Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Linnaisten vihreä kamari

Produktionsland: Finnland 1945

Regie: Valentin Vaala

Darsteller: Rauli Tuomi, Regina Linnanheimo, Kaija Rahola, Paavo Jännes, Eine Laine, Reino Valkama
Winter in den 1830er Jahren im entlegenen Herrenhaus derer von Littow, in dem den beiden Schwestern Anna und Ringa sowie ihrem traditionsbewussten Vater eine Reihe von Gästen die Aufwartung machen, die entweder vom draußen tobenden Schneesturm in die Obhut des luxuriösen Anwesens gefegt werden und/oder ganz bestimmte Absichten, manchmal hehre, manchmal perfide, dabei verfolgen, sich auf unbestimmte Zeit im Schoß der adligen Familie niederzulassen. Im Fokus des allgemeinen Interesses stehen wenig verwunderlich die bislang noch unberingten Händen der schönen Littow-Töchter. Muttersöhnchen Eusebios beispielweise, ein entfernter Verwandter, der nie ohne die strenge Mama das Haus verlässt und ansonsten gerne dem schweren Finnenwein zuspricht, hat es ebenso auf eine der Schwestern abgesehen wie der Hochstapel Graf Spiegelberg, der den Stammvater Karl Littow mittels gewisser Dokumente zu erpressen versucht, laut denen ihm die Hälfte des Familienvermögens zusteht – eine Forderung, von der er nur Abstand nehmen will, wenn ihm der Weg zum Traualtar mit einem weiblichen Littow-Sproß gebahnt werden sollte. Vervollständigt wird die illustre Truppe aber noch um den adretten Architekten Charles Littau, der eigentlich die anstehende Modernisierung des Schlösschens vorbereitet soll, schnell jedoch in die Familienangelegenheiten seines Auftraggebers verwickelt wird: Einquartiert in der titelgebenden „Grünen Kammer“ stößt er weniger auf die Gespenster, vor denen ihn der Hausbutler gewarnt hat, sondern auf empfindliche Schriften, die ihm dunkle, auch mit seiner eigenen Person in Beziehung stehende Geheimnisse der Littows aufdecken. Zudem bleibt es nicht aus, dass sein Herz alsbald demjenigens Ringas zufliegt wie eine der willenlosen Schneeflocken vor den vereisten Fensterscheiben, die unsere Helden noch immer daran hindern, Schloss und Film zu verlassen.

In den von mir im Vorfeld konsultierten Quellen wird LINNAISTEN VIHREÄ KAMARI immer mal wieder als ein Film geführt, der zumindest mit einem oder zwei Zehen im Horror-Genre steht. Dem kann ich nach meiner nunmehrigen Sichtung dieser in Finnland durch kontinuierliche Fernsehausstrahlungen offenbar noch immer recht populären Adaption eines Romans des (mir bislang unbekannten) Schriftstellers Zacharias Topelius nur halbherzig zustimmen. Obwohl erst 1859 veröffentlicht, scheint Topelius‘ Buchvorlage knietief in den Gefilden dessen zu waten, was man hierzulande als „Schauerromantik“ bezeichnet, bzw. was man im anglikanischen Raum unter „Gothic Fiction" versteht. Vertreten ist nämlich das gesamte Arsenal an Topoi, die man eher aus (heute nahezu vergessenen) Populärliteratur-Bestsellern der 1790er und frühen 1800er Jahren kennt: Eine aristokratische Familie mit mehr als einer Leiche im Keller; Geheimgänge und Tapetentüren; familiäre Verwicklungen, bei denen ständig irgendwer als der illegitime Sohn und Erbe von irgendwem anders enttarnt wird, oder sich herausstellt, dass zwei sich liebende Geschwister auf einmal gar nicht miteinander verwandt sind; vermeintlicher Geisterspuk, der sich (früher oder später) als Ausgeburt der Phantasie unserer überreizten Helden entpuppt, oder als heimtückisches Täuschungsmanöver; sinistere Figuren wie Erbschleicher, verlotterte Adlige, Halsabschneider; alles in allem ein Gesellschaftsmodell, in dem trotz der zeitweisen Irritationen am Ende doch alles auf festen Sockeln steht, und die Bettlaken der falschen Gespenster genauso wie die Erschütterungen des Klassensystems zurück in die Mottenkiste gestopft werden. Auch in LINNAISTEN VIHREÄ KAMARI trifft man alle paar Schritte auf irgendein Versatzstück dieser einst beliebten, heute unfreiwillig komischen literarischen Blüten – wenn der Film auch mit einem (jedoch wirklich ziemlich subtilen) ironischen Gestus mit solcherlei Ingredienzien hantiert: Es wirkt, als wüssten die Verantwortlichen genau, dass sie im Grunde alten Kaffee aufkochen, servieren den aber immerhin mit einem subtil-schelmischen Grinsen.

Mit Horror (oder auch nur wohligem Grusel) sollte man all das freilich nicht in Verbindung bringen, (weshalb vorliegender Film, was ich mir insgeheim erhofft hatte, auch nicht wirklich etwas mit den schaurigen Schneemelancholien eines VALKOINEN PEURA oder dem sexuell überhitzten Hexenzauber eines NOITA PALAA ELÄMÄÄN verbnidet, jenen beiden Filmen, die sieben Jahre das finnische Horrorkino sowohl einläuten als auch gleich wieder zu Grabe tragen.) Viel eher scheint mit LINNAISTEN VIHREÄ KAMARI ein zwar recht unterhaltsamer, stellenweise aber auch sehr langatmiger und narrativ im Leerlauf stagnierender Mix aus klassischem Melodrama, Gesellschaftssatire und ein wenig Romanze zu sein, dessen Obertöne mit zunehmender Laufzeit ganz klar zeitgenössische Melodien anstimmen: Wenn unsere Identifikationsfigur, der Architekt Litthau, seinem Schwiegervater in spe, dem am Althergebrachten krampfhaft festhalten wollenden Grafen Littow, eine Predigt hält, nach der doch alle Menschen gleich seien, und somit jedweder Standesdünkel eine Attacke direkt gegen die Vernunft, oder wenn es am Ende, nachdem der angebliche „Familienfluch“ zur allgemeinen Zufriedenheit aufgedröselt worden ist, heißt, man solle nicht über die Schulter in die Vergangenheit gucken, sondern zuversichtlich in die Zukunft, dann kommt es mir vor, als ob da im Subtext – man bedenke das Produktionsjahr 1945 – ganz viel Unausgesprochenes schlummere, das mit der zurückliegender Kriegszeit, der deutschen Besatzung Finnlands und, allgemeiner, dem Widerstreit zwischen Nostalgie und Progressivität innerhalb der (nicht nur finnischen) Nachkriegs-Gesellschaft zu tun hat.

Wenigstens ästhetisch kann man dem Film aber nicht absprechen, leidenschaftlich an gewissen Genre-Statuten zu hängen: Da flackert die Funzel; da knarrt der Dielenboden; da wehen Wandteppiche, scheinbar Gestalten formend; und in einem wirklich wundervollen Moment erkundet Charles, nur mit einer Kerze bewaffnet, ein angeblich verwunschenes Gemach, wobei sich die Tonspur angenehm zurücknimmt, und die Kamera sich mit sichtlicher Lust an einem liebevoll hergerichteten Sammelsurium ausgestopfter Eulen, mottenzerfressener Folianten und sogar einem Affenschädel ergötzt. Relativ singulär steht diese mehrminütige Szene aber in einem Film, der trotz oder gerade wegen seines ausgeprägten Chiaroscuro, seinen beinahe schon den Duft der Universal-Studios atmenden, im wahrsten Wortsinn gotischen Studiokulissen, und seinen ständig angedeuteten, jedoch zu keinem Zeitpunkt herzhaft ausagierten Schrecken und Schatten auf mich mehr wie ein abgefilmtes Theaterstück wirkt, bei dem einige potentielle Lacher vom Zahn der Zeit zernagt worden sind, und nicht jede Plot-Volte interessant genug herüberkommt, um mich wirklich weit über eineinhalb Stunden bei Laune zu halten.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Blow Job

Produktionsland: Italien 1980

Regie: Alberto Cavallone

Darsteller: Danilo Micheli, Anna Massarelli, Anna Bruna Cazzato, Mirella Venturini, Valerio Isidori
Mit der Schauspielkarriere von Stefano und Diana ist es nicht weit her: Seit Wochen schon sitzt das Liebespaar tatenlos in einem Hotelzimmer herum, dessen Rechnung sie wiederum seit vierzehn Tagen aufgrund akuter Portemonnaie-Flaute nicht mehr haben bezahlen können. Inzwischen ist deshalb auch den Hotelverantwortlichen der Geduldfaden gerissen, und man setzt unsere Helden vor ein Ultimatum: Wenn nicht bald die ausstehende Kohle herüberwächst, wird ihnen entweder ihr Hab und Gut unterm Hintern weggepfändet, oder die Polizei eingeschaltet. Wie gerufen kommt in dieser brenzligen Situation der Suizid einer weiteren Hotelbewohnerin, die sich aus einer der oberen Etagen direkt an Stefanos und Dianas Fenster vorbei in den Tod stürzt. Während im Foyer verständlicher Tumult herrscht, da der Portier von verstörten Gästen belagert wird, die wissen wollen, was die junge Frau zu ihrer Tat getrieben habe, oder einfach nur ihren persönlichen Senf zu dem Unglück hinzugeben, während draußen bereits Presse und Polente aufmarschiert, nutzt das Pärchen die Gelegenheit zur Flucht, (und zwar stilecht mit an einem zum Seil geflochtenen Bettlaken in die Tiefe gelassenem Gepäck!) Erstes Ziel des Duos: Die Pferderennbahn, wo vor allem Stefano hofft, das große Geld einzuheimsen, wenn er es nur schafft, auf den richtigen Gaul zu setzen. Da er indes von Pferderennen keinen blassen Schimmer hat, freut es ihn umso mehr, die Zufallsbekanntschaft einer Dame namens Angela zu machen, die ihm folgenden Deal unterbreitet: Sie gibt ihm einen Tipp, welcher Vierbeine voraussichtlich vor allen andern die Zielgerade passieren wird, und im Gegenzug nehmen Stefano und Diana sie mit dem Wagen bis zu ihrem nahen Landsitz mit. Tatsächlich gewinnt Moby Dick, den Angela als Sieger prophezeit hat; mit den Taschen voll Bargeld kutschiert man anschließend in gelöster Stimmung die geheimnisvolle Fremde durch die Nacht. Nicht nur ein Motorradfahrer, der offensichtlich eine Totenkopfmaske trägt, stört aber schon bald die euphorische Stimmung, sondern hauptsächlich auch, dass Angelas Gefährt plötzlich den Geist aufgibt. Auf Angelas Hinweis hin, dass eine Tankstelle keine achthundert Meter entfernt sei, stapft Stefano in die Dunkelheit davon, worauf die ihr Gesicht unter Sonnenbrille und breitkrempigem Hut versteckende Dame ihre Zweisamkeit ausnutzt, um Diana auf dem Rücksitz zu verführen. Hinzukommen seltsame Gestalten, die sich aus der Dunkelheit außerhalb der Autoscheiben schälen und die Beiden beim Liebesspiel beäugen. Nach diesem Intermezzo und dem unvermittelten Anspringen des Automotors gelangt man, nachdem Stefano bei der verlassenen Tanke aufgegabelt worden ist, endlich doch auf Angelas Anwesen an, wo Stefano und Diana in der Folge eine Nacht verbringen, deren Fülle an Vorkommnisse zu schildern zumindest mein literarisches Vermögen nicht ausreicht…

Dass ich meine Inhaltsangabe bereits zu einem Zeitpunkt abbreche, als Alberto Cavallones Spätwerk BLOW JOB noch nicht einmal die 30-Minuten-Marke überschritten hat, hat natürlich weniger mit Schreibfaulheit zu tun, sondern damit, dass sich der weitere Verlauf des Films derart gegen logische, rationale, konventionelle narrative Zugriffe sträubt, dass ich mir bislang schlicht keinen rechten Reim darauf habe machen können, und selbst bei einer Antwort auf die simpel klingende Frage scheitere: Worum geht es in BLOW JOB überhaupt? Werfen wir deshalb vielleicht erst einmal einen Blick auf die Produktions- und Distributionsgeschichte des Films, die, wie so oft bei Cavallone, mindestens so interessant und eigenartig ist wie das Endprodukt selbst. Je nach Quelle soll entweder einer der beteiligten Produzenten während der laufenden Dreharbeiten Selbstmord begangen haben, bzw. Cavallone aus anderen, nicht näher spezifizierten Gründen gezwungen gewesen sein, den Film mit einem Bruchteil des ursprünglich angedachten Budgets in zwei Tagen statt in den geplanten zwei Wochen zu Ende zu drehen. Obwohl eigentlich – trotz des Titels – nicht als Hardcore-Porno angelegt, wurde BLOW JOB außerdem entweder von Anfang an in zwei Fassungen konzipiert – eine mit explizitem Gebalze, eine ohne –, oder aber aufgrund der finanziellen Misere im Nachhinein mit horizontalen Ausflügen angereichert, um ihm an den Kinokassen zu überhaupt irgendeiner Form von Erfolg zu verhelfen. Selbst das Ausmaß und die Anzahl dieser Hardcore-Inserts variiert je nach dem, welche der überschaubaren Notiz zum Film man konsuliert. Spekuliert wird sowohl, dass lediglich der titelgebende Cunnilingus sich in den Film gezüngelt habe, aber auch, dass mehrere Orgien-Sequenzen mit professionellen Porno-Darstellern und Darstellerinnen inszeniert worden seien. Im Cavallone-Essay seiner vorzüglich recherchierten Sammlung von Portraits verkannter und vergessener Italo-Regisseur „Marvericks of Italian Cinema“ legt Roberto Curti indes relativ plausibel dar, dass es sich um insgesamt drei Ausflüge ins Fleisch-Fach gehandelt haben dürfte, (und berichtet zudem, quasi als Fun Fact am Rande, davon, dass die Villa, in der der Großteil der Handlung angesiedelt ist, einem älteren Herrn gehört haben soll, der sie Cavallone und seinem Team für einen Spottpreis zur Verfügung stellte, allerdings unter der Voraussetzung, sich bei den Hardcore-Szenen als Voyeur betätigen zu dürfen.) Mir liegt seit jeher eine Fassung des Films vor, die nicht nur durch ihre Laufzeit von weit unter achtzig Minuten nahelegt, dass da etwas fehlen dürfte, sondern zumindest in einer Szene durch einen recht harten Schnitt offenbart, dass da namentlich der titelgebende Oralsex-Akt einer Zensur-Kürzung zum Opfer fiel. Ob die Hardcore-Fassung des Films überhaupt noch irgendwo existiert, steht, nach meinem derzeitigen Kenntnisstand, in den Sternen.

BLOW JOB ist freilich nicht der erste Film, für den Cavallone auf Wunsch seiner Produzenten hin eine HC-Fassung anfertigt. Schon ZELDA von 1974 soll in einer besonders zeigefreudigen Version kursiert haben. Definitiv als Porno vermarktet wurde BLUE MOVIE (1978) – was mich angesichts der allgemeinen Trostlosigkeit dieses sperrigen Streifens noch immer verwundert: Ernsthaft, wer onaniert denn während eines Films, der jenseits seiner Hardcore-Szene eine zutiefst moralische Weltsicht, seine Kolonialismus- und Kapitalismuskritik, seine autobiographische Selbstentblößung über herbe Metaphern wie mit Urin gefüllte Cola-Dosen, sich mit ihrem eigenen Kot einschmierenden Modellen und Archivaufnahmen aus KZs und Vietnam-Krieg vermittelt? Tatsächlich könnten die Welten, die BLUE MOVIE und BLOW JOB voneinander trennen, jedoch kaum weiter auseinander liegen. Zwar tragen beide Filme die Titel von Warhol-Experimentalfilmen, sind beide mit einem wahren Schnürsenkel-Budget inszeniert, und weisen unmissverständlich die eklezistische Handschrift Cavallones auf, (die ich wohl unter hunderten graphologischen Beispielen problemlos herausfiltern würde.) Aber wenn BLUE MOVIE derjenige Film ist, den Cavallone wie einen Sargnagel in jedwede Hoffnung schlägt, noch einmal als anerkannter Autorenfilmer Fuß innerhalb der italienischen Filmindustrie zu fassen, und in ihm deshalb umfassend (und sehr schmerzhaft) mit der eigenen Profession, dem kommerziellen Filmemachen im Allgemeinen, dem Fundamental-Konnex zwischen Tod und Kino abrechnet, dann wirkt BLOW JOB demgegenüber wie ein vollendeter Eskapismus, eine Flucht in eine rational nicht mehr fassbare Traumwelt, die zwar ebenfalls wenig idyllisch ist und stattdessen bevölkert mit genau jenen alptraumhaften Phantasmagorien, die Cavallone seit jeher sein eigen nennt, die sich aber nichtsdestotrotz fernhält von politischen Sentenzen, von idealistischer Agitation, von jedwedem Anknüpfungspunkt an die zeitgenössische außerfilmische Realität. Stattdessen liefert Cavallones Reise ins Wunderland: Haunted-House-Horror inkl. POV-Shots aus der Perspektive ruchloser Geister; Cocteau’sche Orpheus-Symbolik inkl. Spiegeln, die als Brücken zu metaphysischen Welten dienen, sowie Motorradfahrern als Todesboten; Hexenzauber, Meskalin-Konsum, Zeitschleifen, Gothic-Versatzstücke, nicht zuletzt den naiven Tonfall eines schauerromantischen Ammenmärchens.

Wenig verwunderlich hat Cavallone sich dem Genre-Kino niemals zuvor derart dicht angeschmiegt wie in BLOW JOB – was nicht zuletzt Roberto Curti veranlasst hat, den Film wie selbstverständlich in seinen Band zu „Italian Gothic Horror Films 1980-1989“ aufzunehmen. Zugleich aber könnte BLOW JOB eigentlich nicht weiter entfernt von etablierten Genre-Standards und -Konventionen sein: Wer einen Nachzügler italienischer Gotik á la Mario Bava oder Riccardo Freda erwartet, der dürfte derart maßlos von dem Werk enttäuscht sein wie überhaupt jeder, der sich dem Werk mit der Haltung nähert, einen linear verlaufenden, in sich kohärenten, dramaturgisch ausgefeilten Spielfilm präsentiert zu bekommen. Obwohl sich die Verweise und Antizipationen, wie so oft bei Cavallone, als endlose Perlenkette aufreihen ließen – die Partys bzw. Orgien aus SHINING oder EYES WIDE SHUT; die invasive Struktur von Lynchs LOST HIGHWAY; verträumte Passagen zwischen Pulp und Poesie wie aus einem Jean-Rollin-Streifen; die Drogenapologien von Schriftstellern wie Aldous Huxley oder Carlos Castaneda, auf die Cavallone in Interviews explizit verwiesen hat; die schwarzromantische Ästhetik von sich an okkulten Themen abarbeitenden Fummeti Neri der 70er Jahre –, laufen all diese Einflüsse und Vorahnungen, ebenfalls wie so oft bei Cavallone, in einem Ergebnis zusammen, dessen komplette Decodierung sicher nur der Auteur himself vornehmen könnte: Nachdem Stefano und Diana die Villa Angelas betreten haben, ist die Welt ähnlich aus ihren Vernunftangeln gehoben wie beim Eintritt in die Freiburger Tanzakademie von Elena Markos; die Zeitebenen mischen sich miteinander wie in den avantgardistischen Splatter-Experimenten, die Lucio Fulci etwa zeitgleich dreht; und die Figuren verständigen sich über kryptische Dialoge und hermetische Monologe, die man, wie bei Rollin, wahlweise einem lyrischen Duktus oder aber gänzlich sinnbefreit empfinden kann. Zugutekommt dem Film, dass Cavallone spätestens bei seinem magnum opus SPELL (DOLCE MATTATOIO) gelernt hat, auf das überkommene Regelwerk des Mainstream-Filmemachens in einer Weise zu spucken, die nicht bei einer selbstzweckhaften Anti-Haltung stehenbleibt, sondern aus den Trümmern der zersprengten Konventionen ganz eigenen Grundsätze schafft. Ähnlich wie in Renato Polsellis Früh-70er-Horrorfilmen und Gialli, in denen ganz bewusst kaum einmal eine Einstellung sich harmonisch an die nächste fügt, genau das aber in einer absolut idiosynkratischen Film-Grammatik mündet, hantiert Cavallone zugleich dekonstruierend und innovativ konstruierend mit den Bauelementen seines Drehbuchs. Ganz so radikal wie in SPELL oder BLUE MOVIE ist diese Akrobatik in BLOW JOB nicht, aber doch radikal genug, um ein unbedarftes Publikum, (vor allem eins, das einen klassischen Gruselstreifen oder gar einen Schwanzsaug-Porno erwartet!), gehörig zu erschüttern: Launiger Disco-Funk wird über Schauerszenen wie Tannen im Abendwind oder spärlich beleuchtete Villenparks gelegt; eine Szene, in der Stefano sich den endlosen Monologen einer Hippie-Hexe in deren Höhle voller ausgestopfter Eulen und Naturdrogen ausgesetzt sieht, parallelisiert Cavallone mit welchen, die offenbar in einem Paralleluniversum stattfinden, und wo Diana splitterfasernackt inmitten einer Gruppe von fackelschwingenden Männern ein Tänzchen in einem Ballsaal hinlegt; die Orgasmus-Schreie einer Frau klingen wie schrilles Vogelfiepen; ständig wirkt es, als ob nahezu jede Szene entweder viel zu überbelichtet ist, oder aber viel zu sehr mit Schatten überzogen, sodass man teilweise Mühe hat, mehr als Schemen der handelnden Personen auszumachen.

Gerade das schmalbrüstige Budget könnte den Eindruck erwecken, all diese vermeintlichen Defizite sowie der selbst von einem Cavallone-Enthusiasten wie mir kaum abzustreitende billige Look des Films, dem man die ökonomische Limitierung an allen Ecken und Enden ansieht wie einer gewissen Schludrigkeit in der Inszenierung seien ungewollte Produkte der widrigen Umstände. Allerdings frage ich mich, ob BLOW JOB nicht auch, hätte Cavallone ein paar Handvoll Lire mehr zur Verfügung gestanden, nicht doch auch so oder so ähnlich ausgeschaut hätte – oder, besser gesagt: Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass dies der Fall gewesen wäre. Zu viele Trademarks des Regisseurs finden sich nämlich auch hier: Diana, die ihrem Stefano unbekleidet und auf allen Vieren in ihrem Mund ein Päckchen Zigaretten ans Hotelbett bringt, das ist ein ikonisches Bild geradewegs aus BLUE MOVIE; in der Tatsache, dass unsere Helden strikte Materialisten sind, die selbst beim Anblick der Hotelselbstmörderin davon fabulieren, dass die Tote, der der Bauch beim Aufprall auf dem Asphalt förmlich aufgeplatzt ist, an einen umgeworfenen Teller Spaghetti erinnere, und die letztlich in Konfrontation mit dem Übersinnlichen nur widerwillig ihren Positivismus aufgeben, hallt entfernt ein Echo des Widerstreits zwischen Phänomenologie und Metaphysik wider, den Cavallone schon in seinem Frühwerk immer wieder unterschwellig thematisiert hat; im Finale, das wiederum wirkt wie aus einem Herschell-Gordon-Lewis-Vehikel, platziert Cavallone einen seiner grimmigsten Gags: Desinteressiert sammelt ein Polizeibeamter auf dem Pflaster verstreute Innereien ein, während er Stefano dabei geschäftsmäßig gelangweilt verhört. Mehr als diese Details erscheint mir aber die spröde Sperrigkeit der Inszenierung, das Traum und Realität nicht nur verwischende, sondern inzestuös miteinander verbandelnde Drehbuch, und die allgemeine Tendenz des Films, das Gefühl zu vermitteln, viel fehle nicht, und er würde einfach in mit menschlicher Logik nicht mehr greifbare Einzelteile zersplittern, als genau das, was Cavallone bei der Konzeption vorliegenden Films (trotz oder gerade wegen des gehetzten Drehplans, der plot-fremden Hardcore-Sequenzen, den aus Budgetgründen nur halbherzig verwirklichten visuellen Transgressionen) vorgeschwebt haben mag.

Dass Cavallone seine Genre-Explorationen in Folge von BLOW JOB nicht nennenswert fortgesetzt hat, liegt vor allem daran, dass er im Anschluss nur noch wenige Filmprojekte überhaupt realisieren wird, - und davon bezeichnenderweise keins, das ihm besonders am Herzen gelegen zu haben scheint. Von den beiden noch folgenden Spielfilmen scheint ihm der Erotikthriller LA GEMELLA EROTICA (1980) im Nachhinein selbst derart peinlich gewesen zu sein, dass er in späteren Interviews gar versuchte, seine Fertigstellung Luigi Cozzi unterjubeln, während sein auf den Kanaren gekurbelter Steinzeitfilm I PADRONI DEL MONDO (1983) so unbemerkt in den Kinos landet wie wieder daraus verschwindet. Lange Zeit am sichtbarsten von Cavallones Filmen sind indes drei unter dem Pseudonym Baron Corvo inszenierte reine Hardcore-Pornos gewesen – IL NANO EROTICO, PAT UNA DONNA PARTICOLARE sowie der etwas konventionellere …E IL TERZO GODE –, die mich erneut zu der Frage veranlassen: Wer oder was holt sich denn bitteschön zu Bildern einen herunter, in denen ein Liliputaner (namens „Petit Loup“) Frauen mit einem um die Stirn geschnallten Dildo vergewaltigt? Lässt sich BLUE MOVIE interpretieren als das bittere Testament eines seine Ideale aufgebenden Filmautors, (und endet deshalb sinnigerweise mit dem Suizid des Titelhelden, eines unschwer als alter ego Cavallones zu entschlüsselnder Photographen namens Claudio), so ist Cavallones Porno-Trias pures Vitriol, das in der Verpackung eines handelsüblichen Balsams daherkommt. Anders gesagt: Unter der Maskerade des Pornographen demontiert Cavallone das Genre, indem er den Sleaze-Faktor bis zur puren Ekelhaftigkeit ankurbelt, und sein Publikum pausenlos mit Szenen konfrontiert, die (hoffentlich) doch wirklich niemand stimulierend oder anregend finden wird. Mit dem utopischen Potential von BLOW JOB hat all das natürlich nichts mehr zu tun, weshalb der Film für mich innerhalb des Oeuvres dieses in die Marginalität gedrängten Maestros den Stellenwert des Zeugnisses einer inneren Emigration hat, - oder aber den eines grausigen Märchens, das Kindern von einer auf einem Meskalin-Trip befindlichen Großmutter vorm Einschlafen erzählt wird. Denn der Traum, den die dann träumen, wird Cavallones Film sicher nicht unähnlich sein.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Le Salamandre

Produktionsland: Italien 1969

Regie: Alberto Cavallone

Darsteller: Erna Schurer, Beryl Cunningham, Antonio Casale, Tony Carrel, Michelle Stamp, Walter Fabrizio
Dass der erste Spielfilm Alberto Cavallones mit folgender Szene einsetzt, sollte niemanden überraschen, der mit dem späteren Oeuvre dieses wahrhaften Querschützen des italienischen Kinos vertraut ist: Ein dunkelhäutiger Mann wird an einem nordafrikanischen Strand von drei Weißen in ihrem Jeep wie ein wildes Tier gehetzt. Als man den Flüchtigen endlich ergreift, belässt man es nicht dabei, ihn nach allen Regeln der Kunst zu vermöbeln, sondern entledigt ihn auch mittels Messer seines Geschlechtsteils. Der Kastration wohnt eine dunkelhäutige Dame bei, die dem blutigen Spektakel aus dem Versteck eines Gestrüpps heraus zuschaut. Schließlich ergreift sie selbst die Flucht, und findet Schutz in den weit ausgebreiteten Armen einer weißhäutigen Frau, die sie als Lichtgestalt im wahrsten Wortsinn auf dem Scheitelpunkt eines Hügels erwartet. Dass sich diese Prologsequenz letztlich als Traum einer unserer Heldinnen herausstellt, ändert nicht viel an der verstörenden Impulsivität, mit dem ein solcher Auftakt gerade auch auf ein argloses Publikum des Jahres 1969 hereingebrochen sein dürfte.

Mehr zur Verblüffung regt indes an, dass LE SALAMANDRE den Spielfilmkanon seines Regisseurs, dem später zumeist einzig Schnürsenkel-Budgets zur Verwirklichung seiner Visionen zur Verfügung standen, und dessen Filme deshalb größtenteils genauso sang- und klanglos in die Lichtspieltheater gerieten wie sie daraus verschwanden, mit einem veritablen Erfolg eröffnet: 500 Millionen Lire soll der übrigens auch in Deutschland ausgewertete Streifen allein in Italien eingespielt haben – ein Konzert klingelnder Kinokassen, von dem Cavallones nachfolgende transgressive Epen nur träumen konnten. Andererseits muss aber auch gesagt werden: LE SALAMANDRE ist tatsächlich wohl Cavallones zugänglichstes Werk, ein Film zudem direkt am Puls der Zeit, der aktuelle politische und gesellschaftliche Themen mit jener Prise Erotik und nackter Haut behandelt, die nötig ist, um auch ein breiteres Publikum anzusprechen, und der, von der beschriebenen Schock-Sequenz gleich zu Beginn einmal abgesehen, ansonsten darauf verzichtet, seine Zuschauer mit jenen subversiven Sujets zu provozieren, die Cavallones Meisterwerke wie BLUE MOVIE oder SPELL (DOLCE MATTAIAO) strukturieren. Wenn es einen Film dieses Regisseurs gibt, der mehr und weniger auch in einem herkömmlichen Arthouse-Kino Platz finden könnte, und dabei das Potential besitzt, Fans solch unterschiedlicher Exponenten des europäischen Autorenfilms wie Eric Rohmer oder Michelangelo Antonioni anzusprechen, dann ist es sicherlich dieser hier: Wie bei Antonioni muss man nach einem geradlinigen Plot nicht lange fragen, sondern sich darauf einlassen, dass einen die höchstens rudimentär vorhandene Handlung von alleine irgendwohin trägt (oder auch nicht), und wie bei Rohmer verbringen die Protagonisten die Zeit, die der eher gemächlich dahinfließende Bilderstrom braucht, um uns neunzig Minuten lang mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung schlingern zu lassen, vor allem damit, miteinander zu plaudern, und zwar über so ziemlich alles, was 1969 als Tagesgespräch herhält: Rassismus, Kolonialismus, 68er Aufbruchstimmung, der Konnex zwischen Kunst und Tod, die marginale Linie zwischen Kunst und Kommerz, und, natürlich, immer wieder einen Überschwang an Emotionen, den man wahlweise in die Begriffe Liebe oder Geilheit pressen kann.

Im Zentrum von LE SALAMANDRE stehen zwei Frauen. Uta haben wir ja bereits anhand ihrer Träume kennengelernt. Sie ist Modell, und seit einiger Zeit ausschließliches Objekt der Kamera von Ursula, einer hochdotierten Photographin an der Schnittstelle von Kunst und Kitsch. Gemeinsam befinden sich die Damen, die nicht zuletzt eine On/Off-Liebesbeziehung miteinander verbindet, auf Shooting-Reise in Marokko. Schon von Beginn wird klar, dass das Machtgefälle zwischen unseren Heldinnen einerseits ein beträchtliches, andererseits aber ebenso sehr von Ambivalenzen durchzogen ist. Wenn die um keinen zynischen Scherz verlegene Ursula Uta nicht unter die Nase reibt, dass sie es gewesen ist, die sie aus der Harlemer ins Blitzlichtgelichter der internationalen VIP-Szene gehievt hat, lässt sie sie vielleicht nicht mit Worten, aber durch ihr Verhalten wissen, wie sehr emotional abhängig sie von ihr ist. Auch Uta verbindet zwar eine gewisse Hörigkeit gegenüber Ursula, von der sie genau weiß, dass sie ihre Karriere mit einem Fingerschnippen ruinieren kann, zugleich schreckt sie aber nicht davor zurück, ihr in entsprechenden Situationen verbales oder handgreifliches Kontra zu bieten. Es scheint mir nicht zu weit gegriffen, die paradoxe, beinahe schon sadomasochistische, auf jeden Fall aber ungesunde, da psychisch zermürbende und immanent toxische Beziehung der Beiden mit der zu vergleichen, die sich in BLUE MOVIE zwischen Photograph Claudio und Modell Silvia in dessen abgeschiedenem Haus abspielt. Nie weiß man, wer gleich die nächste Ohrfeige einfängt, oder ob Ursula eine intime Szene mit einem rassistischen Seitenhieb zerstören, und ob Uta sie im Gegenzug dafür mit Liebesentzug bestrafen wird.

Verkompliziert wird dieses Geflecht aus Abhängigkeiten und Ausbeutungen, als Ursula und Uta beim Strandbaden auf den Arzt Henry treffen, mit dem beide Frauen – aus ganz unterschiedlichen, jedoch kaum einmal dezidert benannten Gründen – ein Tête-à-Tête beginnen, vor allem aber lange und intensive Diskussionen führen, während man beispielweise durchs marokkanische Hinterland cruist, einen Markt besucht, oder sich gepflegt zu Hause einen hinter die Binde kippt. Viertes Rad am Wagen wird, als sich die vor Eifersüchteleien und andauernd Neuformierungen der etablierten Machtkonstellationen nur so strotzende Ménage-à-trois zwischen Uta, Ursula und Henry mehr und mehr zuspitzt, ein junger Tramp, (quasi eine Frühform des namenlosen Fremden in SPELL), der permanent versucht, Uta zur Revolte gegen alles und jeden anzustacheln: Gegen das Wirtschaftssystem; gegen die Vorherrschaft der weißen Rasse; gegen das Patriarchat. In einer ergreifenden Szene entlädt sich Utas (Selbst-)Hass jedoch letztlich an einem geschundenen Bettler, sprich, am schwächsten Glied der Gesellschaft, den sie, von einer Party fliehend, auf der Ursula einmal mehr ihre (vermeintliche) Überlegenheit zur Schau gestellt hat, krankenhausreif prügelt. Allzu konkret wie in diesem Moment wird Cavallones Film allerdings selten: Zwischen den Zeilen scheint mir noch ein ganzer Roman zu stecken, zumal wir selten sicher sein können, ob das, was die Figuren einander anvertrauen, auch wirklich dem entspricht, was sie fühlen oder meinen, und die Erzählstruktur immer wieder von Rückblenden durchbrochen wird, die die Dinge zusätzlich verrätseln: So erfahren wir, dass Henry als Arzt in Indochina arbeitete, wo ihm der Vietkong die eigene Frau wegbombte, obwohl er einzig deshalb in das kriegsgebeutelte Land reiste, um als Psychiater der vom internationalen Kolonialismus in Mitleidenschaft gezogenen Zivilbevölkerung zu helfen, oder, dass Ursulas frühere Freundin Lynn Selbstmord vor laufender Kamera beging, die alle paar Sekunden eine neue Aufnahme des ihr entschwindenden Lebens schoss, während Uta heimlich und tatenlos ihr beim Sterben zuguckte.

Offensichtlich wird in solchen Szenen allerdings, dass ein Großteil der Cavallone noch bis in die 80er beschäftigenden Ideen in LE SALAMANDRE bereits in nuce angelegt sind: Ein Ausflug in die Ruinen von Karthago erinnert mich an die verlassene Waldsiedlung in BLUE MOVIE; eine dann doch noch einmal aufrüttelnde Szene relativ zu Beginn nimmt die Integration authentisches Vietnamkriegs- und Holocaust-Footages in besagtem Film vorweg, wenn Henry unseren Heldinnen vor eine Mauer in Strandnähe führt, die von der örtlichen Bevölkerung gemieden wird, da dort vor geraumer Zeit regelmäßige Hinrichtungen stattfanden, worauf Cavallone die Gelegenheit nutzt, dokumentarische Aufnahmen tatsächlicher Erschießungen einzufädeln; schlicht beeindruckend empfinde ich auch die letzten Szenen, in denen sich Utas und Ursulas vergiftete Liaison in Mord und Totschlag entlädt, nur um Cavallone plötzlich den Final-Joke von Jodorowskys HOLY MOUNTAIN antizipieren zu lassen: Zoom back, Camera!, und auf einmal erkennen wir das Blut auf Ursulas Körper als rote Farbe, und Cavallone und sein Team erscheinen im Bildkader, die Illusion brechend und mir ein breites Grinsen ins Gesicht zaubernd. Einzig die ausführlichen Sex- und Erotikszenen, die dem Vernehmen nach Cavallone von seinen Produzenten aufoktroyiert worden sein sollen, mindern das Vergnügen ein bisschen, das mir LE SALAMANDRE als vergleichsweise zahmes, zugleich aber stilbildendes Frühwerk meines persönlichen Lieblings-Mavericks des italienischen Kinos bereitet; andererseits: Hätte LE SALAMANDRE weniger nackte Körper im Gepäck gehabt, wäre er möglicherweise an der Kinokasse kläglich durchgefallen, und Cavallone hätte nicht die Gelegenheit bekommen, im Fahrwasser seines frühen Erfolgs noch flink mit DAL NOSTRO INVIATO A COPENAGHEN (1970) ein Drama um einen traumatisierten Vietnam-Veteran in der titelgebenden dänischen Hauptstadt, und mit QUICKLY – SPARI E BACI A COLAZIONE (1971) einen wahren Pop-Art-Exzess hinterherschieben können, bevor mit AFRIKA (1974) die Phase seines Schaffens eröffnet, in der er seine Sprengung etablierter Konventionen so weit treibt, dass es ihn an den marginalsten Rand der italienischen Filmindustrie drängt - und darüber hinaus...
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Der Ochsenkrieg

Produktionsland: Deutschland 1920

Regie: Franz Osten

Darsteller: Fritz Greiner, Thea Steinbrecher, Viktor Gehring, Ernst Rückert
Das Berchtesgadener Land im Spätmittelalter: Die bäuerliche Bevölkerung befindet sich unter der nicht allzu frommen Herrschaft einiger Klosterherren und deren aristokratischer Handlanger, die nicht nur unerbittlich ihren Zehnt einfordern, und die politischen Geschicke der Region ohne Mitspracherecht des Plebs bestimmen, sondern, wie im Falle des Chorherren Aschacher, auch schon mal in die nahegelegenen Dörfer streifen, um wehrlose Mägde und Bauernfrauen zu notzüchtigen. Als sich Aschacher allerdings an der Gattin des angesehenen Ramsauer Bauern Runotter vergreift, wird es selbst dem Landesfürst zu wild, und man straft den jungen Mann mit strenger Klosterklausur. Monatelang hält die geschändete Frau die Vergewaltigung geheim, dann entdeckt sie sich doch dem überraschend verständnisvollen Gatten, der indes freilich auch nichts daran ändern kann, dass die Angetraute bei der Geburt des körperlich wie geistig zurückgebliebenen Vergewaltigungssprösslings verstirbt. Obwohl Runotter dem verbannten Aschacher blutige Rache schwört, zieht er die Loyalität seinen Oberen gegenüber trotzdem zu keiner Zeit in Zweifel. Jahre gehen ins Land, und während Aschacher sich im Klosterexil zu einem Muster an Gottesfurcht gewandelt hat, ist Runotters Tochter Jula inzwischen zur jungen Frau herangereift, kümmert sich rührend um ihren behinderten Bruder und die väterlichen Kühe, und sieht sich außerdem den ihr durchaus angenehmen Avancen von Lampert ausgesetzt, seines Zeichens Sohn des neuen Amtmanns Someier. Lamperts Vater ist ein staubtrockener Kopf, der das Land allein nach dem Buchstaben des Gesetzes regiert. Als Lampert sich einmal verplappert und beiläufig erwähnt, er sei bei Jula auf der Alm gewesen und habe dort frische Kuhmilch getrunken, schellen bei dem gestrengen Papa sofort sämtliche Alarmglocken: Laut Weiderecht ist es doch verboten, auf der Alm Kühe zu halten; einzig und allein Ochsen seien erlaubt! Zunächst hält Runotter die Drohung für einen schlechten Scherz, er solle binnen eines Tages seine Kühe von der Alm schaffen, sonst würden sie zwangskonfisziert werden: Ob es nun Kühe oder Ochsen sind, die das Gras da fressen, ist doch vollkommen gleichgültig, und niemand wird deshalb doch wohl einen Krieg anzetteln wollen! Schließlich wird es unserem Helden aber doch mulmig, gerade auch, weil zu allem Überfluss jenes Schriftdokument auf einmal unerfindlich ist, in dem ihm von Someiers Vorgänger zugestanden wird, auch weibliche Tiere auf seinem Grund und Boden grasen lassen zu dürfen. Letztlich kommt es also doch zum Konflikt: Gedungene Pfandeintreiber brennen Runotters Gehöft nieder, verschleppen die Kühe, und töten versehentlich gar seinen Ziehsohn. Nun reißt den Bauern noch die letzte Geduldsschnur: An der Seite Runotters erklärt man weltlichem und kirchlichem Gesetz den offenen Kampf – und die Liebenden Lamprecht und Jula geraten beim folgenden Guerilla-Gefecht zwischen beide Fronten…

Das, was wir heute gemeinhin unter Heimatfilmen verstehen – rührselige Herzschmerzgeschichten, eingebettet in Bildern wie aus Tourismuskatalogen, und gewürzt mit mehr oder minder subtilen Dichotomisierungen zwischen verlottertem Stadtleben und traditionellem Landidyll –, ist eine Entwicklung, die so richtig erst nach dem Zweiten Weltkrieg Fahrt gewinnt, um die zurückliegenden traumatischen Jahre mittels einer heilen Welt zumindest auf der Kinoleinwand zu kompensieren. Die nominellen Vorläufer des Heimatkinos aus den 40ern, 30ern oder 20ern sind demgegenüber gemeinhin wesentlich düsterer gemalt: In den Bergfilmen Arnold Fancks und deren Derivate wie Hans Steinhoffs GEIERWALLY von 1940 oder Luis Trenkers DER VERLORENE SOHN von 1934 begegnet uns eine zwar zuweilen überirdisch schöne, nahezu mystische, aber ebenso übermächtige und dadurch zerstörerische Natur, die nichts zu tun hat mit den Bundesgartenschau-Kulissen voller Zierblumen und Hoppelhäschen eines GRÜN IST DIE HEIDE (1951) oder DER FÖRSTER VOM SILBERWALD (1954). Für Franz Ostens DER OCHSENKRIEG aus dem Jahre 1920 gilt, trotz des drolligen Titels, das Gleiche: Zum Schmunzeln oder Schmusen lädt wenig ein, wenn die Adaption eines Ganghofer-Romans den Bauernalltag im 15. Jahrhundert als schmerzensreiches Los schildert, bei dem einem nicht nur die grausame Natur andauernd ein Bein zu stellen bereit ist, sondern sich das einfache Volk außerdem der drückenden und unterdrückenden Gewalt sowohl säkularer wie sakraler Fremdherrschaft ausgesetzt sieht.

Sicher, wenn der Film ein Kontrastprogramm fährt zwischen unschuldig-reinem Leben der Landbevölkerung, die sich noch im Ein- und Gleichklang mit sich und der sie umgebenden Landschaft befindet, und dem bornierten Rechtsverständnis der Amtmänner sowie dem sündhaften Lebenswandel des Adels, dann ist das nicht allzu weit entfernt von späterer Schwarz-Weiß-Malereien zwischen unberührtem Hinterland und in jedweder Hinsicht schädlicher Großstadt. Andererseits sind die Konflikte in DER OCHSENKRIEG, ganz im Gegensatz zu den meisten Heimatfilmen der 50er und 60er, immer welche, die sich nicht einfach mit einem Volkslied oder einem Busserl beiseiteschieben lassen: Wenn die Bauern gegen ihre unerwünschten Herren in den Krieg ziehen, dann geht es um Leib und Leben, und erinnert gerade auch wegen seiner kraftvollen Bilder und der atemlos voranschreitenden, sich kaum einmal eine Verschnaufpause gönnenden Inszenierung durchaus bereits an ähnliche Freiheitskampfepen wie beispielweise Luis Trenkers sensationellem DER REBELL (1932), in dem der Freiheitskampf der Tiroler gegen die Truppen Napoleons ähnlich sowohl unterhaltsam wie auch aufwühlend geschildert wird. Wenn Trenker ein Regisseur ist, der zumindest mit dem Nationalsozialismus kokettiert und in seinen Regie-Arbeiten unverhehlt nationalistische Töne anschlägt, dann hat DER OCHSENKRIEG freilich einen anderen historischen Hintergrund: Entstanden ist der Film zwei Jahre nach der Novemberrevolution, und man muss gar kein kluger Kopf sein, um das Finale, in dem sich Bauern und Adel nach Verlusten auf beiden Seiten gegenseitig die Hände reichen, als Aufruf der Versöhnung zwischen überkommener Monarchie und frischgegründeter Demokratie zu verstehen.

Da ich ein großer Fan bin von Filmen, in denen Wildbären entweder durch Männer in lausigen Karnevalskostümen oder durch ausgestopfte Vertreter ihrer Gattung dargestellt werden, muss ich den wirklich unterhaltsamen, kurzweiligen, inhaltlich an Kleists Michael Kohlhass erinnernden und, was seine Massenszene betrifft, zuweilen gar die Opuelnz von Fritz Langs NIBLEUNGEN vorwegnehmenden OCHSENKRIEG übrigens noch besonders ins Herz schließen. In einer Szene relativ zu Beginn nämlich flüchten Runotters Frau und die kleine Jula vor einem Meister Petz, der durch einen halbwegs glaubhaften Puppenkopf verkörpert wird, den irgendein Praktikant hinter einem Gebüsch in die Höhe hält, und langsam hin und her bewegt: So kurz diese Einstellung ist, so sehr kommt sie meiner eigenartige Vorliebe entgegen: Ein Untier wie aus einer Grottenbahn! Dass Mutter und Tochter zu einem nahen Wegkreuz flüchten, wo sie erstmal lang und breit Christus um Schutz bitten, statt zuzusehen, so schnell wie möglich aus dem Gefahrengebiet zu kommen, macht diesen Moment umso schöner.

Gesichtet habe ich den Film in der restaurierten Fassung, die ARTE zurzeit kostenlos in seiner Mediathek bereitstellt, und empfehle jedem und jeder Mitlesenden, dies ebenfalls zu tun, wenn er oder sie einmal das Gefühl haben möchte, die eigene Scholle unter Einsatz des Lebens gegen die übelwollenden Zugriffe sowohl des Klerus wie des Lokaladels verteidigen zu müssen.

P.S.: Im Jahre 1943 verfilmt Hans Deppe den Stoff erneut. Leider ist diese Fassung kommerziell nicht zugänglich, und höchstens als 35mm-Kopie im Bundesarchiv einsehbar. Mich juckt es ja in den Füßen, einmal wieder nach Berlin zu pilgern, um zu schauen, welche Modifikationen die Vorlage gemäß der NS-Ideologie unterlaufen hat.

P.S.S.: Regisseur Franz Osten wurde in der Folge zu einem der Gründerväter Bollywoods. Bereits in den 20ern zieht es ihn nach Indien, um deutsche Co-Produktionen wie SHIRAZ (1928) zu realisieren. 1935 folgt die endgültige Übersiedlung, und er führt bei insgesamt sechzehn Bollywood-Produktionen Regie bevor der Zweite Weltkrieg seiner Karriere ein jähes Ende bereitet.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: O Vampiro da Cinemateca

Produktionsland: Brasilien 1977

Regie: Jairo Ferreira

Darsteller: Jairo Ferreira, José Mojica Marins, Jards Macalé, Carlos Reichenbach, Lygia Reichenbach
Vor circa einem Jahr tüftle ich mit zwei Freunden am Rande einer wirklich bizarren Konferenz im Wendland folgenden Plan aus: Wieso nicht einmal eine noch bizarrere Konferenz, inklusive Film-Screenings, zum Themenkomplex „Unwatchable Movies“ initiieren? Die Filme, die uns spontan einfallen, gehören natürlich allesamt zu der Fraktion, die mit Tabubrüchen nur so um sich schmeißt, und gelten deshalb gemeinhin als unansehnlich, weil in ihnen abjekte Phänomene bebildert werden, von denen unsere moderne Gesellschaft partout nichts wissen möchte: Die Kotz-Orgien von Lucifer Valentines SLAUGHTERED VOMIT DOLLS beispielweise, oder die weder mit Tierleid noch mit Fäkalien geizenden mitgefilmten Performance-Aktionen der Wiener Aktionisten um Otto Mühl. Würde man den Rahmen weiter fassen, und auch Werke mit ins Programm nehmen wollen, die deshalb fernab jedweder Konsumierbarkeit liegen, weil sie sich ganz bewusst mit dem Rücken zu ihrem Publikum stellen, um es nicht etwa zu unterhalten, sondern psychisch und physisch fertigzumachen, dann habe ich einen wirklich wie die Faust aufs Auge passenden Kandidaten in Form eines obskuren brasilianischen Streifens aus dem Jahre 1977 namens O VAMPIRO DA CINEMATECA gefunden. Nein, was der hauptamtliche Filmkritiker und Buchautor (unter anderem über die „Cinema-Marginal“-Epoche des brasilianischen Kinos) Jairo Ferreira uns hier vorsetzt, das ist nicht etwa ein vergessenes Horrorstück im Geiste José Mojica Marins und hat schon gar nichts mit Roland Lethems gleichnamigem, vergleichsweise zugänglichem Experimentalfilm LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE von 1971 zu tun. In einem Satz zusammengefasst: O VAMPIRO DA CINEMATECA ist selbst für jemanden wie mich, der sich in den obskureren Nischen der Filmgeschichte inzwischen wie zu Hause fühlt, das härteste kinematographische Brot, das meine armen Zähne sich vorstellen können…

Worum es geht, diese Frage macht im Hinblick auf Ferreiras einstündiges, wie es im Vorspann heißt, „seltsames kinematographisches Abenteuer“ genauso viel Sinn, wie eine Inhaltsangabe eines aktuellen Godard-Films zu verfassen. Dass die imdb das Werk unter dem Genre-Tag „Comedy“ listet, leistet ebenfalls keine Hilfestellung, denn, um ehrlich zu sein, angesichts des Gewitters aus zusammenhanglosen Bildern, Ideen und Referenzen, mit denen Ferreira mich beschießt, erstirbt mir das Lachen bald in der Kehle. O VAMPIRO DA CINEMATECA kann man am ehesten wohl mit den Ikonoklasmen der jungen Wilden von der sogenannten „Zanzibar-„Bewegung – Philippe Garrel, Serge Bard, Jackie Raynal – vergleichen, die Ende der 60er der, ihrer Meinung nach, längst in Konventionen und Kommerz erstarrten Nouvelle Vague den Kampf erklären, indem sie sich in Filmen mit ungewöhnlichen Laufzeitlängen, ohne Ton, ohne kohärente Narration, ohne die geringsten Zugeständnisse an den Massengeschmack verausgaben. Wenn eine Sache bei O VAMPIRO DA CINEMETACA jedenfalls klar ist, dann, dass wir es hier mit einem steif emporreckten Mittelfinger gegen alles und jeden zu tun haben: Dass ich mich nach „Genuss“ des Films also wie gerädert fühlte, dürfte durchaus der Agenda des Filmemachers entsprechen.

Was sehen wir? In Lichtspieltheatern werden der Vincent-Price-Schocker DR. PHIBES RISES AGAIN, die Geburtsstunde Zé do Caixaos À MEIA-NOITE LEVAREI SUA ALMA, Leni Riefenstahls TRIUMPH DES WILLENS direkt von der Leinwand abgefilmt. Ein Mann sitzt im Projektionsraum herum, und rezitiert Sätze wie aus einem vulgären Porno, wozu dann sinnfällig auch eine Hardcore-Penetration eingespielt wird. Lange fährt man nachts mit dem Auto durch Sao Paulo und zelebriert das irisierende Spiel der Reklamelichter und Straßenlaternen einfach um seiner selbst willen auf 8mm-Material. Ein anderer Mann steht vor seinem eigenen Spiegelbild und spuckt diesem Blut ins Gesicht. Ein dritter Mann liest uns einzelne Einträge aus der „Film Buff’s Bible“ vor. Zwischendurch werden Interviewszenen mit Glauber Rocha eingeblendet, wobei Ferreira seine Verachtung diesem Heros des Cinema Novo gegenüber zum Ausdruck bringt, indem er ihn sinnentstellend nachsynchronisiert und einige ordinäre Worte in den Mund legt. Eine Dziga-Vertov-Hommage, den Ferreira wohl ganz in Ordnung findet, darf in einer Szene, in der sich eine Kamera eigenständig zusammenbaut und auf ihren Stelzen herumstolziert, ebenso wenig fehlen wie an anderer Stelle unmotivierte Auftritte schlechter Spezialeffekte, die einen Ufo-Flug simulieren sollen.

Was bekommen wir zu hören? Eine tiefgemischte Geisterbahn-Stimme kommentiert über weite Strecken den disparaten Bilderbogen mit Pennälerhumor. Im Off droppt man Namen wie Marcel Duchamp oder Oswaldo de Andrade, rezitiert Lautréamont und William Blake. Im auditiven Tohuwabohu erhascht man den einen oder anderen vertrauten Song: Alice Coopers „No More Mr. Nice Guy“, oder „Mao Mao“, den Godard in LA CHINOISE verwendet, oder Händels Sarabande, die das akustische Erkennungsmerkmal von Kubricks BARRY LYNDON darstellt. Viel wird gesprochen in O VAMPIRO DA CINEMETACA, und dennoch, meinem Gefühl nach, wenig wirklich Relevantes gesagt. Was ich mitgenommen habe, das sind Schlagwortthesen wie, dass jedes Drehbuch per se bereits ein Meta-Film sei, oder dass der große Makel des Cinema Novo es bedeute, sich für politisch links zu halten, obwohl es, im Gegenteil, eher rechts ausgerichtet gewesen sei, oder den immerhin einprägsamen Slogan: FILMING FILMS THAT FILM FILMS! Was genau Ferreira nun ernstmeint und was nicht, lässt sich kaum eruieren: Hält er Orson Welles CITIZEN KANE wirklich für eine Meilenstein der Kinohistorie, oder verstehe ich die Ironie einfach nicht? Soll ich seine Anklage eines popkulturellen Kolonialismus, der die genuin brasilianische Kultur bedrohe, für bare Münze nehmen, oder greift er einfach konservative Argumente auf, um sie zu karikieren? Nur bei einem bin ich mir sicher: Dass der Film mit Aufnahmen von José Mojica Marins „Coffin Joe“ endet, das hat etwas mit ehrlicher Begeisterung diesem Maverick des lateinamerikanischen Kinos gegenüber zu tun, der dann auch außerhalb der Leinwand zu Ferreiras Freundeskreis zählte.

Was bleibt hängen von O VAMPIRO DA CINEMATECA? Ich fürchte, vom eigentlichen Film nicht viel mehr als verwaschene Aufnahmen von Fernsehschirmen und Kinoleinwänden, ein paar obszöne Kalauer und das Gefühl, eine der anstrengendsten audio-visuellen Kakophonien meiner gesamten Laufbahn als Cineast beigewohnt zu haben. Ob es jemandem, der vertrauter mit der brasilianischen Popkultur ist als ich es bin, anders ergehen wird, kann ich nicht beurteilen, mag es dann aber doch bezweifeln. Es kommt wirklich nicht oft vor, dass ich bei einem Film, (der, wie gesagt, nur etwas mehr als sechzig Minuten dauert!), gleich mehrmals versucht bin, die Sichtung einfach abzubrechen und mich angenehmeren Dingen zuzuwenden. Allein dafür, dass er es geschafft hat, mich derart aus der Fassung zu bringen, muss man Jairo Ferreira jedoch beinahe schon wieder ehrlichen Tribut zollen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: At Sea

Produktionsland: USA 2007

Regie: Peter B. Hutton

Darsteller: Das Frachtschiff "Toledo Spirit", Werftarbeiter, Meereswellen, nordafrikanische Küstenbewohner
Zum Schrottwichteln 2017 habe ich von dem lieben Bux ein wirklich famoses Paket erhalten. Zwischen all den Aufmerksamkeiten wie einem Lehrvideo über die Haltung von Leguanen, einer menschenverachtenden Shockumentary mit dem schlichten, aber sinnigen Titel DEATH und diversen VHS-Artefakten aus der (norddeutschen) Punk- und Pogo-Szene befand sich auch eine rätselhafte DVD namens THE MAKING OF TYPE 183, offenbar ein Werbevideo, herausgegeben von einer gewissen „SAL Schifffahrtskontor Altes Land GmbH & Co. KG“, in dem der Öffentlichkeit deren neuste Schöpfung, „a ,type 183‘ verssel“, präsentiert werden sollte. Für etwa eine Stunde befasst sich das Marketing-Filmchen mit der Konstruktion des titelgebenden Handelsschiffs, beginnend bei den allersten Handgriffen in der J. J. Sietas KG Schiffswerft im Juni 2010 bis zu dem Dezember desselben Jahres, als ihm der letzte Schliff gegeben wird, und es bereit zum Auslaufen ist. Unterlegt werden die regelrecht glattgeschleckten Bilder von Texteinblendungen, die uns nüchtern über die einzelnen Arbeitsschritte informieren, sowie penetranter elektronischer Muzak, die in keiner Sportabteilung eines großen Kaufhauses unangenehm auffallen dürfte. So sehr mich der Film seinerzeit auch fasziniert hat – (ja, ich gestehe: Ich habe mir das echt von der ersten bis zur allerletzten Sekunde angeschaut) –, hatte ich dann doch nie die Muße, etwas darüber zu schreiben: Was soll man dazu auch groß noch sagen? Diejenigen, die irgendwie in den Bau dieses Frachtschiffs involviert gewesen sind, werden sich bei der abschließenden Sichtung des weder ästhetisch noch technisch sonderlich spektakulären Films stolz gegenseitig auf die Schulter geklopft haben, und diejenigen, die weder mit diesem besonderen Schiff etwas zu tun haben noch mit Werftarbeit und Schiffbau im Allgemeinen, werden sich spätestens nach fünf Minuten mit einem gelangweilten Gähnen abwenden.

Umso mehr freut es mich, dass ich nun, bald zwei Jahre später, doch tatsächlich ein Äquivalent zu THE MAKING OF TYPE 183 gefunden habe, über das es sich dann doch lohnt, ein paar Worte zu verlieren, namentlich AT SEA aus dem Jahre 2007, einer der letzten Arbeiten des 2016 verstorbenen Experimentalfilmers Peter B. Hutton, der vor allem für seine stummen Portraits von Städten und Landschaften rund um den Globus bekannt geworden ist. Für AT SEA hat er sich eines Konzepts angenommen, das zumindest in seinem ersten Teil frappierend mit dem des Bux’schen Marketing-Videos übereinstimmt: In irgendeiner europäischen Werft wird ein Frachter namens „Toledo Spirit“ konstruiert. Wir sehen, wie Männer, ameisenklein gegenüber dem Meeresriesen, den Rumpf in anstrengender Kleinstarbeit in eine bestimmte Richtung schieben; wir sehen, wie Männer, käfergroß, von Kränen dem Bug hingehalten werden, damit sie ihn streichen; wir sehen, wie Männer, winzig wie Amöben, in Gerüsten herumkraxeln, die selbst schon wirken wie Hochhausskelette. So sehr die ersten zwanzig Minuten von AT SEA damit THE MAKING OF TYPE 183 rein inhaltlich gleichen mögen, so sehr klaffen Welten zwischen dem pausenlos pumpenden Elektro-Score des Werbevideos und Huttons ungleich spröderem Zugriff auf die Thematik: Es erinnert mich beinahe an die frühen kinematographischen Experimente von Edison oder den Lumières, wenn Hutton seiner Kamera konsequent jedwede Schwenk- oder Fahrtbewegung, selbst jeden Zoom verweigert, und wenn er die Tonspur ebenso konsequent leer belässt. Tatsächlich werden wir die knappe Stunde, die AT SEA dauert, keinen einzigen Mucks zu hören bekommen. Die Macher des Werbefilms wollen uns für ihre Schöpfung begeistern, wohingegen Hutton mich eher mit einem Gefühl der Ohnmacht zurücklässt. So intensiv betrachtet, so verloren in Detailaufnahmen, mal aus allernächster Nähe, sodass man die Dimensionen des Schiffs kaum abzuschätzen vermag, dann wieder in Totalen, die erst recht die Monstrosität dieses Ozeankolosses offenlegen, kann Huttons Dokumentation gar nicht anders, als über ihren reinen Bildinhalt hinausgreifen, und uns mit existenzialistischen, dystopischen, science-fiction-artigen Eindrücken zu konfrontieren.

Was die Macher von THE MAKING OF TYPE 183 nicht interessiert, das ist, wie sich ihr Vessel dann auf hoher See schlagen wird. Es scheint allgemeiner Konsens, dass solch ein tolles Gefährt unbeschadet die Weltmeere überquert, wie sollte es auch anders sein? Hutton widmet der Fahrt seiner „Toledo Spirit“ indes den gesamten Mittelteil: Fix montiert am Mast des Schiffes begleiten wir es hinaus auf den Ozean, bei Regen, bei Sturm, bei Schnee, bei stiller See, unter uns zahllose kunterbunte Container, vor uns der grenzenlose Horizont. Mal schießt sich Huttons Kamera auf die Fahrrinne ein, die das Schiff wie einen Schlangenschweif hinter sich herzieht; mal betrachtet er Lichtphänomene, die die unter- oder aufgehende Sonne aufs Meer zaubert. Immer mal wieder wird die Grenze zur Abstraktion überschritten: Die im Wellengang schaukelnde braunlackierte Reling, die zuweilen mit der Meeresoberfläche zwei parallel verlaufende Linien bildet, das könnte auch irgendein konstruktivistisches Gemälde sein, oder die sich filigran kräuselnden Wellenmassen, mal tiefschwarz, mal hellblau, das sind wuselnde monochrone Farbflächen, die einen zum Sich-Verlieren einladen. Nun weiß ich, woher Helene Wittmann möglicherweise die Inspiration für den Mittelteil ihres Spiel- und Dokumentarfilm-Hybriden DRIFT (2017) herhat: Nur untermalen bei Frau Wittmann dumpfe Drones die meditativen Ozean-Bilder, während sie bei Hutton, wie bereits erwähnt, ohne jedweden Begleit-Sound auskommen. Spätestens jetzt, wo das Schiff zwar den Mittelpunkt der Reise allein dadurch bildet, dass es der Kamera als Arm und Schienen dient, sich selbst jedoch nicht länger im Fokus dieser Kamera befindet, haben wir auch die Trivialitäten von THE MAKING OF TYPE 183 längst hinter uns gelassen.

In seiner letzten Viertelstunde wendet sich AT SEA dann sogar noch zu einer regelrechten Anti-Thesis solch oberflächlicher, reflexionsbefreiter Filme wie THE MAKING OF TYPE 183: Sein Triptychon aus Geburt und (Lebens-)Reise beschließt Hutton nämlich folgerichtig mit dem Tod des Schiffs. Nach einem Schnitt finden wir es gestrandet vor der nordafrikanischen Küste. Nun erinnert es erst recht an bemitleidenswerte Wale, die es aus eigenem Antrieb nicht mehr zurück ins Meer schaffen. Einer schwimmenden Ruine gleich ist inzwischen seine einstmals grellrote Farbe abgeblättert, seine stählerne Haut verrostet, sein Deck menschenleer. Allerdings nähern sich aus dem Landesinnern Besucher dieses wahren Friedhofs für leckgeschlagene Meeresfahrzeuge: Angesichts der unverminderte Größe des "Toledo Spirits" und seiner Schicksalsgenossen erneut ameisenkleine Männer, die durchs Meer waten, um Schiffsteile einzusammeln, die Seile auswerfen, um das Wrack weiter an Land zu zerren, die einfach nur sinnierend vor dem gefällten Giganten stehen. Dass Huttons Farbphotographie jäh ins Schwarzweiße wechselt, trägt nur zu der morbid-melancholischen Stimmung bei, die die letzten Minuten von AT SEA durchweht. Emotional am meisten bewegt hat mich aber, wohl von Hutton beabsichtigt, seine Finaleinstellung: Während die Kamera bis hierhin eine unsichtbare Existenz geführt hat, werden die afrikanischen Schiffsbesucher auf einmal aufmerksam auf sie. Man grinst in die Linse, winkt, wirft sich in Pose, ebenfalls genau so wie wir das aus den frühsten kinematographischen Dokumenten eines Edison oder Lumière kennen, wenn eine beliebige Passanten-Menge um 1900 plötzlich die Kamera in ihrer Mitte bemerkt. Nun steht erstmal der Mensch im Mittelpunkt, nicht mehr seine Behelfsmittel zur Welteroberung.

Wie soll man AT SEA interpretieren? Als Allegorie auf den Untergang der westlichen Zivilisation, die zerschellt an der Küste Afrikas? Als Anklage gegenüber dem Zivilisationsmüll, der, in minutiöser Feinarbeit verfertigt, dann doch nur als Unrat am Strand eines Landes der sogenannten „Dritten Welt“ endet? Als Ausdruck eines De-Poetisierungsprozesses, mit dem unsere alltägliche Wirklichkeit, und sei es schnödes Werftmalochen, durch Einsatz filmischer Mittel zumindest visuell verzaubert werden soll? Festeht: Wenn Hutton der Kurzsichtigkeit, oder, falls man die Faust etwas fester ballen möchte, Verlogenheit eines Produkts wie THE MAKING OF TYPE 183, das sein angeblich anpreisungswürdiges Endprodukt mit stilisierten Bildern über den grünen Klee lobt, und dabei ganz bewusst jedwede sozioökonomischen und globalpolitischen Implikationen ausblendet, mit dem denkbar simpelstem Formalismus entgegentritt, dann um einen Reflexionsprozess anzuregen, den ich einmal als fundamentale Differenz zwischen Werbung und Kunst bezeichnen würde: Die eine wiegt mich in Sicherheit, die andere führt dazu, dass ich unsichere Zeilen wie diese tippe. Toller Film!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Signal 30

Produktionsland: USA 1959

Regie: Richard Wayman

Darsteller: Unfallopfer auf US-amerikanischen Highways, Polizisten, Sanitäter

Abt.: Unglaublichkeiten...
Vor einigen Jahren hatte tatsächlich auch ich mal versucht, mir einen Führerschein anzulachen. Ein Faktor, der mir die sowieso nur halbherzigen Ambitionen jedoch früh vergällte, das waren diese unsägliche Lehrvideos, die man uns in jeder Theoriestunde vorsetzte. Da sah man, unterlegt mit garstigem Konserven-Muzak, wandelnde Klischeebilder der frühen 90er mit Vokuhila und bis zu den Waden hochgezogenen Socken, die beim Aufsagen ihrer gestelzter Dialoge andauernd Gefahr liefen, sich sämtliche Knochen im Leib zu brechen, und die sich mit solchen Problemen herumschlagen mussten, wie der Frage, mit wie viel Gewicht man das Dach eines handelsüblichen PKWs beladen darf, und wie man eigentlich den Warnblinker setzt, wenn man unterwegs eine Reifenpanne hat. Jedes Mal, wenn meine potentiellen Identifikationsfiguren auf dem Fernsehschirm in derartig brenzlige Lagen gerieten, tauchte dann eine weitere, meist etwas ältere Figur, bspw. ein Vater oder ein weiser Nachbar, als deus ex machine auf, und ratterte genau die Lehrinhalte herunter, die sich mir während der jeweiligen Sitzung ebenfalls im Kopf festsetzen sollten: So und soviel Kilogramm, nicht mehr!, und: Erst diesen Schalter, dann jenen usw.

Es scheint allerdings – zumindest in den Vereinigten Staaten – einmal eine Zeit gegeben haben, in der man als Fahrschüler ganz anderen Filmchen ausgeliefert worden ist: In SIGNAL 30, einem „Driver Education Film“, den die Highway Safety Foundation von Ohio 1959 produziert hat – und bei dem es sich um den berühmtesten, wenn nicht berüchtigsten dieser mittlerweile marginalisierten Kaste von ästhetischen Artefakten handelt –, beispielweise gibt es, im Gegensatz zu den mir fünfzig Jahre später vorgesetzten visuellen Unterrichtseinheiten, kaum etwas zu lachen – und zwar weder für die Protagonisten innerhalb des Films noch, denke ich mir, für die bemitleidenswerten jungen Leute, die diese Todesparade seinerzeit eine halbe Stunde lang ertragen mussten.

Ein Reifenquietschen, schrill wie die Streicher, die spätere Szenen des Films untermalen werden, ein lauter Knall, und schon sehen wir ein demoliertes Autowrack, aus dem ein lebloser Jüngling herausbaumelt. Eine Texttafel lässt keine Zweifel an der Authentizität dieses Bildes: „SIGNAL 30 is not a Hollywood production as can readily be seen. The quality is below their standards. However, most of these scenes were taken under adverse conditions, nothing has been staged. These are actual scenes taken immediately after the accidents occurred. Also unlike Hollywood our actors are paid nothing. Most of the actors in these films are bad actors and received top billing only on a tombstone. They paid a terrific price to be in these movies, they paid with their lives.”

Signal 30, das ist, erklärt der Film uns ebenfalls recht früh, jener Code, der Polizeibeamten und Sanitätern anzeigt, dass sie zu einem schweren Autounfall gerufen werden. Genau dorthin folgen wir in winzigen Vignetten nunmehr den Streifen- und Krankenwagen Ohios – und bekommen dabei so ziemlich alles präsentiert, was man sich als Aftermath eines Car Crashs vorstellen kann: Verbrannte Körper, die kaum noch als die eines Menschen identifiziert werden können; Verletzte und Verwundete, die es aus ihren Vehikeln auf die Fahrbahn geschleudert hat; Autos, die sich wie bei einer Umarmung hufeisenförmig um einen Baum schmiegen; einen PKW, der mit einem Lastzug kollidiert ist; Blutlachen und Blutschlieren auf dem Asphalt. Originalton gibt es keinen, dafür überlaut eingespielte Polizeisirenen als akustisches Leitmotiv, und einen Sprecher, der mit trockener Stimme und mit permanent drohendem Zeigefinger die schaurigen Bilder mit der Agenda des Films koppelt.

Niemals sind es einfach nur Unfälle, persönliche Katastrophen, schwere Schicksalsschläge, die den zumeist jungen Leuten widerfahren. Man spricht von einem “apocalyptic flight into oblivion," einem “carnage of twisted metal and destroyed flesh" oder einem “offering to the great God Speed”. Außerdem wird, gemäß einer düsteren Didaktik, jeder Tragödie ein bestimmter Grund zugewiesen: Der eine Fahrer war leichtsinnig genug, seinen Sicherheitsgurt nicht festzuzurren; ein anderer soll mit der zu fahrenden Strecke zu sehr vertraut gewesen sein, wodurch seine Selbstsicherheit in Unachtsamkeit umschlug; manche sind betrunken oder übermüdet, andere haben ihre Lust daran, das Gaspedal über Gebühr durchzutreten. Dass all diese Ursachen offenkundig purer Spekulation, wenn nicht bloßer Fabrikation entsprungen sind, dürfte genauso klar sein wie, dass die angepeilte Schock-Taktik dem Film – wenigstens aus heutiger Sicht – mehr als ein Bein stellt: Diese tiefschwarze, zynische, überzogene Rhetorik führt letztlich nämlich nirgendwohin – außer zu der ständig repetierten Phrase: „Think, young man, think again!“

Ich glaube eher, den meisten Fahrschülern, denen man in den 50ern und 60ern einen solchen Film vorgesetzt hat, ist es ergangen wie meiner Gymnasialklasse, als unser damaliger Biolehrer unbedingt meinte, uns ein Warnvideo über die Gefahren des Rauchens inklusive detailfreudiger Aufnahmen von krebsverseuchten Lungen zu zeigen: Die Hälfte der Klasse ist vor Schreck erstmal in den Pausenhof gehuscht, um eine zu quarzen.

Nachdem Filme wie SIGNAL 30 – (federführend betreut übrigens von einem gewissen Richard Wyman, der, behaupten zumindest Kerekes und Slater in ihrem Grundlagenwerk zu Tod und (Exploitation-)Kino, KILLING FOR CULTURE, „a Cleveland, Ohio, businessman“ gewesen sei, „who had no formal relationship with road safety or photography but liked to snap pictures of automobile accidents“, und der später noch vergleichbare Werke wie MECHANIZED DEATH (1961) oder WHEELS OF TRAGEDY (1963) ins Leben gerufen hat) –, ihr Pulver dahingehend verschossen hatten, dass sie ganzen Generationen von Führerscheinanwärtern den Schlaf geraubt haben, erlebten sie ab den 80ern übrigens eine zweite Karriere im Schockumentary-Sektor: IMAGES OF DEATH: HIGHWAY OF BLOOD heißt zum Beispiel eins dieser einzig aus Archivbildern zusammengestückelten Tapes, deren Intention es ausschließlich ist, ihrem Publikum die Mägen von den Füßen auf den Kopf zu stellen – und es wundert mich kein bisschen, dass dort in kollegialer, wenn nicht sogar geschwisterlicher Verbundenheit sowohl Szenen aus SIGNAL 30 wie auch aus FACES OF DEATH nebeneinander platziert sind.

So schließt sich einmal mehr der Kreis – und nein, ich glaube nicht, dass mich Filme vom Kaliber des vorliegenden länger an meine Fahrschule hätten binden können als es diese vergleichsweise gar nicht mal so furchtbaren 90er-Lehrvideos mit Vokuhila, weißen Socken hoch bis zu den Waden, und malträtierender Plastik-Mucke getan haben…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: La Flor

Produktionsland: Argentinien 2019

Regie: Mariano Llinás

Darsteller: Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes, Mariano Llinás
Am Wochenende betrat ich um viertel vor zehn Uhr morgens ein kleines Programmkino in Hannover. Am Wochenende verließ ich am nächsten Tag eine halbe Stunde nach Mitternacht besagtes kleines Programmkino in Hannover. Was ist in den zwischenzeitlich vergangenen, immerhin fast fünfzehn Stunden geschehen? Nun, ich habe Mariano Llinás LA FLOR aus dem Jahre 2018 geschaut, und damit meinen bisherigen Rekord gebrochen: Der bis dato längste Film, den ich meinen armen Augen jemals zumutete, ist Jacques Rivettes OUT 1 gewesen; dessen 773 Minuten überbietet LA FLOR allerdings noch um deren exakt fünfzwanzig!

Zu Beginn von LA FLOR sitzt Regisseur Llinás an irgendeiner Landstraßenraststätte, und erklärt uns, ohne die Lippen zu bewegen, denn die Stimme stammt aus dem Off, auf was wir uns die nachfolgenden dreizehneinhalb Stunden gefasst machen müssen. Insgesamt sechs Episoden würden auf uns zukommen; von denen besäßen die ersten vier zwar einen Anfang, jedoch keinen Abschluss; die fünfte Episode indes sei so etwas wie eine in sich geschlossene Kurzgeschichte; die sechste Episode wiederum würde keinen Anfang besitzen, ihr Ende indes führe die vorherigen fünf Episoden dann allesamt zusammen. Während Llinás uns sein Konzept näherbringt, zeichnet er auf ein Blatt Papier genau jene Blume, nach der der Film benannt ist, und die auf jedem Plakat des Films prangt: Ihre Blüten sind die unvollendeten vier Episoden, ihr Mittelbau die in sich schlüssige fünfte, und ihr Stiel die sechste. So weit, so abstrakt: Was die Episoden zusätzlich einte, das sei, dass in jeder von ihnen die gleichen vier Hauptdarstellerinnen zu sehen seien. Sie heißen: Elisa Carricajo, Valerie Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes. Im Grunde ginge es in seinem Film, sagt Llinás aus dem Off, während der Llinás auf der Leinwand stoisch die Lippen versiegelt hält, also vor allem auch um diese vier Frauen, denen er LA FLOR dann folgerichtig auch widme.

Es sind, zusammen mit mir und meiner Begleitung, sieben zahlende Gäste erschienen: Zwei ältere Damen links von mir, zwei junge Männer im Ersemesteralter rechts von mir, ganz vorne ein älterer Herr. Sie werden alle bleiben, nur meine Begleitung springt kurz nach acht ab, und schreibt mir in der Nacht noch eine entgeisterte SMS: Ich musste nach Hause, um meine Aggressionen gegenüber des Films abbauen! Ich antworte, im Zug sitzend, und wie benommen davon, wieder in der sogenannten Realität zu sein, und ein Loch im Bauch, weil ich den ganzen Tag außer den Häppchen, die man uns gnädigerweise in den schmalbemessenen Pausen reichte, mit der besten Metapher, die mir bis heute eingefallen ist, um LA FLOR zu beschreiben: Denk doch mal an diese Doppel-LPs, die megalomanische Rockbands in den 70ern herausgebracht haben. Da ist zwar ein Drittel pures Füllmaterial, aber doch ebenso einige großartige Hits, und oft genug brillant zündende und innovative Ideen, für die es sich allein schon gelohnt hat, die Platte auf den Teller zu legen...

Episode 1 ist die zweitbeste von LA FLOR, eine Verbeugung sowohl vor mexikanischem Mumienhorror der 60er wie vor dem Schmutz und Dreck von 70er Exploitation, allerdings gefiltert durch eine dezidierte Arthouse-Brille. Inhaltlich rankt sie sich um eine Frauenmumie, die eines Tages in einer Forschungsstation irgendwo in der Wüste eingeht, und deren pure Präsenz sehr negative Auswirkungen zunächst auf die Laborkatzen zeitigt, denn eine von ihnen gebärdet sich plötzlich als Killerin, murkst alle übrigen ab, und verstirbt, nachdem sie phasenweise lethargisch vor sich hindämmerte oder in ungezügelter Aggression herumtobte. Auch eine Mitarbeiterin jedoch bemerkt bald verdächtige Symptome: Amoklauf heißt bald die Konsequenz des Mumienfluchs. Blutig ist diese Episode freilich zu keinem Zeitpunkt, stattdessen kann sie einen gerade durch ihre unterhaltsamen Genre-Affinitäten auf den Stil Llalinás einstimmen, der es liebt mit der Schärfe zu spielen – meist ist lediglich der Bildvordergrund direkt vor dem Objektiv klar umrissen, während alles dahinter unter einem trüben Schleier verschwimmt –, langen Einstellungen eher zugetan ist als Schnittgewittern – was normalerweise die Montage übernehmen würde, das wird in seinen Plansequenzen an die Schauspieler delegiert, die sich in präzisen Choreographien durch den filmischen Raum bewegen –, und dem die musikalische Untermalung außerordentlich am Herzen liegt: In vorliegender Episode dominiert ein bedrohlicher Orchesterscore, der nun wirklich keinem „richtigen“ Horrorfilm schlecht zu Gesicht stünde. Ansonsten ist dieser Mumienmumpitz, trotz oder gerade weil es sich um eine augenzwinkernd-charmante Hommage handelt, derart spannend umgesetzt, dass die Episode, obwohl ihr freilich, wie angekündigt, ein runder Schluss fehlt, durchaus auch aufgeschlosseneren Genre-Connoisseuren unterhaltsame eineinhalb Stunden bereiten könnte.

Episode 2 ist die beste von LA FLOR, eine überaus bewegende Geschichte um ein Popmusik-Pärchen, das nun, nach seiner Scheidung, erneut einen Song zusammen aufnehmen soll, wobei sowohl die neue Partnerin des männlichen Parts als auch eine junge Frau, die rätselhafte Obsessionen für die Sängerin entwickelt hat, für emotionalen Sprengstoff sorgen, - und die vollends ins Absurde kippt, als auch noch eine Geheimorganisation auftritt, die aus dem Gift seltener Skorpione das Elixier des Ewigen Lebens gewinnen möchte. Das hört sich zwar alles an wie ein ausufernder Kolportageroman, (und ist es wohl auch), aber die Art und Weise, wie Llinás die angespannten Gefühlen aller Beteiligten in endlosen Monologen und Dialogen zum Implodieren bringt, und wie er es schafft, trotz der Permanentbeschallung eines bewusst überorchestrierten Soundtracks und einiger wirklich bizarrer Momente, mich ehrlich für seine befremdlichen Figuren zu interessieren, und wie nicht als bloße Makulatur, sondern als handlungstragende Elemente einige wirklich hübsche Popsongs in die Geschichte eingefädelt werden, dafür gehört ihm größtes Lob. Begriffen habe ich zwar bis zuletzt nicht, was nun die Räuberpistole um die Skorpion-Sekte mit den amourösen Verwicklungen unserer eigentlichen Helden und Heldinnen zu tun haben soll, aber, sei’s drum, wenn mir das zerfaserte Ergebnis so sehr unter die Gänsehaut geht.

Waren Episode 1 und Episode 2 im Kontext der Gesamtlänge von LA FLOR prägnante Vignetten, so haben wir es bei Episode 3 mit einem auseinanderquellenden monströsen Hefeteig zu tun, der insgesamt fünf und sechs Stunden verschlingt, ohne dabei natürlich irgendwo anzukommen, sprich, einen genießbaren Kuchen zu ergeben. Es ist, wenn man so will, die Dekonstruktion einer Dekonstruktion: In den 60ern dekonstruiert Godard klassische Gangster-Narrative, um sein eigenes postmodernes Süppchen zu kochen; nun dekonstruiert Llinás Godard, (an dessen PIERROT LE FOU und WEEK END ich während Episode 3 tatsächlich andauernd denken musste), und präsentiert einen ausufernden Spionage-Thriller, der vier Geheimagentinnen in irgendeinem südamerikanischen Land eine Geisel befreien und dann auf einem Flugplatz auf vier weitere Agentinnen warten lässt, die wiederum sie töten und die Geisel an sich nehmen sollen. Dazwischen erzählt Llinás die Hintergrundgeschichten unseres Heldinnenkleeblatts, wobei jeder von ihnen eine eigene Episode zukommt: Die eine, taubstumm, ist Spitzel bei einem hochrangigen Politikvertrauten in London gewesen; die andere erlebte den Untergang der Sowjetunion in ihrer Funktion als bedeutendste Kreml-Spionin; eine weitere hat als Tochter eines Freiheitskämpfers Guerilla-Milizen im Dschungel befehligt; eine letzte war in ihrem früheren Leben kaltblütige Auftragskillerin. Uninteressant ist das sicher alles nicht, nur eben in einer Weise unnötig aufgebläht und verschachtelt, dass es einem erhebliches Sitzfleisch abverlangt, - zumal man ja schon ahnt, dass Llinás genau in dem Moment, als sich die beiden verfeindeten Gruppen endlich gegenüberstehen, die Klappe fallen lässt, und uns genau den Showdown vorenthält, auf den hin die gesamte Episode konstruiert ist. Im Prinzip wirkt Episode 3 wie einer dieser Fortsetzungsromane aus dem 19. Jahrhundert, die nicht lange und verworren genug sein konnten, lediglich mit dem Unterschied, dass diese irgendwann ihre vielen losen Fäden aufgreifen und zu einem Zopf flechten, während Llinás uns letztlich einfach mit einem Schoß voller Bruchstücke sitzenlässt. Irgendwie ist das gerade deshalb schade, weil der Regisseur sich gerade in diesem Segment als wunderbarer Erzähler outet: Gespannt wird nicht nur ein Bogen über mehrere Kontinente und Jahrzehnte und ein reichhaltiges Arsenal verschrobener Charaktere hinweg, sondern schlussendlich auch einer, der es irgendwie fast schon verdient hätte, dass er nicht einfach unvollendet in der Luft hängenbleibt.

In Episode 4 wird es selbstreflexiv – und zwar in einem Maße, dass ich die sich türmenden Meta-Ebenen nur annäherungsweise werde skizzieren können. Regisseur Llinás dreht einen Film, der „Die Spinne“ heißen soll, - und zwar seit sechs Jahren, weshalb seine vier Hauptdarstellerinnen Elisar, Valerie, Laura, Pilar ziemlich genervt sind. Erst recht spitzt sich der Konflikt wegen der Produzentin zu, die Llinás ohne Absprache mit den Schauspielerinnen ins Boot holt, und weil der Regisseur seit Neustem in einem kreativen Tief steckt. Statt den eigentlichen Film voranzutreiben, bereist er seit Wochen die Landstraßen Argentiniens, um einfach nur Bäume zu filmen. Sein Tagebuch, in dem es ebenfalls ausschließlich um Bäume und um sein Verhältnis zu den „Mädchen“ geht, die er gerne auch mal „Hexen“ nennt, gerät in die Hände eines Ermittlers, der herausfinden soll, weshalb ein PKW in einer Baumkrone endete, und im Umkreis der Unfallstelle mehrere offenkundig verrücktgewordene Personen aufgefunden wurden. Was wir wissen, jedoch nicht unser Held: Der PKW gehört Llinás und die umherirrenden Irren, das ist seine Filmcrew. Anhand des Tagebuchs versucht der Ermittler die Ereignisse zu rekonstruieren, und stößt dabei auf sich verdichtende Hinweise, dass tatsächliche Hexen ihre Finger im Spiel haben könnten. Wem das noch nicht alles kompliziert und komplex genug ist, dem sei gesagt: Dieser Plot – oder besser: dieser Bienenstock an Ideen – wird natürlich nicht linear erzählt, sondern springt in den Zeiten hin und her wie ein fliehendes Kaninchen. Und wem das noch immer nicht genug sein sollte, dem sei außerdem gesagt: Eingeschoben ist noch eine längeres Segment, das den historischen Verführer Casanova von seiner schwachen Seite zeigt, Exkurse über Okkultismus und Hexerei, Aufenthalte in einer Psychiatrie, in denen ein Italiener jede Frau verführt, die seinen Weg kreuzt, sowie Auszüge aus dem Film, den Llinás drehen wollte, und der, so scheint es, davon handelt, dass Bäume der Menschheit den Krieg erklären. Das Ganze ist natürlich wunderbar gefilmt, und tatsächlich kurzweilig, zusammenpassen mag indes wenig, wenn auch, wie bei meinem LP-Beispiel, einige wirklich große Momente in dem Tohuwabohu herumwirbeln: Dass Llinás einen Parforce-Ritt durch die Phantastische Literatur hinlegt, um bei Artur Machen zu enden, rechne ich ihm hoch an; die Streitereien am Set, bei denen Llinás sich offenkundig selbst auf die Schippe nimmt, haben mich sehr amüsiert; die letzten Minuten, in denen zu ergreifender klassischer Musik einfach nur die vier Hauptdarstellerinnen dabei beobachtet werden, wie sie durch die Landschaft streifen, sind wirklich großes Kino, das vor allem Llinás Faszination für seine Protagonistinnen unterstreicht. Ein erlösendes Finale allerdings ist auch bei dieser Episode Fehlanzeige.

Episode 5 allerdings ließ mich innerlich gleich mehrmals aufstöhnen. Dass die „Mädchen“ in ihr nicht zu sehen seien, erklärt Llinás uns, noch immer an seiner Raststätte sitzend, im Vorhinein, aber gut, er wollte sie trotzdem unbedingt in seinem Film haben, weil er dachte, sie sei interessant. Nein, sage ich, interessant ist es nun wirklich nicht, sondern entweder mutig oder bösartig, wenn man seinem Publikum nach immerhin bereits elf Stunden ein Segment zumutet, das im Stil eines Stummfilms gedreht ist und daher komplett ohne Ton auskommt, und zudem eigentlich nichts weiter darstellt als eine Art Remake von Jean Renoirs UNE PARTIE DE CAMPAGNE von 1936: Um das zu verdeutlichen, wird zu Beginn noch Maupassants zugrundeliegende Erzählung in Buchform eingeblendet. Aber, mal ehrlich: Ist Renoirs Kurzfilm nicht gut genug, dass man ihn einfach in Frieden ruhe lassen könnte? Einen Mehrwert fügt Llinás‘ Interpretation ihm jedenfalls nicht zu, und weshalb sein Picknick-Ausflug einer gutbürgerlichen Familie und zweier etwas slapstickhaften Gauchos nun unbedingt stumm sein muss, erschließt sich mir angesichts des sprechenden Originals nun auch nicht. Zwischendurch hält es der Regisseur außerdem für eine gute Idee, den Originalton aus Renoirs Film einzuspielen, und uns dazu Bilder einer Flugschau zu zeigen. Ich halte diese Episode indes für eine halbe Stunde verschwendete Lebenszeit.

Episode 6 ist sowohl die visuell extravaganteste wie auch kürzeste. Den versprochenen Zusammenstoß sämtlicher begonnener Geschichten hält sie uns jedoch vor. Was wir stattdessen zu sehen bekommen: Vier Frauen, die scheinbar im 19. Jahrhundert von einem Indianerstamm entführt worden sind, wie sie zurück in die Zivilisation wandern, unterlegt mit sphärischen Elektro-Klängen, erzählt per Zwischentiteln und gedreht offenbar auf Analog-Material, das nachträglich auf eine Leinwand projiziert und von dieser abgefilmt wurde, was den Bildern gleich zweimal eine besondere stoffliche, und ziemlich verwaschene Qualität gibt. Die Frauen schwimmen, sie lagern in der Pampa, sie laufen durch die Wildnis. Es wirkt wie ein Abenteuerfilm auf Sedativa, und es mündet darin, dass die Kamera auf den Kopf kippt, und uns die Leinwand irgendwo im Freien zeigt, auf die die Bilder geworfen worden sind, sowie Llalinás, sein Team und unsere vier Grazien, wie sie am Set umherwueseln. Der Abspann, den ich mir dann tatsächlich nicht mehr gegönnt habe, dürfte allein nochmals eine halbe Stunde beansprucht haben, denn immerhin wurde an dem Film satte zehn Jahre mit unterschiedlichen Teams in unterschiedlichen Ländern gedreht, und wenn da jeder einzelne Catering-Service aufgezählt werden soll, dann dauert das eben auch seine Zeit. Aber nein, ich stürme in die nieselnde Nacht, schnell zum Bahnhof, bevor ich gezwungen bin, auf dem Gleis zu schlafen, denkend/dankend, dass ich diesen Tag der Filmgeschichte geschenkt habe. Ich konnte keine narrative Kohärenz in LA FLOR erkennen, nicht mal eine nachvollziehbare Struktur, schon gar keine übergeordnete Botschaft, aber dieser eine Tag hat nicht stattgefunden außerhalb der Bilder, er hat sich bereitwillig in ihnen verkrümelt, wenn man so will, und ist dadurch untrennbar mit ihnen vernäht, irgendwie.

Kennt jemand von euch „Physical Graffiti“, Led Zeppelins erste Doppel-LP aus dem Jahre 1975? Ist „Down by the Seaside“ nicht eine der schönsten Balladen, die die Band jemals aufgenommen hat? Und „Kashmir“ hat ein derart memorables Riff, dass selbst P. Diddy es Jahrzehnte später noch einmal hervorkramen ließ, um damit Godzillas Zerstörungsorgie in New York zu unterlegen. Das Akustikstück „Bron-Yr-Au“ verneigt sich liebenswert vor der eigenen Folk-Vergangenheit. Aber, sind wir mal ehrlich: So genial „In My Time Of Dying“ auch sein mag, die letzten paar Minuten Gitarrensolo hätte man doch gerne etwas straffen können. Gleiches gilt für den schleppenden Anfang von „In The Light“: Da könnte man doch die ersten ein, zwei Minuten gut und gerne herausnehmen. Überhaupt, wie viele "Oooohs" von Robert Plant erträgt ein Song? Ein Track wie „Boogie With Stu“ wiederum, puh, muss der wirklich auf diesem Album sein? Überhaupt, die gesamte vierte LP-Seite: Die ist doch eigentlich recht verzichtbar, nicht? Aber, dennoch: "Down By The Seaside" mit seinen schimmernden, sonnigen Gitarrenwellen, hach ja.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: The Magician

Produktionsland: USA 1926

Regie: Rex Ingram

Darsteller: Paul Wegener, Alice Terry, Ivan Petrovich, Henry Wilson, Firmin Gémier, Gladys Hamer
Ein wahrlich seltsamer Film, mal wieder…

1926 befindet sich Hollywood-Regisseur Rex Ingram in Nizza, wo er eine Art koloniale Außenstelle von MGM betreibt, und mit der Sommerset-Maugham-Adaption THE MAGICIAN einen der eigenartigsten, sprich, eklektischsten, inkonsistentesten stummen Schauerfilme auf die Beine stellt, die mir in meinem kurzen Leben bislang untergekommen sind:

Wenn Paul Wegener als knapp fünfzigjähriger Medizinstudent nicht mit den Augen rollt oder den Beweis für seine Künste als Hypnotiseur zu beweisen versucht, indem er Bisswunden giftiger Schlangen wie von Geisterhand vom eigenen Arm verschwinden lässt, (wobei das ebenfalls von Ingram verfasste Skript zumindest mir nicht plausibel erklärt hat, was das Verschwindenlassen einer tödlichen Wunde nun mit Hypnose zu tun haben soll), blättert er in den verstaubten Folianten der Bibliothek seiner Pariser Universität, wo ihn besonders das Rezept interessiert, wie man einen Homunkulus erschaffen kann. Leider verrät uns der Film von den erforderlichen Ingredienzien nur eins – nämlich das Blut einer Jungfrau –, aber, immerhin, als Ausgangspunkt für ein turbulentes Szenarios, das unbekümmert europäische Schauerromantik-Versatzstücke mit Groschenroman-Sensationen wie Verfolgungsjagden und Mad-Scientisti-Laboratorien, Reminiszenzen an den deutschen Stummfilmexpressionismus und gar Antizipationen der späteren Hollywood-Horrorklassiker der Universal mixt, dient ein solcher Aufhänger allemal.

Zumal der selbsternannte Magier Oliver Haddo mit der Bildhauerin Margaret Dauncey bereits ein potentielles Opfer gefunden hat, als diese von dem Star-Chirurgen Arthur Burden vor Augen der versammelten Studentenschaft von einer Lähmung geheilt worden ist, die ihr eine von ihr geschaffene Satyr-Steinstatue bei ihrem Auseinanderbrechen verursacht hat. In der Folge verliebt sich Margaret zwar in ihren Heiler, und die beiden tauschen romantische Blicke im Klinikpark, doch Oliver Haddo ist nicht weit, um als neuer Mephisto böse Schatten über das junge Glück zu werfen – beispielweise, wenn er in einer sehr plakativ metaphorischen Szene unserer Heldin eine Rose reicht, an der die sich natürlich sofort die Handfläche zerschlitzt. Ein böses Omen, das allerdings nur sacht auf das vorverweist, was noch kommen soll.

Gerade weil THE MAGICIAN die hemmungslose Kreativität, mit der er alle erdenklichen Ideen zusammenschmeißt, kaum einmal wirklich im Zaum zu halten vermag, hat mich dieser Film so sehr begeistert. Natürlich hat Oliver Haddo einen kleinwüchsigen, buckligen Diener, der ihm in seiner natürlich in einer angeblich verwunschenen Burgruine untergebrachten Forschungsstation beflissen zur Hand geht; natürlich trifft eine junge Zirkusdame, die einem Matrosen schöne Augen macht, sofort das obligatorische Schicksal promiskuitiver Horror-Heroinen, indem sie die bereits erwähnte Giftnatter zur Strafe totbeißt; natürlich bleibt Oliver Haddos Budenzauber recht vage, sprich, der Film entscheidet sich nie, ihm seine Schwarzen Künste wirklich zuzugestehen, sondern lässt immer noch die Tür offen, es könne sich bei dem exaltiert agierenden Kerl auch um einen Scharlatan halten. Zwar gilt das auch für meine liebste Szene des Films – denn immerhin ist es möglich, dass Margaret in dieser auch wegen der Wunderkräuter halluziniert, die Haddo in ihrer unmittelbaren Nähe abfackelt –, aber, andererseits, schlägt die Chose dort derart über die Stränge, dass meine Kinnlade selbst jetzt in der Erinnerung kaum zurück nach oben will: Haddo, der Margaret unter seine hypnotische Gewalt bringt, um sie zu entführen und für seine fragwürdigen Experimente im wahrsten Wortsinne auszuschlachten, gewährt unserer Heldin einen Blick geradewegs in die Hölle: Dort erwacht ihr steinerner Satyr zu einem Lüstling aus Fleisch und Blut, der vor der Kulisse züngelnder Fegefeuer eine junge Dame verschleppt, und… Aber nein, das muss man echt mit eigenen Augen gesehen, und, nein, Vergleiche zu mancher Sequenz in Christensens HÄXAN oder zum 1911er L’INFERNO sind wirklich nicht (nur) meinem momentanen verzückten Übermut geschuldet.

Wer Augen hat, zu sehen, der sollte an dieser irrwitzigen Frühform des Horror-Kinos nicht vorbeischauen, beim besten Willen…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Vor einiger Zeit habe ich zusammen mit einem lieben Freund, (der diese Woche endlich seine Doktorwürde empfangen hat), ein Seminar zum französischen Transgressions-Theoretiker Georges Bataille (1897-1962) initiiert. Neben einer bunten Auswahl an Schriften Batailles hatten wir natürlich auch das eine oder andere Filmbeispiel im Gepäck. Denn obwohl Bataille so gut wie nie über das Kino geschrieben hat, (allerdings zumindest in einer Statistenrolle als Priester in Jean Renoirs UN PARTIE DE CAMPAGNE 1936 kurz auf der Leinwand vorbeischaute), haben seine esoterischen Ideen von grenzüberschreitender Ekstase im Spannungsfeld zwischen Eros und Thanatos explizit oder implizit natürlich nicht wenige Filmschaffende inspiriert. Unser Korpus reichte folgerichtig von Filmen, die tatsächliche literarische Vorlagen Batailles zu adaptieren versuchen – (wie Christophe Honorés MA MÈRE (2004) oder Patrick Longchamps SIMONA (1974)) -, über Filme, in denen sich mehr oder minder starke Motive aus Batailles Oeuvre finden lassen – (wie Jean-Luc Godards WEEK END (1967) und vor allem auch Alberto Cavallones SPELL (1978)) – bis hin zu welchen, die eher allgemein Themen verhandeln, die auch im Fokus von Batailles Interesse stehen – (wie Gaspar Noes CLIMAX (2018) oder Fernando Arrabals VIVA LA MUERTE (1974)). Gemeinsam hatten unsere Filme nicht nur, dass die meisten von ihnen einige der Studierenden zutiefst verstört oder zumindest verwirrt haben, sondern auch, dass sie ausnahmslos von Männern inszeniert worden sind: Obwohl wir zumindest anhand von Texten aus weiblicher Feder versucht hatten, eine spezifisch feminine bzw. feministische Perspektive auf Bataille abzudecken, ist uns kein Film von einer Frau eingefallen, der irgendwie in unser Konzept gepasst hätte. Genau dieses Manko hat sich letzte Woche nun auch erledigt, als ich zum ersten Mal Catherine Breillats Debutfilm UNE VRAIE JEUNE FILLE zu Gesicht bekomme, und schlicht sprachlos bin – sowohl deshalb, weil dieses Werk im Grunde wie die Faust aufs Auge in unser Seminar gepasst hätte, als auch, weil ich im Traum nicht geglaubt hätte, wie sehr dieses nominelle Coming-of-Age-Drama stellenweise in orgiastischen Bildern wildert, die auch Batailles Geist entsprungen hätten sein können.

Dabei befleißigt sich Breillat bei der Verfilmung ihres eigenen Romans „Le Soupirail“ vorwiegend eines gesellschaftskritischen Realismus: Das sexuelle Erwachen, die Rebellion gegen das bürgerliche Elternhaus, die Findung einer eigenen Identität der vierzehnjährigen Titelheldin Alice – (verkörpert von Charlotte Alexandra, die man noch als weniger philosophierende, sondern masturbierende Thérèse aus der zweiten Episode von Walerian Borowczyks CONTES IMMORAUX kennen dürfte) – erleben wir zwar ausnahmslos aus ihrer subjektiven Perspektive mit, schauen ihr aber natürlich auch voyeuristisch beobachtend über die Schulter, wenn sie ihren eigenen Körper zu erkunden beginnt, ihre sich plusternden körperlichen Begierden auf nahezu ihre komplette Umwelt projiziert werden, - (und dabei, als waschechtes Borowczyk-Motiv, nicht zuletzt auf die unbelebte Objektwelt) -, und sich schließlich in Gestalt des Sägewerk-Hilfsarbeiter Pierre-Evariste bündeln, sprich: Wir könnten kaum dichter dran sein, wenn sie Spülmittelflaschen und Fahrradsättel als Selbstbefriedigungsinstrumentarium zweckentfremdet, wenn sie voller Verachtung über die monotonen, leidenschaftslosen Alltagsabläufe der Eltern das Näschen rümpft oder wenn ihr selbst eine Hühnerschlachtung oder ein Übelkeitsanfall plötzlich zu potentiellen Vehikeln zum Entladen erotischer Energie werden. Dass die gesamte Handlung in Alices Sommerferien angesiedelt ist, die die Internatsschülerin auf dem heimischen Hof verbringt, trägt nur noch zu einer schwülen, sonnenknisternden Atmosphäre bei, von der man nicht behaupten könnte, dass sie sich besonders weit entfernt von der Ästhetik eines Eric Rohmer befindet: Allerdings wird in UNE VRAIE JEUNE FILLE weitaus weniger konversiert als bei Breillats Regiekollegen, dafür aber immer mal wieder das naturalistische Korsett gesprengt, um Phantasmagorien Platz zu machen, die gerade bei einem an der Oberfläche derart betont realistischen Film wie vorliegendem besonders dafür prädestiniert sind, Schock auf Schock zu verteilen.

Dass Alice bei ihrer Odyssee durch ein Wunderland der Verlockungen und Verführungen die Grenze zur Hardcore-Pornographie mehr als einmal zumindest streift, dürfte anhand der bereits erwähnten Masturbationsorgien nicht verwundern: Gerade die Autoerotik-Szenen, in denen Alice sich senfverschmierte Finger einverleibt, oder sich in Pinkelschauern im Close-Up ergeht, - (ganz zu schweigen von einer Szene, in der ein älterer Mann Alice auf einem Kirmes-Karussell dazu animieren möchte, sein welkes Glied zu stimulieren!) -, dürften sicher nicht unschuldig daran gewesen sein, dass vorliegender Film seinerzeit keinen regulären Kinostart erfuhr, sondern stattdessen erstmal in den Giftschrank wanderte: Uraufgeführt wird UNE VRAIE JEUNE FILLE wohlgemerkt erst im Jahre 1999! Tier-Snuff stellte in den wilden 70ern ein nicht ganz so umstrittener Schauwert dar wie heutzutage, (zumal das Huhn, dem vor laufender Kamera zunächst der Hals durchgeschnitten und das dann von Alices Mutter nach allen Regeln der Kunst in Großaufnahme ausgeweidet wird, auch in der extrafilmischen Realität anschließend im Kochtopf gelandet sein wird); jedoch vollends in Bataille’schen Gefilden befinden wir uns letztlich in der wohl kontroversesten Szene des Films, einem Tagtraum Alices, in dem sie sich ihren Crush Pierre dabei imaginiert, wie dieser ihr satyrenhaft an die Wäsche geht bzw. ihr ein Getier, das ich für eine Blindschleiche halten würde, - (manche Quellen sprechen auch von einem Wurm oder von einer Schlange) -, zwischen die gespreizten Beine einführt. Anders als im konsequent einem surrealistischen Stil verschriebenen VIVA LA MUERTE, (an den mich solche Exzesse zwangsläufig erinnerten), wirken Breillats Grenzüberschreitungen möglicherweise noch heftiger, weil sie als Störfaktoren in eine ansonsten konventionelle Inszenierung einbrechen, und den im Grunde sterbenslangweiligen Ferienalltag unserer Heldin mit unaussprechlichen und daher unausgesprochenen Tabus kontaminieren. (Weshalb mir UN VRAIE JEUNE FILLE letztlich auch die kleine Schwester von Cavallones SPELL zu sein scheint, einem Film, der ähnlich zwischen geradezu dokumentarischem Realismus und exzessivem Surrealismus changiert, und thematisch mit seiner Offenlegung abjekter Phänomene im Untergrund einer nach außen hin konservativen Dorfgemeinschaft in eine ganz ähnliche Bresche schlägt.) Die häufig gedroppten Analogien zu Charlotte Roches Skandal-Bestseller "Feuchtgebiete" sind indes ebenfalls nicht von der Hand zu weisen: Während dieser Roman allerdings dann doch eher die komisch-grotesken Seiten von ausschweifender juveniler weiblicher Sexualität betont, haben wir es bei UNE VRAIE JEUNE FILLE mit einer wesentlich tristeren, stellenweile gar melancholischen Grundstimmung zu tun. Die Menschen, die von diesem Film jedenfalls ernsthaft sexuell stimuliert werden, möchte ich besser gar nicht kennenlernen...

Hätten wir Breillats Film damals in unserem Seminar gezeigt, wäre sicher bald die Frage aufs Diskussions-Tableau gekommen, ob denn nun UNE VRAIE JEUNE FILLE, da bei ihm eine Frau auf dem Regiestuhl saß, sein Sujet sorgsamer und sensibler anpackt als es ein männlicher Regisseur hätte tun können, (und, damit einhergehend, solche weiterführenden Fragen wie: Gibt es feministische Pornographie? Gibt es überhaupt einen dezidiert weiblichen Blick innerhalb und außerhalb von ästhetischen Artefakten? Und, falls ja, was davon ist Konvention/Reprodukiton, was biologisch fassbar?) – allesamt Fragen, auf die ich bis jetzt genauso wenig eine Antwort weiß wie darauf, ob ich vorliegende Mixtur aus Ekel-Porno, Studie erwachender Mädchensexualität und beißende Satire auf das sattgefressene und inhaltsleere französische Bürgertum des Spätkapitalismus nun tatsächlich für einen guten Film halten soll. Unvergesslich wird mir diese Tour-de-Force durch pinkelnde Muschis, inzestuöse Phantasien und Sommernachmittagseintönigkeit jedoch allemal bleiben.
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