl, wie sie die Bestandteile des Autos bearbeiten und die Karosserie letzten Endes ausschlachten. Sie finden das Datum in der Scheibe (das sie als Telefonnummer missinterpretierten) und einen Schildpattkamm. Sie sehen Herrn Bienerts Huthalter, angebracht am Armaturenbrett, ein Hufeisen, in dem einmal Dorotheas Bild steckte, die von Partisanenkugeln durchsiebte Fahrertür und das Stroh aus der Scheune. Karl ist deprimiert, und zweifelt daran, dass es überhaupt noch Menschlichkeit gibt. Das Auto, welches die beiden Männer freilich nicht hören können, schaltet sich in das Gespräch ein und erzählt dem Zuschauer die kleinen Geschichten von Opfermut in einer unmenschlichen Zeit.

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Und mit diesem Rückblick und der gleichzeitigen Aussicht auf Menschlichkeit, aber auch mit einer sehr großen Melancholie, entlässt der Film dann den Zuschauer. Die Kamera schwenkt über die Ruinen von Hamburg – Der Zuschauer von damals sieht nach dem Verlassen des Kinos das gleiche wie auf der Leinwand, während der Zuschauer von heute stumm bleibt angesichts solchen Grauens und der darin versteckten Zeugnisse von Menschlichkeit und Wärme. Aber auch angesichts der subtilen Entschuldigungen, warum man denn nichts gemacht habe. Warum das Grauen langsam und schleichend kam, und während alle darunter zunehmend gelitten haben, sich doch kaum einer gewehrt hat.

Denn in den kalten Tagen des Jahres 1947 hält der Magier Käutner den Menschen einen Spiegel vor, fragt sie geschickt wo sie denn waren, in jenen Tagen. Beim Fackelzug bei der Wahl des Reichskanzlers, in der Reichskristallnacht, im Widerstand, im Krieg, aber auch ganz am Ende, als für die Menschen in Deutschland (und beileibe nicht nur dort) alles, aber auch wirklich alles zusammenstürzte. Wer den Film damals sah hatte die dargestellten 12 Jahre in bester Erinnerung, somit kann man davon ausgehen, dass Käutner sich hier wenig inszenatorische Freiheiten erlauben konnte oder wollte. Sondern dass er die Realität so abgebildet hat wie sie erlebt wurde, unverfälscht und nicht reinterpretiert von späteren Historikern oder Revisionisten, sondern echt und wahrhaft. Und dabei fällt mir aus der heutigen Sicht auf, mit wieviel Respekt und Würde sich die Menschen damals gegenseitig oft behandelt haben. Wie selbst in den schlimmen Tagen im Frühjahr 1945 mehr Mitmenschlichkeit und Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander an der Tagesordnung war, als im heutigen Alltagsleben in einer überfüllten Straßenbahn oder im Stress des alltäglichen Berufslebens. Oder wollte Käutner einfach nur Mut machen? Den Menschen, die damals im Kino saßen, Mut zureden und erklären, dass alles auch wieder besser werden wird? Gleich, ob sie wie Dorothea oder Erna waren, mutig und stark, oder mehr wie Sally und Sybille, die sich zurückzogen und aus der Gefahrenlinie brachten.

Doch diesen positiven Ausblick als Botschaft kann ich mir nicht vorstellen, denn der fehlt. Die letzten Kameraeinstellungen vom zerstörten Hamburg lassen wenig Optimismus zu, und die Aussage „Es wird schon irgendwie weitergehen“, die Käutners Kollege Harald Braun dem im gleichen Jahr entstandenen ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN voranstellt, die fehlt ebenfalls. Käutners Blick ist ausgesprochen melancholisch, und bei aller Grausamkeit immer mit einer leichten Verklärung versehen, und während die Kamera über die Ruinen schweift, und Herr Karl zwar langsam wieder Mut fasst weil es ja wahrscheinlich doch irgendwie weitergeht, kann der damalige Zuschauer in den kleinen Erzählungen mit Sicherheit eine Geschichte finden, mit der er sich identifizieren kann. In der er eine Rechtfertigung dafür findet, nichts getan zu haben. Was dem Kino der frühen Nachkriegsjahre so gerne vorgeworfen wird, dass die Entschuldigungen und die Ausflüchte geliefert werden, die diese Generation dann so gerne mit sich herumgetragen hat, diesen Vorwurf kann man Käutner sehr wohl machen. Was aber nichts daran ändert, dass IN JENEN TAGEN ein interessanter, spannender und realistischer Blick auf eine Zeit ist, die wir heute nur noch aus dem Schulunterricht und von Guido Knopp kennen, und die in diesem Film bemerkenswert anders aussieht. Kleinbürgerlicher, und irgendwie – normaler …

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Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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