Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Sacerdos

Produktionsland: Deutschland 2012

Regie: Lars Kelich

Darsteller: Heiderose Hoja, Philipp Kreisz, Lars Kelich

Auch in Stadtbibliotheken kann man zuweilen über absonderliche Filme stolpern, die es einem danken, wenn man einen freien Tag damit verbringt, sich ihnen diskursiv anzunähern. So geschehen in der Hannover Stadtbibliothek, in deren Bewegtbildmedien-Abteilung mich kürzlich eine DVD mit dem schönen Titel SACERDOS angelächelt hat. Abgebildet ist darauf, neben dem Schriftzug in stilisiertem Bluttriefen, eine bekuttete Gestalt, offenbar gerade dabei, einer wehrlosen Maid einen Knüppel über den Kopf zu ziehen. Einen kurzen Gang zur Ausleihtheke und eine kurze Recherche später weiß ich: Bei den Verantwortlichen hinter SACERDOS, der Produktionsfirma Utopian Pictures, handelt es sich um eine Amateurfilmemachergruppe aus Hannover, deren Alleinstellungsmerkmal es ist, dass sich ihre Drahtzieher allesamt politisch innerhalb der lokalen SPD betätigen. Ein Artikel in der Hannoverscher Allgemeinen vom 7.10.2015 vermerkt dazu: „Ihr Parteibuch ist so rot wie das Kunstblut in ihren Filmen.“ Auch sonst ist der Artikel aufschlussreich, was das Selbstbild der Gruppe um Lars Kelich, seine Frau Heiderose Hoja, und Philipp Kreisz angeht. Der deutsche Amateurfilm, behauptet SPD-Ratsherr Kelich, Gründer der Truppe, sei schon immer politisch gewesen, und verweist dabei auf die seligen 80er und 90er, als er sich selbst als Teenager noch mächtig verbotene Index-Filme aus den Videotheken Niedersachsens auslieh. Splatter- und Gorefilme als Gegenprogramm zur spießigen CDU-BRD unter Kohl und Konsorten? Die SPD dementsprechend wiederum als subversiven Projekten tendenziell offenstehende Partei der Gegen- und Subkulturen? Schauen wir uns doch einfach einmal SACERDOS mit seinen knackigen sechzig Minuten Laufzeit vorbehaltlos an. Anbei mein Sichtungsprotokoll, mit schwungvoller Schrift geschmiert auf die freien Seiten einer Gesamtausgabe der Schriften Ferdinand Lasalles.

2:20: Durch die nächtlichen Straßen Hannovers bewegen sich Laura und Lucy von der Party eines gewissen Frank nach Hause, der zwar ein richtiges Arschloch, aber immerhin gutaussehend sein soll. „Beim nächsten Mal vernasch ich ihn, ich sag’s Dir!“, versichert Lucy ihrer Freundin, bevor sich die Wege der beiden jungen Damen trennen, und erstere in eine verlassene Gasse abbiegt, wo sie sogleich Opfer einer Fulci-Reminiszenz wird: Eine Gestalt in Mönchskutte zaudert, als sie Lucy in ihre Fänge bekommen hat, nicht lange, ihr das rechte Auge noch in seiner Höhle zu zerquetschen. Furchtbar gellen die Schreie der jungen Frau durch die schlafende Stadt an der Leine…

7:00: Schon während des Vorspanns – (der übrigens von einem Instrumentalstück unterlegt ist, das ungelogen von der italienischen Band Antonius Rex stammen könnte, die in den 70ern und 80ern irgendwo in der Schnittmenge zwischen Progressive Rock, Electro-Industrial und Pseudo-Horrorfilm-Soundtracks operierte; es hört sich an, als habe man eine Variation des HALLOWEEN-Themas mit einem viel zu lauten, viel zu sterilen Drum-Computer, sphärischen Synthies und deplatzierten akustischem Gitarrengezupfe kurzgeschlossen) – lernen wir Oberkommissar Richard Schumacher kennen, der offenbar sturzbesoffen und mit dem Flachmann im Anschlag von der Kneipe, in der er die Nacht verbracht haben muss, zu seinem Arbeitsplatz torkelt. Einige Stadtimpressionen Hannovers und besorgten/vorwurfsvollen Blicken zweier Kollegen später erhält Schumacher einen Anruf, der ihn nicht schlagartig nüchtern macht, aber zumindest schon mal langsam in den Arbeitsmodus versetzt: Er soll sich um 15 Uhr in der Gerichtsmedizin einstellen, denn eine übelzugerichtete Leiche sei gefunden worden. Darauf erstmal einen kräftigen Schluck Chantré. (Angemerkt sei hier, dass Philipp Kreisz jedes Mal – und das wird sich leitmotivisch durch den gesamten Film ziehen –, wenn er sich an seinen Mini-Spirituosen ergötzt, nur so tut, als würde etwas von deren Flüssigkeit in seinen Mund geraten. Sein Trick: Er ballt die Faust so um die Fläschchen, dass wir angeblich nicht sehen, wie viel von deren Inhalt tatsächlich hinter seinen Lippen verschwindet. Der Fehler seiner Tricks: Wir sehen es natürlich trotzdem. Ich weiß, das ist ein irrelevantes Detail, aber mal ehrlich: Man hätte doch wenigstens die Chantré-Fläschchen mit Apfelsaft auffüllen können, wegen Realismus und so...)

10:45: Laura hat verpennt. Verkatert wühlt sie sich aus ihrem Bettchen. (Verkatert von was eigentlich? Auf dem Nachhau-sewegnachts zuvor haben Lucy und sie noch völlig nüchtern gewirkt.) Als sie bei ihrer Freundin, mit der sie eigentlich zum Joggen verabredet gewesen ist, durchruft, meldet sich verständlicherweise nur deren Mailbox. Grund genug für Kelich, uns anschließend endlos lange und sogar vergleichsweise aufwändig aus verschiedenen Kamerawinkeln gefilmt, seine spätere Ehefrau und damalige Lebensgefährtin Heiderose beim Zähneputzen und - freilich ohne explizite Einblicke -, beim Duschen zu zeigen. Na gut, aufregend ist das nun nicht wirklich.

11:50: Oberkommissar Schumacher scheint nicht nur eine Vorliebe für hochprozentigen Alkohol in handlichen Fläschchen, sondern ebenso für geschmacklose One-Liner zu haben, denn beim Anblick der hingemetztelten Lucy in der Gerichtsmedizin fällt ihm nichts Besseres ein als: „Schau mir in die Augen, Kleines!“ zu frotzeln. „Ein echter Pirat sticht auch ins rote Meer“, merkt er kurz darauf noch an, nachdem der Pathologe (niemand Geringeres als Regisseur Kelich höchstselbst) ihm zu erklären versucht hat, dass das Opfer offenbar an dem durch den Verlust des Auges verursachten Schmerzes gestorben sein soll, 1,1 Promille im Blut gehabt habe (davon habe ich nun aber, wie gesagt, nicht wirklich was gemerkt), und ein Sexualmord ausgeschlossen werden könne.

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Abb.1: Ein seltenes Exemplar des Gemeinen Hannoveranischen Schluckspechts, auch bekannt als Kommissar Schumacher vom Morddezernat der Niedersächsischen Landeshauptstadt.

20:00: Laura muss alleine die zu sich genommenen Alkoholkalorien des Vorabends abtrainieren. Das gibt dem Film nicht nur Gelegenheit, weitere kostbare Zeit damit totzuschlagen, dass er seine Heldin zu diesem mich inzwischen bereits gelinde nervenden Klavierthema durch die Pampa hetzt, sondern auch, sie beim Ausruhen auf einer Parkbank mit dem mordenden Mönch zu konfrontieren, der ihr an die Gurgel springt – aber, zum Glück!, alles war nur ein Tagtraum. Was sich Laura jedoch nicht einbildet, ist, dass Lucy sie endlich anruft – nur: am andern Ende ist nicht ihre Freundin, sondern Schumacher, der scheinbar wahllos das Handy-Adressbuch der Toten durchstöbert hat. Der folgende Dialog ist eins der schillerndsten Goldstückchen des gesamten Films: Schumacher stellt sich als von der Mordkommission vor, Laura fragt verwirrt, wie er denn an Lucys Mobiltelefon komme, Schumacher mag darüber aber nur persönlich mit ihr sprechen, und schlägt vor, dass sie sich treffen, so gegen 18 Uhr?, worauf Laura ihm verspricht, ihm ihre Wohnadresse per SMS an Lucys Handy zu schicken, da der Oberkommissar, scheint’s, nicht fähig ist, eigenständig herauszufinden, wo potentielle Zeugen in einem Mordfall wohnhaft sind. Dass Schumacher, wie er deutlich betont hat, von der Mordkommission ist, scheint bei Laura auch nicht unbedingt angekommen zu sein, denn als sie sich gleich darauf mit einem gewissen Eric trifft, stammelt sie nur diffuses Zeug wie, dass sie glaube, jemand sei hinter ihr her, eine Figur in einer Kutte, dass es möglich sein könne, Lucy sei irgendetwas zugestoßen, und dass auch er, Eric, in Gefahr schweben könne. Der Knabe nimmt das zumindest so lange auf die leichte Schulter bis sein Nachhauseweg sich mit dem des frommen Bruders kreuzt, dieser ihm erst nachstellt – (und zwar in einem Tempo, auf das die Etrusker in Bianchis LE NOTTI DI TERRORE neidisch wären) -, sich dann entscheidet, in den „Wir-können-uns-überall-materialisieren-wo-wir-wollen“-Modus der Fulci-Zombies à la PAURA NELLA CITTÀ DEI MORTI VIVENTI zu wechseln, Eric frontal mit einem Stein zu attackieren und ihm den Kopf zu Klump zu kloppen.

23:45: Es wird Zeit für einen neuen Charakter, oder? Sie heißt Diana, ist die Mitbewohnerin Lauras, und findet Schumacher im Vollrausch vor ihrer Haustür lungern, wo er sich mit „Ich bin der Osterhase mit den dicken Eiern“ vorstellt. Ein Saxophon quäkt unangenehm von der Tonspur. Das folgende Gespräch mit Laura unter vier Augen in deren Küche ist kaum behaglicher, denn außer ein paar unbestimmten Fragen, ob Lucy denn einen Ex-Freund besessen habe, der ein Interesse daran haben könnte, dass sie nun nicht mehr unter den Lebenden weilt, hat er nun wirklich nicht viel auf Lager, um aus Laura mögliche Täter oder Motive hervorzulocken. Immerhin frappiert mich in dieser Szene wohl das Artefakt des Films, das mir noch in Jahren im Gedächtnis verbleiben wird: Die Junggenossinnen und Junggenossen haben auf ihrer Küchenanrichte doch tatsächlich einen SPD-Toaster stehen!

27:05: Um den Kopf freizubekommen, spaziert Laura durch eine Schrebergartenkolonie. Problem ist nur, dass der Metzelmönch genau die gleiche Idee hat, und sich alsbald erneut an ihre Fersen heftet. Mit dem Leben kommt sie nur davon, weil irgendein Passant dem Kuttenträger vor die Füße läuft, und nun statt Laura ein Messer in die Wampe empfängt. Die findet bei ihrer Heimkehr Diana mit ihrem Freund Christian im Wohnzimmer vor, wo der beim Anblick der Mitbewohnerin aufstöhnt: „Ich dachte, wir hätten den Abend für uns.“ Beide, Diana wie Christian, halten Lauras inkohärentes Gestammel von einem sie verfolgenden Ordensbruder eher für Gespinste ihres durch den Mord an Lucy ordentlich durchgerüttelten Hirns. „Mönche machen sowas nicht!“, erklärt Christian ihr im Brustton der Überzeugung, was bedeutet, dass er scheinbar weder jemals Alfred Vohrers DER MÖNCH MIT DER PEITSCHE, Adonis Kyrous LE MOINE oder, erneut, Bianchis LE NOTTI DEL TERRORE gesehen haben dürfte.

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Abb.2: Laura auf Recherche: "Einst idyllisch -nun Schauplatz einer grausamen Mordserie". Darunter ringt die SPD offenbar um Mehrheiten.

31:15: Auf welch wackligen Stelzen Christians These steht, Mönche hätten generell nichts mit Straftaten der eher kruden Sorte zu tun, beweist Laura bereits eine flüchtige Internetrecherche. Erst kürzlich wurden nämlich nahe der Hildesheimer Börde fünf grausam verstümmelte Leichen gefunden – und ein Wanderer will unweit des Tatorts einen Mann in einer Kutte erspäht haben! Laura scheint Oberkommissar Schumacher bereits gut genug zu kennen, dass ihr klar ist: Alleine wird der auf diesen Internetartikel beim besten Willen nicht stoßen, geschweige denn Verbindungen zur Ermordung ihrer Freundin ziehen. Deshalb ruft sie bei ihm im Büro an, wo allerdings keiner seiner Kollegen weiß, wo er steckt – da es Samstagabend sei, könne sie es aber einmal in seiner Stammkneipe versuchen. Christian, der eigentlich mit Diana einen bräsigen Fernsehabend verbringen wollte, ist gar nicht von Lauras Bitte begeistert, sie doch zu Schumachers Schnapshölle zu fahren. Weder empfänglich für Fernsehkrimis noch für Kneipentouren hat unser Mönch indes nichts Besseres zu tun, als mitten auf der Fahrbahn darauf zu warten, dass Laura, Diana und Christian direkt auf ihn zurasen, und Christian, als er nach einer Vollbremsung nachschaut, was er da denn gerade gerammt hat, ins Gebüsch zu zerren. Statt dass Laura und Diana ihrem Freund zu Hilfe eilen, drücken sie lieber auf Vollgas, rasen zur Stammkneipe Schumachers, die sich als recht ansehnliches Griechisches Restaurant entpuppt, und zerren wiederum den vor lauter Fusel zu keiner Silbe mehr fähigen Oberkommissar hinter seinen Uzo-Gläschen hervor.

33:20: Was genau Schumacher nun in dieser Nacht noch ausrichten konnte, das werden wir nie erfahren, da Laura und Diana nach einem Schnitt mit hängenden Gesichtern am nächsten Morgen um den Küchentisch herumsitzen. „Oh Gott, ist das gestern wirklich passiert?“, fragt Diana nun überhaupt nicht im Tonfall von jemandem, der gerade seinen Liebsten an einen mordenden Mönch verloren hat. „Ich hoffe, die Polizei kriegt den Mistkerl!“, lautet die Phrase, die bei Laura als nächstes vom Stapel läuft. Wo Worte versagen, müssen Taten her – und stilsichere SPD-Kaffeetassen, die Laura direkt neben dem Toaster zu einem blutroten Ensemble drapiert, als sie ihrer Freundin und sich in einer weiteren dieser zeitstreckenden Einstellungen, von denen der Film nicht wenige hat, die schwarze Koffeinbrühe einschenkt. Dass Chorgesänge dazu erklingen, macht es absurder, aber nicht unbedingt besser. Ach ja, inzwischen hat man auch endlich Eric aufgefunden. Schumachers Kommentar, als er dessen zerschmettertes Gesichtchen sieht: „Das Clearasil kannst Du Dir jetzt sparen, Junge!“

41:30: Endlich erfahren wir, was Laura eigentlich beruflich macht, nämlich an der Leibnitz-Universität in Seminaren zur Hexenverfolgung zu sitzen, in denen die Dozenten scheinbar die Zusammenfassungen von Zusammenfassungen von Brockhaus-Artikeln vorlesen, und als Primärliteratur sowohl Richard Dawkins‘ „Der Gotteswahn“ als auch Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ dient. Nachdem Laura eine Kanne Mitleid von ihren Kommilitonen übergeschüttet bekommen hat – (irgendwie wirkt es auf mich aber eher so, als ob die nur Jagd auf besonders sensationsträchtige Einzelheiten der in Lauras Umfeld grassierenden Mordserie machen wollen würden) -, und Laura die Besorgnis geäußert hat, auch sie, ihre Kommilitonen, könnten alsbald ins Visier des unbekannten Killers geraten, erhält sie während des Seminars eine SMS von Diana, in der diese ihr mitteilt, der totgeglaubte Christian sei auf einmal wiederaufgetaucht. Die Beine in die Hände nehmend eilt sie aus dem Universitätsgebäude – und kollidiert zuerst mit dem messerschwingenden Mönch, und gleich darauf mit Schumacher und seinem bisher unsichtbaren Kollegen Schmidt, die offenbar genau gewusst haben, dass Laura ihr Seminar frühzeitig verlassen und ausgerechnet diesen Weg nach Hause nehmen wird. (Na gut, Schumacher erklärt, Diana habe ihnen verraten, welche Strecke Laura üblicherweise zurücklegt, aber haben die Beamten nun wirklich stundenlang am Wegesrand gewartet, und sind nicht einfach zu Laura ins Seminar gegangen?) Was genau wollen die Beamten von unserer Heldin? Nun, sie erstmal mit ins Präsidium zu nehmen, denn inzwischen ist auch die Leiche in der Kleingartenkolonie entdeckt worden, und man hat daher noch weitere Fragen an sie, das heißt: Schumacher gibt das Geleit, während Schmidt zurückbleibt, um den Mönch, der ja angeblich noch irgendwo im Park versteckt sein muss, über den Haufen zu schießen. Tatsächlich stellt er den Unhold, und pumpt ihn mit drei Kugeln voll, doch nachdem die Kutte zusammengesackt ist, löst sie sich in Luft auf, und lässt einen verdutzt umherwuselnden Polizisten zurück.

47:20 Lange darf Schmidt nicht verdutzt umherwuseln. Nachdem die neuerliche Vernehmung Lauras schon wieder keine Erkenntnisse zutage gefördert hat, die Schumacher schmecken, soll Schmidt sie am nächsten Tag bei einer Exkursion begleiten, die sie mit ihrem Hexen-Seminar zu irgendwelchen mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Ruinen unternehmen wird. (Ob ich nun, wenn ich um mein Leben fürchte, bereits mehrere Mordanschläge nur knapp überlebt hätte, und außerdem mein halber Freundeskreis von einem unheimlichen Mönch dezimiert worden wäre, tatsächlich meine Prioritäten so setzen würde, dass ich eine Uni-Exkursion nicht doch vielleicht ausfallen ließe, bleibt fraglich.) Schmidt kommt aber nicht weit: Erst vergisst er in Schumachers Büro seine Dienstwaffe, dann schenkt ihm der Mönch im Parkhaus seine Aufmerksamkeit, und macht kurzen Prozess mit ihm. Währenddessen sitzt Christian quicklebendig bei Diana und Laura auf der Wohnzimmercouch, und erzählt, er wisse selbst nicht, weshalb der Mönch ihn am Leben gelassen habe. Was Christian aber inzwischen im Gespräch mit einem gewissen Pfarrer Carstens herausgefunden hat, präsentiert er den Mädels brühwarm – (ernsthaft, Du hast Deine Freundin im Glauben gelassen, Du seist ermordet worden, und hast, statt Dich bei ihr wenigstens kurz zurückzumelden, erstmal Deinen Gemeindepfarrer besucht, eh?): Angeblich spuke in der Gegend eine Legende herum, die von einem kirchentreuen Mönch berichtet, der im Jahre 1796 schreckliche Verfehlungen der Amtskirche aufgedeckt habe – so im Stil: der Bischof treibt Unzucht mit Minderjährigen usw. -, und deshalb von einem aufgebrachten Mob auf Geheiß des Klerus bei lebendigem Leibe bestattet worden sei. Überraschend kompetent jedenfalls fällt die begleitende Rückblende aus, bei der nicht an hübsch ausschauenden Mittelaltermarkt-Kostümen und einem historischen Ambiente gespart worden ist, das tatsächlich mal ein Klostergarten hätte gewesen sein können. Ein Anruf Schumachers unterbricht das Schwelgen in der Vergangenheit: Er will wissen, ob Laura wiederum wisse, wo Schmidt steckt, und nein, die weiß es nicht, und nein, sie braucht auch keinen Polizeischutz für die Exkursion morgen – eine Aussage, die ich äußerst fragwürdig finde.

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Abb.3: Standardlektüre in Seminaren zur Hexenverfolgung an der Leibnitz-Universität: Karlheinz Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums" und Richard Dawkins' "Der Gotteswahn".

1:00:00: Zeit für das Grande Finale. Die große Exkursionsgruppe besteht zwar nur aus sechs Köpfen, dafür sind alle versammelt, die wir bislang liebgewonnen haben: Neben der unvermeidlichen Laura noch Christian und Diana, der spießig-zugeknöpfte Dozent von vorhin namens Professor Egebrecht, und eine Dreiergruppe, bestehend aus einer Dame und zwei Herren, unter der Führung eines gewissen Björn, die scheinbar noch nicht aus der Pubertät herausgelangt sind, denn anders kann ich es mir nicht erklären, dass Björn einen verstauchten Knöchel vortäuscht, um mit seinen beiden Mitstreitern zurückbleiben zu können, und, während der Professor mit unserer Helden-Trias weiter durchs Unterholz stapft, erstmal einen Joint und eine Pfefferminzschnaps-Pulle auspackt. Der Verzehr schlägt aufs Gemüt, und kichernd wie die Kleinsten kullern die drei Tunichtgute auf dem Waldboden herum, jedenfalls so lange bis der Mönch sie in altehrwürdiger Slasher-Manier wittert, nach der jeder, der nur in die Nähe von vorehelichem Sex oder Drogen gerät, sogleich mit erheblichem Blutverlust rechnen darf. Auch Schumacher ist im Wald unterwegs, auf der Suche nach der zu beschützenden Laura, und findet die Gruppe bei einem Türmchen just in dem Moment, als Christian plötzlich seine brave Fassade fallenlässt, und Diana, Laura und dem Professor die ganze Wahrheit über den Metzelmönch unterbreitet: Er selbst habe gemeinsam mit Pfarrer Carstens und irgendwelchen katholischen Burschenschaftlern den ruhelosen Bruder beschworen, um mittels seiner alle die Sünder zu bestrafen, die Gottes Gesetze mit Füßen treten. „Ich werde erlöst sein!“, krakeelt er in einer der melodramatischsten Todesszenen, die ich seit langem gesehen habe, und stürzt sich in Schumachers losbellende Pistole. Ein unüberschaubares Gemetzel folgt, bei dem der Geschichtsprofessor ebenfalls seines Lebens verlustig geht, es Laura aber schließlich schafft, Schumachers Knarre in die Finger zu bekommen, und den Mönch niederzuschießen. Wider Erwarten, denn bei Schmidt zehn Minuten zuvor hat das ja nicht so einfach funktioniert, bleibt er mausetot liegen. (Liegt es daran, dass Laura ihm eine Kugel direkt in die Stirn jagt, und damit endlich jemand ist, der die Lehren, die wir aus Fulcis L’ALDILÁ gezogen haben, beherzigt?) In einem Feld voller Leichen können Schumacher, Laura und Diana nur noch erschüttert dreinblicken. Ende?

1:03:00: Nein, fast, ein skizzenhafter Epilog folgt noch, angesiedelt ein Jahr später: Laura und Diana verlassen das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover – (fragt mich nicht, was die Grazien dort nun schon wieder verloren hatten) -, schlendern gutgelaunt über eine Brücke. Die Kamera wendet sich von ihnen ab und zoomt langsam auf eine Mönchskutte, die offenkundig jemand achtlos an den Wegesrand ins Gras geschmissen hat. Um Himmels willen! Der Abspann ist mit niedlichen Zeichnungen des Mönchleins und einem Soundtrack untermalt wie aus einem epischen Fantasy-Videospiel. Nun aber wirklich: Ende!

Bevor ich das Drehbuch als eigentliche Schwachstelle von SACERDOS identifizieren möchte, widme ich mich erst einmal den technisch-ästhetischen Aspekten – auch deshalb, weil ich nach dieser überlangen Inhaltsangabe die spontane Lust verspüren, etwas Wohlwollendes über vorliegendes Schauerstück zu verlieren, bevor ich es gleich leider dann doch in der Luft zerreißen muss. Was die Kameraarbeit, den Schnitt, das Sounddesign, die schauspielerischen Leistungen betrifft, sieht man SACERDOS freilich von der ersten bis zur letzten Sekunde an, dass wir es mit einem Amateurprodukt zu tun haben, dessen Verantwortliche – sofern diese Bezeichnung Sinn macht – professionelle Laien sind, die ihren Film, wie das HAZ-Interview andeutet, scheinbar an freien Wochenenden mit engen Bekannten und Freunden relativ sorglos, ohne nennenswertes Budget und ohne kommerziellen Druck im Nacken, heruntergekurbelt haben – eine Sorglosigkeit, die ich anhand leiser Selbstironie auch bei den Darstellern zu spüren meine, wenn ich Philipp Kreisz beispielweise problemlos die Spielfreude abnehme, die er in seiner Rolle als dauerbetrunkener Ermittler gehabt haben muss, oder sehe, mit welcher leidenschaftlichen Manie sich Carsten Gramms im Finale in den derangierten Kosmos eines selbsternannten Gotteskriegers hineinsteigert, oder mir mit Philipp Schmalstieg als Professor Egebrecht eine klischeebehaftete Karikatur eines Historikers, wie ich sie selbst in meinem Studium kennenlernen durfte, die letzte Viertelstunde versüßt. Auf weiblicher Seite sucht man solche Bonbons zwar vergebens, aber Heiderose Hoja als Laura und Lea Gronenberg als Diana besitzen glücklicherweise nicht negatives Talent genug, mir trotz ihres eher hölzernen Spiels und unterkühlten Emotionen selbst in brenzligen Situationen geradewegs auf die Nerven zu gehen. Avantgardistisch oder aufsehenerregend sind aus technischer Sicht nun wirklich kaum eine Montagesequenz, Einstellung oder visuelle Idee. Dass Schumacher zu Beginn einen langen, vom Kamerazoom nachvollzogenen Blick ein spiralförmiges Treppenhaus hinaufwirft, irritiert allein deshalb, weil Kelich und sein Team dort einmal aus den konventionellen Schranken ihres restlichen Films ausscheren, und wenn Heiderose Hoja knapp zwei Minuten lang bei der morgendlichen Körperpflege begutachtet wird, wobei die Kamera aus Froschperspektive ihre Füße fokussiert, oder aber aus der Vogelperspektive ihr über die Schulter schaut, dann beschleicht mich eher das Gefühl, es solle mit solchen Szenen die Laufzeit des Films wenigstens auf etwas mehr als sechzig Minuten gestreckt werden. Wenigstens aber – und das hat SACERDOS den üblichen Amateur-Horror-Knallchargen der Marke Schnaas, Taubert oder Rose voraus, von denen Kelich & Co. tatsächlich Äonen trennen – versteht man in SACERDOS die Dialoge deutlich, der Schnitt ist flott genug, einen stets bei der Stange zu halten, und die Splattersequenzen sind angenehm kurz und bündig gehalten, wälzen sich also nicht in minutenlangen Primitivsmen, wie man sie ebenfalls mit den üblichen Verdächtigen assoziiert. Man merkt vielmehr, dass im Fokus der Bemühungen das Drehbuch gestanden haben muss –, und weil dieses letztlich nicht den geringsten Sinn macht, vollkommen konfus daherkommt, und sich immer mal wieder gerne selbstwiderspricht, ist es letztlich genau dieses Drehbuch, was SACERDOS schließlich das fromme Genick bricht.

In meiner Inhaltsangabe habe ich ja schon einige Logiklöcher angedeutet, die ich nun noch ein bisschen weiten möchte: Wenn ich das richtig verstanden habe, stößt der erzkatholische Christian irgendwann vor Einsetzen der Filmhandlung über die Legende von Sacerdos, und reanimiert – (wie auch immer!) – den Mönch mitsamt seines Gemeindepfaffen und irgendwelchen Burschenschaftlern. Dass man diese Szene nicht in einer Rückblende eingeflochten hat, kann ich dem Film ja noch verzeihen – (obwohl es natürlich schon schön gewesen wäre, zumal man es sich ja sogar leistet, und das sogar recht ordentlich, visuell ins Jahr 1798 abzuschweifen) –, aber die Prämisse, die der Beschwörung folgt, erschließt sich mir kein bisschen: Sacerdos, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegen Missstände in der Amtskirche kämpfe, und daher den Tod fand, ist nun also als übernatürliches Wesen zurück auf Erden, und jagt gemeine Sünder. Fünf von ihnen hat er schon bei der Helmstedter Börde erwischt. Aber weshalb sind denn nun Laura und ihre Freunde ganz oben auf seiner Abschussliste? Im gesamten Film habe ich Laura oder Diana keine einzige strafwürdige Handlung begehen sehen, oder überhaupt irgendetwas, das sie selbst nach den Maßständen von 1798 den Kopf kosten könnte. (Na gut, einmal abgesehen von dem SPD-Toaster in ihrer Küche.) Hetzt der Mönch sie, weil sie Partys konsultieren, und Alkohol trinken? Aber weshalb geht es dann Oberkommissar Schumacher niemals an den Kragen, der sich den gesamten Film mindestens den Inhalt eines Weinkellers einverleibt, und stattdessen seinem Kollegen Schmidt? Überhaupt: Was soll denn Sacerdos‘ Schlachtzug letztendlich bewirken? Die Welt von allen Sünden reinigen, phantasiert Christian. Aber müsste der Mönch dann nicht, wenn DAS seine Richtlinien sind, nahezu die vollständige Menschheit ausrotten? Wie erklärt sich wiederum sein schlussendlicher Tod? Laura kann ihn problemlos mit einer profanen Waffe niederstrecken, während Schmidt daran scheitert? Überhaupt, wenn der Mönch sich beliebig überall materialisieren kann, wieso ist er dann überhaupt darauf angewiesen, seinen Opfern im Schneckentempo hinterherzuschleichen? Könnte er Laura und Gefolge nicht einfach im Schlaf überwältigen? Fragen über Fragen, die wohl deshalb um mich herumschwirren wie ein Schmeißfliegenschwarm, weil Kelich und Team zwar ein paar nette Grundideen auf die Beine gestellt, aber völlig den Leim vergessen haben, mit dem man diese zu einer homogenen Einheit verbindet. Psychologisch ist die Chose sowieso vollkommen unglaubwürdig, und dabei aber nicht witz- oder reizvoll genug, wirklich augenzwinkernd zu wirken. Dass Diana unbekümmert ihren Freund, von dem sie ja noch nicht weiß, dass er mit dem Mönch unter einer Decke steckt, in dessen Armen zurücklässt, oder dass Laura einfach nicht checkt, dass Lucy wohl tot sein wird, wenn sie ein Kommissar des Morddezernats von deren Handy aus anruft, sind nur zwei von so vielen Schnitzern innerhalb der inhärenten Logik des Streifens, dass seine Oberfläche gespickt ist von Einkerbungen mehrerer wildgewordener Katzentatzen. Dass Kelich und Konsorten in dem inflationär erwähnten HAZ-Interview ihr Schaffen dann noch dezidiert in den Dunstkreis von wahren Transgressiven und Subversiven des abseitigen Kinos, wie sie das Horror-Kino der 80er bereichert haben, zu stellen versuchen, bringt das Fass zum Überlaufen, und man möchte ihnen gerne persönlich mitteilen: SACERDOS mag ihnen viel Spaß beim Drehen bereitet haben, und manchen schlichten Gemütern (wie mir) beim Schauen ebenfalls eine vergnügliche Stunde verschaffen, aber verglichen mit dem Splatter-Oeuvre des ebenfalls inflationär erwähnten Signore Fulci ist ihr Film ungefähr das, was ein Gerangel auf einer Dorfkirmes im Vergleich mit einer nationenübergreifenden, Köpfe rollenlassenden, regimestürzenden Revolution wäre.

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Abb.4: Partei-Placement galore: Wo bekomme ich nur diesen stylischen SPD-Toaster her?

Wenn ich nun noch anfüge, dass unsere SPD-Splatter-Freaks neben SACERDOS seit den mittleren 2000ern noch etliche Kurzfilme inszeniert haben, die sich quer durch sämtliche Genres schlängeln - darunter HEIMATERDE über eine Geheimloge, die im Namen des völkischen Dichters Hermann Löns Frauen entführt, Doktoranden bedroht und okkulte Zeremonielle durchführt, eine Art Mini-Sitcom namens ZWEI BÄRENSTARKE SOZIS, das BLAIR-WITCH-Derivat VERLASSENE SEELEN oder das Drama AUSGESCHLOSSEN über die individuelle Isolation innerhalb der modernen Gesellschaft - kann man vielleicht ansatzweise ermessen, auf was für ein Wrack ich hier gestoßen, in dessen Rumpf nicht unbedingt ein Schatz warten muss.

Über den SPD-Toaster indes komme ich noch immer nicht hinweg...
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Umbracle

Produktionsland: Spanien 1970

Regie: Pere Portabella

Darsteller: Christopher Lee, Jeannine Mestre, Miguel Bilbatúa, Román Gubern, Joan Enric Lahosa, Joan Miró
Nachdem sich Pere Portabella bereits als Produzent und Förderer diverser alternativer künstlerischer Stimmen innerhalb des spanischen Franco-Regimes hervorgetan hat – unter anderem verantwortet er Bunuels wundervollen VIRIDIANA (1961), Marco Ferreris EL COCHECITO und Carlos Sauras LOS GOLFOS (beide 1960) –, dreht er ab den frühen 70ern selbst eine Handvoll Experimentalfilme, von denen CUADECUC, VAMPIR von 1970 wohl noch der bekannteste sein dürfte. Das liegt allerdings weniger an der Zugänglichkeit des Werks, sondern an seiner interessanten Entstehungsgeschichte. Portabella nämlich treibt sich mit seiner Kamera am Set von Jess Francos DRACULA-Adaption EL CONDE DRÁCULA herum, und filmt, was ihm vor die Linse kommt - darunter natürlich vor allem, wie Franco wiederum seinen eigenen Film dreht, wie die Techniker die Kulissen arrangieren und ausleuchten, wie künstliche Spinnweben verteilt werden, und, als einzige Lautäußerung einer menschlichen Stimme, wie in der Schlussszene Hauptdarsteller Christopher Lee aus Bram Stokers Roman vorliest. Im Sinn hat Portabella freilich etwas ganz anderes als ein konventionelles Making-Of bzw. eine Behind-the-Scenes-Featurette, für die man seinen Film fälschlicherweise halten könnte. Stattdessen wird Francos Horrorstreifen großflächig demontiert, dekonstruiert, Szenen durcheinandergewirbelt, dramatische Momente dadurch ironisch untergraben, dass wir genau sehen, wie sie inszeniert worden sind. Dazu gibt es einen atonalen Score von Portabellas bevorzugtem Komponisten Carles Santos, und grobkörnige, kontrastreiche Schwarzbilder, die diejenigen von EL CONDE DRÁCULA spielerisch in ihrem knietiefen Waten in expressionistisch-gotischer Ästhetik ausstechen.

Da mich CUADECUC, VAMPIR seinerzeit ziemlich begeistert hat, freute ich mich umso mehr, nun endlich mehrere Augen auf einen Film werfen zu können, den Portabella parallel zu diesem gedreht hat, der jedoch erst 1972 an die Öffentlichkeit gelangt ist. Auch in UMBRACLE ist Christopher Lee wieder Dreh- und Angelpunkt, diesmal allerdings nicht am Set eines Franco-Films, sondern in Szenen, die Portabella ihm persönlich auf den Leib geschrieben hat. Auch in UMBRACLE sorgt Carles Santos für einige eigenwillige Töne und Geräusche. Auch in UMBRACLE dominieren Bilder, an deren brillanten Gefechten zwischen Licht und Schatten ich mich nicht sattsehen kann. Nicht zuletzt sollte auch in UMBRACLE niemand auch nur eine Fingerspitze Konventionalität erwarten. Seinen Punkt macht Portabella relativ früh klar: Einige Freunde und Filmschaffende debattieren in einer fünfzehnminütigen Sequenz die willkürlichen, restriktiven Zensurmaßnahmen, mit denen man sich als Freigeist im faschistischen Spanien herumschlagen muss. Anschließend serviert uns Portabella nahezu ebenso lang einen Ausschnitt aus einem Film, der die höchsten Weihen des franquistischen Kultusministeriums empfangen durfte, ein klischeebeladenes, pathetisches Kriegsdrama um einen Priester, der im Feld seinen Mann steht.

Freilich sind diese Momente die einzigen beiden in UMBRACLE, denen man eine klare Zielsetzung, eine Agenda anheften kann. Ansonsten sehen wir nämlich folgendes: Christopher Lee schleicht durch das Zoologische Museum in Barcelona. Christopher Lee beobachtet auf offener Straße einen Überfall. Christopher Lee sitzt mit einer Frau – es handelt sich um Jeannine Mestre, die in Francos DRÁCULA eine der Gespielinnen des Grafen verkörpert hat, und deren bekannteste Rolle wohl die der heroinabhängigen Katie West in Jorge Graus Zombies-im-englischen-Hinterland-Schocker NO PROFANAR EL SUENO DE LOS MUERTOS sein dürfte – in einem Zimmer, und man schweigt sich an. Christopher Lee wird von Portabella gebeten, in einem leeren Konzertsaal zu improvisieren, worauf er eine Opernarie zu trällern anfängt, und danach aus dem Kopf Edgar Allan Poes THE RAVEN rezitiert. Dazwischen wandert aber auch der surrealistische Maler Joan Miro, der zudem das Filmplakat zu UMBRACLE gestaltet hat, durchs Bild; es werden Hühner im Schlachtbetrieb gezeigt, die am Fließband sterben und danach ebenso maschinell entfiedert werden; und zwei Harlekins werden dabei beobachtet, wie sie auf einer Bühne ihren naiven Klamauk treiben.

Ich bin überfragt, wenn man von mir wissen wollen würde, ob all diese scheinbar heterogenen, kontingenten Fragmente eine übergeordnete Bedeutung haben – und wenn, welche. Aber was ich weiß, das ist: UMBRACLE ist einer der dramaturgisch einwandfreisten, visuell reizendsten und unterhaltsamsten Experimentalfilme, die ich seit langem gesehen habe. Mehr noch: An Portabella ist ein veritabler Horrorfilmregisseur verlorengegangen. Diese irgendwie rauen, irgendwie aber auch sinnlichen 16mm-Schwarzweißbilder tragen die Handschrift eines Meisters. Obwohl UMBRACLE fernab auch nur des Ansatzes einer Narration angesiedelt ist, engagiert er mich emotional allein darüber, wie dieser Film ausschaut, wie virtuos er montiert wurde, wie die Kamera sich durch die Pulks an Schatten und Schneisen grellen Lichts bewegt. Fast habe ich den Verdacht, UMBRACLE könnte so etwas sein wie eine umfassende Dekonstruktion dessen, was Hitchcock mit Suspense meint, angestrebt haben: Permanent wird Spannung aufgebaut, die sich dann aber in keinem Konflikt, in keiner konkreten Handlung, in keiner verständlichen Geste entlädt. Also muss ich ihr helfen, sich loszuwerden, und das geschieht über meinen eigenen, direkt von den Bildern affizierten Körper. Hinzukommt ein Sounddesign, ebenfalls aus Meisterhand: Hypnotische elektronische Klangflächen, oder auch mal einfach minutenlang das schrille Schellen eines Telefons.

Wem das alles nun schon beim Lesen zu schräg, zu wirr, zu wenig fokussiert klingt, dem rate ich natürlich ab, sich in diesen wundervollen Bilderreigen abzuseilen. Ich indes bin nachhaltig beeindruckt von diesem nahezu vergessenen Kleinod des aufmüpfigen Experimentalkinos mitten im Herzen der Restriktion…
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Primal Rage

Produktionsland: Italien/USA 1988

Regie: Vittorio Rambaldi

Darsteller: Patrick Lowe, Cheryl Arutt, Sarah Buxton, Mitch Watson, Bo Svenson


Unfassbar, dass ich jetzt erst die Notiz von diesem kleinen Meisterwerk nehme, die es verdient! Weshalb RAGE - FURIA PRIMITIVA, der Debut-Film von Carlo Rambaldis Sohnemann Vittorio, die höchsten Weihen und seinen festen Platz in der italienischen Genrefilm-Historie verdient, möchte ich im Folgenden kurz und knapp erklären:

RAGE - FURIA PRIMITIVA eröffnet mit einem der großartigsten Vorspänne der mir bekannten Filmgeschichte: Zu den Klängen des Smash-Hits „Say the word“, komponiert von einem gewissen Greg Bonham und performt von der mir ebenfalls völlig unbekannten „Facade Band“ – es handelt sich um einen fetzigen Liebessong für die Tanzfläche mit memorablen Refrain-Zeilen à la „Say the word / Rescue me / Hold me tonight / In your arms“, einer mehr schreienden denn singenden Dame als Chanteuse sowie einem Saxophon-Solo, das sich anhört wie die zum Sound gewordenen 80er – begleiten wir unseren Helden Sam Nash, seines Zeichens Student und Reporter bei der örtlichen Campus-Zeitung, wie er, bewaffnet mit seiner Kamera, das Alltagstreiben auf dem Uni-Gelände verfolgt. Es ist ein sonniger Sommertag in Miami, und die zukünftige Bildungselite übt sich im Tauziehen, im Faulenzen auf der Wiese, Posaune spielen, sich mit dem oder der Liebsten in eine ruhige Ecke zurückziehen, oder darin, ein Afrika-Festival zu veranstalten und/oder zu besuchen. Der Moment, als der Filmtitel auf dem Bildschirm erscheint, ist pures kinematographisches Gold, und kann eigentlich nur noch von jener Szene in D’Amatos PORNO HOLOCAUST übertrumpft werden, als der an sich schon unglaubliche Filmtitel über Urlaubsvideo-Aufnahmen St. Domingos aufscheint: PRIMAL RAGE ist nämlich exakt dann zu lesen, als die Kamera respektive Sam auf seinem Motorroller einer Gruppe joggender Frauen in Trainingsanzügen hinterherfährt, und dabei vor allem deren stramme Hintern aufs Korn nimmt. Vorzeitliche Rage, indeed!

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Abb.1: Die hohe Kunst der Titeleinblendung in Filmvorspännen...

Bis der Film indes wirklich auf den Putz haut, müssen erst einmal die Weichen für die obligatorische Liebesgeschichte gestellt werden: Sam rettet Lauren heldenhaft vor einem grantigen Abschlepper, der ihren falsch geparkten Wagen mit sich nehmen will. Bevor sich zwischen den Beiden jedoch mehr entwickelt als ein paar interessierte Blicke, erfahren wir erst einmal von Sams Freund und Mitbewohner Frank Duffy, dass die Redaktion der Campus-Zeitung einige dubiose Dinge aufzudecken plant, die im Labor Professors Ethridges, dem „Affenquäler“, stattfinden sollen. Dieser Professor wiederum ist niemand anderes als Bo Svensson mit Pferdeschwanz, und zurzeit damit beschäftigt, seinen nicht minder dubiosen Geldgebern, die ihm einen Besuch im Labor abstatten, den Fortschritt seiner Experimente vorzuführen. Um seinem "Affenquäler"-Titel gerecht zu werden, wird hierfür ein Pavian – (offenkundig eine Kreation Rambaldi seniors, der im Vorspann als bei den Spezialeffekten beteiligt genannt wird, und nein, so schlecht sieht das Äffchen nun wirklich nicht aus, im Gegenteil) – widerwillig auf einem Stuhl fixiert, und mit einem Serum vollgepumpt, das ihn regelrecht ausrasten lässt. Kein Wunder, dass Ethridges Förderer erst einmal die Schnauze vollhaben, und verkünden, ihr Mäzenentum fürs Erste an den Haken zu hängen. Der investigative Journalist Duffy nimmt derweil seinen Plan zur großangelegten Laboraffen-Befreiung vom Haken herab, und dringt des Nachts in Ethridges Labor ein. Zu Dank verpflichtet ist ihm der aus seinem Käfig hervorgeholte Pavian jedoch nicht, beißt den engagierten Tierschützer stattdessen, bevor er sich mittels Sprung durchs Fenster in die Freiheit verabschiedet. Die ist ihm nicht lange vergönnt: Der zwischen zwei Schnitten von der Gummipuppe zum realen Tier gewordene Affe lässt sich von den Scheinwerfern des nächstbesten LKWs paralysieren, und sodann über den Haufen fahren. Als Ethridge die Aufnahmen seiner Überwachungskameras sichtet, und realisiert, dass das Tier vor seinem Tod noch einen herzhaften Biss in einen Menschenkörper getan hat, schrillen bei ihm sämtliche Alarmglocken – und bei jedem der Mitlesenden sicherlich ebenso, der bereits mehr als einen Genre-Film gesehen hat…

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Abb.2: Eine graphische Warnung an jeden, der jemals mit dem Gedanken spielte, sich von einem Pavian beißen zu lassen.

Bis der Film indes seinen Putz kurz- und kleinhaut, muss erst einmal eine weitere Liebesgeschichte etablieren: Duffy nämlich verguckt sich in Debbie, eine Freundin Laurens, die gerade eine Abtreibung hinter sich hat und über einen IQ von 184 verfügt – (weshalb auch immer das Drehbuch glaubt, uns das mitteilen zu müssen.) Parallel bekommt jedes Turteltäubchenpaar seinen intimen Moment: Sam und Lauren nähern sich in deren Studentenwohnheim-Zimmer einander an, während Duffy und Debbie, über Al Pacino philosophierend, miteinander in einem Freibad auf Tuchfühlung gehen. (Für's Protokoll: Duffs Lieblingsfilm ist ...AND JUSTICE FOR ALL.) Duffy, der seit dem Affenbiss nicht mehr ganz frisch aussieht, kann sich nicht zusammenreißen, und beißt Debbie in den Hals statt ihr nur ein flüchtiges Busserl zu geben – was die jedoch nur halb so wild findet, und Lauren am nächsten Tag stolz ihren exorbitanten Knutschfleck präsentiert. Der Beißende ist demgegenüber wesentlich entsetzter über sein auf einmal so animalisches Verhalten. Sein Gang zur Notaufnahme endet im Chaos: Als er im Wartezimmer etwas zu lange warten gelassen wird - (weshalb heißt der Ort wohl Wartezimmer) -, tickt er völlig aus, prügelt sich mit anderen Patienten, und nimmt schließlich Reißaus. Sam staunt nicht schlecht, als die Polizei bei ihm vor der Tür steht, und ihm erklärt, dass sein Mitbewohner sich auf der Flucht befinde. Bezüglich des ungläubigen Staunens ergeht es einer Bande Halbstarker ähnlich, die vorher schon als Campus-Schreck eingeführt worden sind: Deren Freizeitgestaltung sieht offenbar so aus, dass man volltrunken und im Primaten-Modus nachts durch die Kleinstadt cruist, Kommilitoninnen entführt, und diese bei sich zu Hause zum Sex zu zwingen versucht. Nur leider geraten die Rowdies an Debbie, die inzwischen ebenfalls vom Pavian-Gift infiziert worden ist, und ihrerseits den Hooligans die Zähne zeigt, bevor die ihr an die Wäsche kommen. Sein Fett bekommt ebenfalls ein Hochschullehrer weg, der sich regelmäßig seine Studentinnen für eine Spritztour einlädt, um ihnen im Gegenzug die Noten zu frisieren. Nachdem Sam den inzwischen vollends entmenschlichten Duffy auf dessen Wunsch hin getötet hat, kommen endlich auch unser bis dahin relativ tatenloser Held und der inzwischen über ein Gegenserum verfügende Professor Ethridge zusammen, und gemeinsam beschließt man, der grassierenden Seuche ein Ende zu setzen…

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Abb.3: Reminiszenzen an die Frühzeit des Kinos, und das, was der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin unter dem "Karnevalesken" versteht: Für eine gewisse Zeit steht die Welt Kopf, und pfeifen ihre Bürger auf ihre Gesetze. Louis Feuillade hätte diese Szene geherzt.

Was genau Ethridge seinen Versuchskaninchen nun eigentlich gespritzt hat, und weshalb, erfährt der geneigte Rezipient von RAGE - FURIA PRIMITIVA zu keinem Zeitpunkt. Das von Umberto Lenzi mitverfasste Drehbuch hat eine ganz andere Agenda, nämlich uns das Campus-Leben als hermetischen Mikrokosmos vorzuführen, in dem alles mit allem irgendwie zusammenhängt, und jeder mit jedem. Es ist wie bei einer Seifenoper mit überschaubarem Cast: Wenn Duffy im Blutrausch auf mörderische Tour geht, gerät er genauso selbstverständlich an bekannte Gesichter, wie die Halbstarken bei ihrer Frauenhatz natürlich ausgerechnet eine unserer Heldinnen aufgabeln. Die bald am laufenden Band verübten Morde werden ab einem bestimmten Zeitpunkt von niemandem mehr großartig zur Kenntnis genommen – sprich: nach ihrem einmaligen Auftritt an Sams Wohnungstür haben die Polizisten für die restliche Laufzeit des Films Feierabend –, und die Zeichnung der Charaktere unterläuft noch gängige Klischees, indem ihrem Handeln nicht das geringste nachvollziehbare Motiv untergejubelt wird. Genau das ist es aber, was ich an diesen Spät-80er-Italo-Produktionen, die sich so sehr beim US-amerikanischen Markt anbiedern, dass ihre Verantwortlichen sogar über den großen Teich reisen und lokale, weitgehend unbekannte Darsteller des Teenie-Schemas verpflichten, feiere, als würden Weihnachten, Fastenbrechen und Bar Mitzwa auf einen Tag fallen: Beibehalten werden die surrealen Tendenzen, die die italienische Genrefilm-Kultur von Argento über Fulci bis hin zu Mattei auszeichnet und adelt, nur eben übersetzt in die Formsprache dessen, was zurzeit in den USA als kurzlebiger Trend angesagt ist. RAGE - FURIA PRIMITIVA mag aussehen, sich anhören wie ein US-amerikanischer Mainstream-Horrorfilm, und sich sogar selbst für einen solchen halten. Das ist jedoch lediglich seine Fassade, die man, wie die kontaminierten Hautschichten der Pavianbiss-Geschädigten in vorliegendem Streifen, bloß ein bisschen herunterkratzen muss, um zu erkennen: Handlungstechnisch, dramaturgisch, inszenatorisch bewegt sich der Film auf derart dünnem Eis, dass die gesamte Plot-Chose alle paar Minuten bis zum Scheitel in es einbricht. Wie Lauren und Sam sich kennen und lieben lernen, wie sich das Flirten zwischen Duffy und Debbie gestalten, wie Duffy in der Ambulanz komplett die Kontrolle verliert, wie sich der lüsterne Lehrer mit seinem derzeitigen Betthäschen in seinem Auto vergnügt – von den gnadenlos overactenden Darstellern der Rowdy-Clique ganz zu schweigen -, das ist kinematographische Gold für jeden, der sich noch nicht vom schnöden Blendwerk irgendwelcher Blockbuster hat über den Tisch ziehen lassen. Wenn die Tonspur dann noch regelrecht zugekleistert wird von einem 80er-Score, - der wiederum zumindest teilweise aus der Feder Claudio Simonettis stammt –, der ehemalige Mondo-Filmer Antonio Climati als DOP operiert, und eine Sprinkleranlage auf virtuose Weise zweckentfremdet wird, dann bin ich endgültig im Himmel Nummer Sieben angelangt.

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Abb.4: Bachtin trifft auf Bataille. (Körper-)Exzesse während eines karnevalesken Ritus, unter dem die narrative Dynamik sang- und klanglos kollabiert. (Und ja, das ist ein Wasserhahn, den die Maske statt einer Nase trägt, und ja, aus diesem Wasserhahn strömt Blut.)

Zum Beweis dafür, dass RAGE - FURIA PRIMITIVA – und mit ihm all diese bislang selbst von Genre-Fans viel zu sehr geschmähten Italo-US-Kollaborationen wie KILLING BIRDS oder GHOSTHOUSE – mit Logik nichts zu schaffen haben will, bringt er sich mit einem Finale zu Ende, das genau die oben erwähnten surrealistischen Tendenzen bis zum Exzess steigert, und die Handlung komplett unter ihnen verschwinden lässt: Unsere Rowdies sind nunmehr ebenfalls zu Mörderbestien mutiert, und haben sich, da just an dem Abend ihrer Transformation an der Uni eine Halloween-Party geschmissen wird, stylische Skelett-Kostüme mit glühenden Augen besorgt, um sich derart maskiert unter die Feiernden zu mischen, und reichlich Blut zu vergießen. Da kommt dann endgültig zusammen, was kaum zusammengehört, wenn der Film lange Zeit darauf verwendet, uns die phantasievollen Kostüme all der Studenten während eines Konzerts zu zeigen, das scheinbar von genau jener Band bestritten wird, die auch den Titelsong auf dem Kerbholz haben – denn genau der ist es, der nun noch einmal in voller Länge mitleidlos geschmettert wird. Wir sehen einen riesigen Koboldkopf, der sich in der Mitte spalten kann, um darunter einen Totenschädel zu entblößen; einen Typ, der sich die Hose über den Kopf gezogen hat; eine Person mit Schweinemaske in Kapitänsuniform; eine Maske, die aussieht wie eine überdimensionale Nase; und dazwischen schlachten die Skelette mitten im Getümmel und gerade deshalb unbemerkt eins um andere die Partygänger ab. Dass der Plot zu einer Auflösung findet, geschieht eher nebenbei. Stattdessen feiern wir gemeinsam mit den Verantwortlichen ein karnevaleskes Fest, in dem die Konventionen des Filmemachens ausgeschaltet sind, und nur eins zählt: Die Dinge von den Füßen auf den Kopf zu stellen, und heftig mehrmals um sich selbst kreisen zu lassen bis die Körpersäfte nur so spritzen.

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Abb.5: Darf ich vorstellen, Turk Harley als lüsterner Mathematikprofessor Jenkins. Dieser brillante Mime, dem ich die derangierte Sexualität zu jeder Sekunde abkaufe, hat exakt zwei Titel in seiner Filmographie stehen - neben vorliegendem Film einzig noch den back-to-back mit RAGE - FURIA PRIMITIVA gedrehten NIGHTMARE BEACH, wo er hauptsächlich creepy in Hotelfluren herumsteht.

Dass dieser Filmverrückte Vittorio Rambaldi die Wohnungen seiner Helden – und zwar nicht nur die Laurens, sondern auch die der drei Rüpel – mit Postern von Filmen wie CASABLANCA oder FRANKENSTEIN vollgestopft hat, und RAGE - FURIA PRIMITIVA außerdem zeitgleich mit Umberto Lenzis bzw. Harry Kirkpatricks NIGHTMARE BEACH entstanden ist, weshalb einige Schauspieler in beiden Filmen aufspielen, und sich Rambaldis Film als perfekter Kandidat für ein Double-Feature mit diesem wundervollen Schwanensang auf die Spring-Break-Saison eignet, sind bloß zwei Tropfen, derer es eigentlich gar nicht mehr bedurft hätte, um mich vorliegendes Werk ins Herz schließen zu lassen wie viele andere Produktionen aus den Iden des italienischen Genrekinos. RAGE - FURIA PRIMITIVA, das ist, als hätte eine Gruppe Avantgarde-Künstler mit Hang zu Dadaismus und Surrealismus das Remake eines David-Cronenberg-Films drehen wollen, jedoch kaum Budget und kaum zündende Ideen gehabt, zudem zu viel am Drogen-Napf genascht, und sich für ihr Finale bei der Karnevalsszene in Veit Harlans OPFERGANG inspirieren zu lassen. Verzückt ist gar kein Ausdruck!

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Abb.6: Bilder sagen mehr als tausend Worte, und dieser Pavian bringt meine Begeisterung über den Film, in dem er mitspielt, wohl am pointiertesten zum Ausdruck.
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Di 22. Jan 2019, 22:49, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Climax

Produktionsland: Frankreich 2018

Regie: Gaspar Noé

Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Giselle Palmer

Einige kurze Notizen, die ich mir nach meiner Sichtung von Gaspar Noés neuem Film CLIMAX im Zug von Hannover nach Braunschweig gemacht habe:
1. Es dauert ein paar Momente bis ich begriffen habe, dass der Fernsehschirm von Noés Lieblingsbüchern und Lieblingsfilmen flankiert wird. Links liegen die Bücher, rechts die VHS-Kassetten. Letzteres deshalb, weil CLIMAX im Jahre 1996 spielt. Deswegen ist es auch ein alter Röhrenfernseher, der uns die Helden und Heldinnen der kommenden neunzig Minuten vorstellt. Es sind Tänzer und Tänzerinnen, die gerade ein Casting für eine nicht näher spezifizierte Tanzshow durchlaufen. In kurzen Sequenzen antworten sie auf Fragen einer unsichtbaren Jury, nennen ihre Namen, erzählen, weshalb es sie nach Paris verschlagen hat, wieso sie unbedingt bei der Tour durch die USA mitmachen wollen, was ihre Leidenschaften sind, ob sie sich in einer Beziehung befinden, was für Pläne sie sich für ihr Leben zurechtgelegt haben. Die Truppe ist bunt zusammengewürfelt: Schwarz und Weiß, Homosexuell und Heterosexuell. Demgegenüber fahren die Bücher und Filme, deren Titel ich während der Exposition verbissen zu decodieren versuche, eine durchaus homogene Schiene: Sie alle haben mit Grenzüberschreitungen zu tun, in welcher Form auch immer, und wirken wie ein breitangelegtes Referenzkorpus, auf dessen theoretischen und ästhetischen Grundmauern Noé sein gesamtes bisheriges filmisches Oeuvre errichtet hat. Rechts hätten wir beispielweise „Die Geschichte des Auges“ von Georges Bataille, Stefan Zweigs Nietzsche-Buch, Lotte Eisners Buch über Murnau, das Gesamtwerk Bakunins, natürlich etwas von Cioran, „Baise-moi“ von Virgine Despenstes, sowie zwei Bücher, die offenbar vom homosexuellen Kino und Selbstmord handeln. Rechts fällt es mir noch leichter, die Seitenkanten der VHS-Hüllen sofort mit Bildern zu verbinden, die in mir nisten wie geliebte Widerhaken. Einige meiner Lieblingsfilme sind nämlich darunter. Es ist verrückt, wie mein Herz vor komplizenhafter Freude zu schlagen anfängt, als ich POSSESSION entdecke, und SUSPIRIA, und den ANDALUSISCHEN HUND. Zwei Fassbinder-Filme sind darunter: FAUSTRECHT DER FREIHEIT und die Jean-Genet-Verfilmung QUERELLE. Dass Pasolinis SALÓ vertreten ist, wundert mich kein bisschen. Schon eher verblüfft es mich, Kenneth Angers INAGURATION OF THE PLEASURE DOME vorzufinden, und einen Film, den ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen habe: Jean Eustaches vierstündiger Nouvelle-Vague-Schwanensang LA MAMAN ET LA PUTAIN. Die Geste, mit der Noé seine Vorbilder präsentiert, ist dabei übrigens eine, die an Beiläufigkeit kaum zu unterbieten ist. Eigentlich stellen die Stapel an Bücher und Videokassetten bloßes schmückendes Beiwerk dar, einen Rahmen, zwischen dessen Flanken sich die Hauptattraktion, nämlich die Monologe unserer Protagonisten, abspielt. Zugleich aber lenken sie zumindest meine Aufmerksamkeit derart auf sich, dass die sprechenden Köpfe im Fernsehschirm immer wieder zur Nebensache werden. Beinahe hat es etwas von einem Vexierbild: Meine Aufmerksamkeit pendelt zwischen dem Haupttext, der mich auf die anschließende Spielfilmhandlung vorbereiten soll, und einem Konvolut an Fußnoten, die diese anschließende Spielfilmhandlung in ein großes und großartiges Universum an subversiven Referenzen einbettet, die wiederum sich größtenteils mit dem decken, was ich mir selbst als junger Mann tagaus und tagein an Filmen und Büchern reingezogen habe, um der zu werden, der ich heute bin.

2. Was ich am meisten an Gaspar Noé bewundere, ist, wie sehr sich in jedem seiner Filme Form und Inhalt derart gegenseitig bedingen, dass man gar nicht zu unterscheiden weiß, ob denn nun der Inhalt die Form vorgibt, oder ob die Form zuerst da ist, und gewaltsam einen ganz bestimmten Inhalt fordert. Noé ist möglicherweise der konsequenteste Formalist des zeitgenössischen Kinos. Seine Filme sind streng durchorchestriert, mit fast schon mathematischer Präzision. Weder dreht Noé Filme, deren Plot so zentral ist, dass die Inszenierung zweitklassig, sprich, eine von der Stange wird, noch sind seine Filme reine Formexperimente, die sich kaum oder gar nicht für ihre Figuren, deren Schicksale und die Handlungen, in die sie verstrickt sind, interessieren. Noé schafft es, mich emotional ungemein zu engagieren, obwohl seine Filme, wenn man sie mal auf ihre reine Struktur runterbricht, aussehen wie nüchtern kalkulierte Bauhaus-Skizzen. Dass sie mich derart emotional engagieren, hat aber gerade mit dieser nüchtern kalkulierten Struktur zu tun, bei der kein Schnitt, keine Kamerabewegung, keine Großaufnahme, kein Zwischentitel, kein Soundeffekt willkürlich ist, sondern ein Partikel in einem hochkomplexen System, in dem sämtliche Rädchen ineinandergreifen, um auf Rezipienten-Seite das größtmögliche Affizierungspotential freizusetzen. CLIMAX ist darin keine Ausnahme.

3. Müsste ich die Struktur von CLIMAX beschreiben, würde ich sie als Abfolge von Solo-Stücken, Duetten und dem zunehmend kakophonisch werdenden Zusammenspiel des vollen Orchesters bezeichnen. Nach den Solo-Einlagen in Gestalt der Casting-Sequenzen zu Beginn, bei denen die Figuren stets alleine frontal vor der Kamera sitzen, wechselt der Film zum ersten Orchestereinsatz, wenn wir einer Tanzprobe der Künstlertruppe in einem entlegenen (ehemaligen?) Schulgebäude beiwohnen. In einer etwa zwanzigminütigen Plansequenz ohne (sichtbare) Schnitte dreht Noé nichts weniger als die möglicherweise atemberaubendste Tanzszene der Filmgeschichte. Nicht nur, dass die Kamera quasi selbst zum Tänzer wird, eine Figur umkreist, becirct, sich dann abrupt von ihr ab-, und einer anderen zuwendet, hat mich zutiefst beeindruckt, sondern vor allem: Nachdem die Tanzprobe zu Ende ist, hört die Sequenz noch immer nicht auf; stattdessen tanzen manche der Figuren weiter, andere unterhalten sich, bedienen sich bei Buffet und Sangria-Bowle, während überlauter 90er-Techno die Halle erfüllt, kurzum: Handlungsszenen und Tanzszenen verwischen in einer zugleich epischen und beiläufigen Choreographie vollkommen ineinander, während die von Noé geführte Handkamera durch dieses Panorama an Storyfragmenten und sich verausgabenden Körper freimütig umherschwirrt, mal diesen Dialog belauscht, dann wieder dieser Person durch den Raum folgt, sich an dieser Tanzeinlage festbeißt, verdächtig oft rüber zum Gefäß mit dem Sangria linst. Danach sind die Duette an der Reihe, erneut frontal gefilmte Zwiegespräche zwischen immer zwei Figuren, bei denen nie klar wird, wo genau im Raum sich diese aufhalten: Zwei Typen ergehen sich in sexistischsten Phantasien darüber, welche Kollegin sie anal beglücken wollen – zur Not wider ihren Willen. Zwei Damen scheinen vor den Trümmern ihrer gemeinsamen Liebesbeziehung zu stehen. Eine Tänzerin bringt ihren kleinen Sohn zu Bett. Der DJ und ein homosexueller Jüngling unterhalten sich über dessen noch nicht stattgefundenen Jungfräulichkeitsverlust. Zwei andere Frauen debattieren die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs. Konflikte werden angerissen, Tiefenschichten freigelegt. Auf jeden Fall haben die intimen Duette nichts mit der oberflächlichen Freundlichkeit zu tun, mit denen die Tanzgruppenmitglieder sich nach erledigter Probe gegenseitig die Komplimente wie besonders zähen Honig um die Münder geschmiert haben. Der Vorspann des Films läuft erst nach einer weiteren Reihe Soloeinlage ab: Aus der Vogelperspektive gefilmt, darf jeder Tänzer, jede Tänzerin zeigen, was sie kann. Als sich herausstellt, dass irgendwer Drogen in den Sangria gemischt haben muss, sich die ersten (Wahn-)Visionen einstellen, und eifrig nach Sündenböcken gesucht wird, denen man den Kollaps der Party in die Schuhe schieben kann, spielt das Orchester auf wie ein explodierendes Schachspiel: Während Noés Kamera eine Dreiviertelstunde lang scheinbar schnittlos abwechselnd unterschiedlichen Protagonisten an den Fersen klebt, von der Halle in die hinteren Schlafräume des Schulgebäudes und wieder zurück gleitet, sich auf diesen Konflikt einschießt, und einen anderen ausspart, und dabei kontinuierlich die immer besessener und psychotischer werdenden Tanzexzesse wie hypnotisiert anstarrt, verwandelt sich der zuvor symphonische Gleichklang der involvierten Individuen in ein eskalierendes Chaos, an dessen Ende unsere Helden und Heldinnen erneut als Solisten vorgeführt werden, von denen einige nicht mehr am Leben sind, andere zumindest in einem erbarmenswerten Zustand, nur die wenigsten (sexuell) beglückt.

4. Noé ist vielleicht der einzige Regisseur, dem ich es nachsehen kann, dass er offensiv die ikonischste Szene meines absoluten Lieblingsfilm zitiert: Isabelle Adjani in der Berliner U-Bahn, wie sie, laut Zulawskis eigenen Worten, die Luft fickt. Natürlich erreicht Sofia Boutella in CLIMAX nicht ansatzweise die Intensität dieses delirierendsten Moments der Filmgeschichte. Intensiv ist sie aber, keine Frage, trotzdem – und, was zu ihrer Existenzberechtigung beiträgt, fundamental anders gefilmt als ihre Referenz in POSSESSION: Obwohl Zulawski in seinem Meisterwerk ebenfalls vorzugsweise mit Handkamera arbeitet, gerade, wenn es ans Eingemachte geht, schneidet er oft und gerne, wechselt unvermittelt zu Großaufnahmen, lässt Kamerabewegungen über Schnitte hinweg sich vollziehen. Noé demgegenüber scheint Godards Diktum, jeder Schnitt sei eine Lüge, schon seit CARNE, schon seit SEUL CONTRE TOUS, derart verinnerlicht zu haben, dass er seine Filme entweder, wie IRREVERSIBLE oder ENTER THE VOID, so ausschauen lässt, als seien sie eine einzige kontinuierliche Kamerafahrt, oder aber seine Schnitte, wie in LOVE, eindeutig als Interventionen in die Handlungskontinuität markiert – sei es durch Schwarzblenden, sei es durch Soundeffekte. CLIMAX vereint beide Herangehensweise an das „Problem“, dass das filmische Medium zwangsläufig mit montagemotivierten Diskontinuitäten arbeitet: Jeder Schnitt in diesem Film verdient einen solchen Namen auch. Es sind Risse im Gewebe, gewaltsame jump-cuts, die die Handlung nicht, wie im klassischen Hollywood, mit unsichtbarer Hand zusammenkitten, sondern sie brutal aufbrechen. Demgegenüber stehen Kamera-Choreographien, bei denen ich gar nicht wissen möchte, wie viele Takes notwendig gewesen sind, um sie derart perfekt in den Kasten zu bekommen. Die Mixtur aus beidem – sich als Inszenierungen enthüllende Inszenierungen und quasi in Echtzeit stattfindende Studien des um sich greifenden Purgatoriums – evoziert letztlich das ungemeine emotionale Engagement, gegen das zumindest ich mich bei den Filmen Noés genauso wenig wehren kann wie bei denen Zulawskis.

5. Dass Noé Geschichten erzählt, geht, glaube ich, immer ein bisschen unter. Das liegt wohl daran, dass die Geschichten regelrecht verwoben mit der Form sind, in der sie erzählt werden. Sicherlich kann man CLIMAX, was seinen puren Plot betrifft, in dem schalen Satz zusammenfassen: Irgendwelche exzentrischen Tänzer und Tänzerinnen feiern eine Techno-Party, bekommen LSD verabreicht, und drehen völlig ab. Wer CLIMAX nur darauf reduziert, der wird dem Film wenig bis nichts abgewinnen kann. Dass Noés technisch-ästhetischen Handschriftzeichen wie, was CLIMAX betrifft, eine in den letzten zehn Minuten im wahrsten Wortsinne kopfstehende Kamera, grelle Farb- und Toneffekte, explizite Darstellungen menschlicher Körperlichkeit, bloße Gimmicks seien, darauf aus, das Publikum zu provozieren, zu überfordern, zu verstören, ist ein weiterer Vorwurf, den ich immer wieder lese und höre. Sicherlich kann man auch CLIMAX vorwerfen, dass Noé sein wildes Kamerafuchteln, seinen Fokus für die eher abseitigen Seiten der menschlichen Existenz, seinen plakativen Soundtrack als reine Sensationswerte ins Spiel bringt, um ein Mainstream-Publikum schachmatt zu setzen, sprich, aus dem Kino zu scheuchen. Wer CLIMAX aber nur darauf reduziert, verkennt, dass beides, technisch-ästhetische Faktoren sowie die Handlung mit all ihren philosophischen, politischen, gesellschaftskritischen Implikationen nicht zwei Seiten derselben Medaille sind, sondern ein und dieselbe Medaille, deren beide Hälften untrennbar aneinanderkleben.

6. Bataille ist das Stichwort. Ich hätte natürlich auch irgendeinen beliebig anderen Titel der Filme und Bücher zum Stichwort ummünzen können. Aber mit Bataille habe ich mich die letzten Jahre immer mal wieder ausführlich beschäftigt. Außerdem ist er wohl derjenige der von Noé aufgeführten Autoren, deren literarisches und theoretisches Werk sich am leichtesten mit CLIMAX kurzschließen lässt. Geboren 1897, gestorben 1962. Hauptberuflich Bibliothekar und Archivar. Quasi nebenbei schreibt er eins der eigenwilligsten Werke der französischen Literaturgeschichte. Sexualität, Tod, mystische Erfahrung, transzendentaler Rausch. Wir sind alle diskontinuierliche Wesen per se, schreibt er in „Die Erotik“, und allein eine Kontinuität zu unserer Umwelt herstellen können transgressive Momente wie Orgasmen, Tod, oder aber auch das Betrachten von Gewalt und Grausamkeit, die an Menschen vollzogen werden, die nicht wir selber sind. Opferriten, Initiationsriten, Gegenentwürfe zur kapitalistischen Akkumulationsgesellschaft unter dem Banner eines Lobes der Verschwendung. In den archaischen Gesellschaften, die Bataille untersucht, funktionieren Praktiken wie Kannibalismus, orgiastische Feste, rituelles Töten systemstabilisierend. Ein ausgeklügeltes Normen- und Regelwerk schreibt vor, wann welcher transgressiver Akt vonnöten ist, wann welches Tabu eingehalten werden muss, wann es ausnahmsweise übertreten werden darf. Selbst der kollektive Rausch ist normiert. Im Frankreich des Jahres 1996 laufen solche unfreiwilligen Grenzzustände der Gruppe, die Noé untersucht, völlig aus dem Ruder, sprich, in eine diametral entgegengesetzte Richtung: In einer Gesellschaft, die, wie Bataille schreibt, ihre Transgressionen unter gutbürgerlichen Deckmäntelchen versteckt, sogar Orte wie das Schlacht- oder Leichenhaus als verfemt brandmarkt, und die Verschwendung (sexueller) Energie höchstens im Privaten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vollzieht, kann der Moment, in dem die Schleusen geöffnet werden, eigentlich nur zu Desorganisation, willkürlicher Gewalt, Chaos führen: Die animalischen Triebe, einst in präzisen Zeremoniellen organisiert und kanalisiert, brechen sich zügellos Bahn. Zwar funktioniert der Exzess in CLIMAX zunächst noch systemstabilisierend, indem erstmal alle Elemente der Alterität aus der Gemeinschaft exkludiert werden: Die Mutter sperrt, ahnend, dass das nicht gut ausgehen wird, ihr Kind in die Stromversorgungskabine. Der Muslim wird, da er nicht von der Bowle getrunken hat, und also möglicherweise der Brunnenvergifter ist, nach draußen, in eine feindliche Schneelandschaft, geschmissen, wo er jämmerlich erfriert. Auch eine Schwangere, die aus verständlichen Gründen ebenfalls den Sangria nicht anrühren will, wird zu autodestruktivem Verhalten getrieben, und schließlich genauso vor die Tür gesetzt. Dann aber richten sich sexuelle Freizügigkeit, Aggression, Todestrieb gegen alles und jeden, ohne System, ohne Grund. Noés Menschenbild ist nicht so sehr menschenverachtend, wie ich in einer Kritik zu CLIMAX kürzlich gelesen habe. Es wirkt eher so, dass er, wie Bataille, einem menschlichen Zustand hinterhertrauert, in dem der Exzess als ernstzunehmender ökonomischer Faktor betrachtet wurde, und dass er das Kino – das heißt: sein Kino – als einen der letzten Zufluchtsorte versteht, an denen noch nach aller Herzens Lust, und unter Einsatz ungezügelter Leiblichkeit, jene Schwelle überschritten werden darf, über die der Alltagsmensch nur dann zufällig stolpert, wenn man ihm einmal einen Drogencocktail heimlich untermischt.

7. Nichtdestotrotz muss man CLIMAX im Vergleich mit Noés bisherigen Oeuvre konstatieren, dass er – vielleicht einmal abgesehen von obskureren Frühwerken wie TINTARELLA DI LUNA – sein bislang auf graphischer Ebene zahmster Film ist: Keine erigierten Geschlechtsteile, kein Eintauchen der Kamera in Uteri und Fehlgeburten, keine Köpfe, die von Feuerlöschern zerstampft werden. Oftmals wendet sich die Kamera, wenn das Treiben heftiger wird, zur Seite, und überlasst die Antwort auf die Frage, wie der jeweilige Konflikt denn nun enden mag, der Vorstellungskraft seiner Zuschauer. Der Intensität tut das indes keinen Abbruch, im Gegenteil: Die schrillen Schreie, die im letzten Drittel fortwährend aus verschlossenen Zimmern an die Ohren desjenigen oder derjenigen, dem oder der die Kamera gerade wie ein Schatten folgt, dringen – und damit an unsere – verwandeln, neben dem gefahrroten Farbstrich, den der Film sukzessive einnimmt, die Schulhalle und ihre angrenzenden Räume zunehmend in eine waschechte Höllenvision, aus der ich immer noch nicht ganz aufgewacht bin, und, mir die Augen reibend und mit benebeltem Kopf, vor mich hinmurmele, dass sie, wie das "Rektum" in IRREVERSIBLE, wie das Schlachthaus in CARNE, das 21.-Jahrhundert-Äquivalent zu den infernalischen Landschaften eines Breughels oder Hieronymus Bosch sein könnten.

Der Zug erreicht den Hauptbahnhof. Es ist ein Uhr nachts. Ein leiser Nieselregen fällt. Ich laufe heim, nass bis auf die Knochen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Gribiche

Produktionsland: Frankreich 1925

Regie: Jacques Feyder

Darsteller: Jean Forest, Cécile Guyon, Rolla Norman, Françoise Rosay, Maurice Soufflot:
Wenn deutsche Verleihtitelverleiher ihrer Kreativität freien Lauf lassen, kommen ja häufig Stilblüten zustande, die mit dem zugrundeliegenden Film wenig bis gar nichts zu tun haben. Mein liebstes Beispiel wird wohl nach wie vor SEXUAL-TERROR DER ENTFESSELTEN VAMPIRE bleiben, zu dem man seinerzeit zwecks deutscher Kinoveröffentlichung Jean Rollins weder wirklich entfesselten noch auch nur ansatzweise terroristischen LE FRISSON DES VAMPIRES umgemünzt hat. Auch bei Jacques Feyders stummem Kinderdrama GRIBICHE bin ich zuallererst geneigt, entrüstet den Kopf zu schütteln. Gribiche, das ist in der französischen Küche eine säuerlich-pikante Sauce mit viel Eigelb und ein paar Gurken, die man gemeinhin zu Kalbsköpfen oder Sülze serviert. Gribiche, so heißt aber auch der minderjährige Held vorliegenden Films, ein Arbeiterjunge, der sich zu Beginn vor die Entscheidung gestellt sieht: Gebe ich das pralle Portemonnaie, das einer betuchten Dame im Kaufhaus aus der Tasche gepurzelt ist, der rechtmäßigen Besitzerin zurück, oder stecke ich es schnell ein, und suche das Weite? Im Deutschen ist GRIBICHE offenbar unter dem Namen HEIMWEH NACH DER GASSE erschienen – und, kurioserweise, passt der Titel nun doch einmal genauso perfekt zu vorliegendem Film wie eine Sauce gribiche zu kaltem Fisch oder Schalentieren.

Einer der schönsten Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe, ist wohl Feyders VISAGES D’ENFANTS gewesen. Das Melodram um zwei Geschwister, die nach dem Tod der Mutter bei ihrem Vater in einem Alpendorf aufwachsen, und alsbald eine Schwiegermutter nebst Stiefschwester vorgesetzt bekommen, mit denen warm zu werden es ihnen einfach nicht gelingen mag, hat mich nicht nur aufgrund seiner atemberaubenden Landschaftsaufnahmen, seinen stellenweisen virtuosen Kameraperspektiven und Montage-Tricks und dem herzerwärmenden, zutiefst menschlichen und unaufgeregt realistischem Plot entzückt, sondern vor allem weil Feyder seinen einstmals verkannten und erst später zum Meisterwerk gekürten Film konsequent aus dem Blickwinkel seines Helden, dem Buben Jean, erzählt. Lange bevor irgendeiner der Erwachsenen eine Großaufnahme geschenkt kriegt, haben wir uns bereits an das Gesicht des kleinen Jeans gewöhnt, dessen Augen allein uns die nachfolgende Geschichte erzählen. Der Darsteller Jeans heißt ebenfalls Jean – Jean Forest, um genau zu sein – und es ist nicht sein erster Auftritt in einem Film Feyders: Bereits zuvor hat er in der von mir bislang nicht gesichteten Anatole-France-Verfilmung CRAINQUEBILLE eine Nebenrolle gespielt. Es wird allerdings auch nicht seine letzte Rolle in einem Film Feyders bleiben: Zwei Jahre nach VISAGES D’ENFANTS sehen wir ihn in GRIBICHE wieder, wo er zunächst zögernd mit der geblähten Geldbörse einer reichen Amerikanerin in den Händen dasteht, sich dann aber doch ein Herz fasst, und Madame Marnet (gespielt von Feyders Ehefrau Francoise Rosay) hinterhereilt, um sie noch zu erreichen, bevor sie in ihrer Droschke davonfährt. Der Moment, in dem sie ihr Hab und Gut von ihm empfängt, und der brave Bub sich sogar weigert, einen Finderlohn entgegenzunehmen, entscheidet über seine nächsten Monate: Verzückt von Jeans engelsgleichem Wesen unterbreitet Madame Marnet seiner Mutter, der Kriegswitwe Berlot, das Angebot, ihren Sohn zu adoptieren, und in ihrem luxuriösen Palais eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen, die ihn dazu prädestinieren soll, später einmal ein Leben fernab der ärmlichen elterlichen Unterkunft führen zu können. Obwohl Jean nichts ferner liegt, als den mütterlichen Herd zu verlassen, gibt es doch triftige Gründe, die ihn seine Mama dazu überreden lassen, auf Madame Marnets Vorschlag einzugehen: Zufällig hat er mitbekommen, wie der Vorarbeiter Philippe seiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht hat – und der Junge redet sich ein, er würde dem Glück der Mama im Wege stehen, wenn er nicht in die feine Welt der Marnet überwechsle, oder aber er sei, was nicht stimmt, dem Stiefpapa sowieso ein Dorn im Auge. Schweren Herzens nimmt die Witwe Berlot von ihrem Sprössling Abschied; nur einmal die Woche, sonntags, soll er sie regelmäßig besuchen kommen. Schweren Herzens fährt Jean in sein neues Leben – und traut sich kaum, die französische Bulldogge, die Madame Marnet als Schoßhündchen Schritt auf Tritt folgt, auch nur mit einer Fingerspitze zu berühren.

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Für GRIBICHE hat Feyder die schneebedeckten Hänge, die Lawinen, die Gipfelkreuze, die sich in Schluchten schmiegenden Bergdörfer aus VISAGES D’ENFANTS gegen das großstädtische Paris eingetauscht, was dem Film naturgemäß einige der Schauwerte raubt, die seinen unmittelbaren Vorgänger für mich auf visueller Ebene so sehr ausgezeichnet haben. Andererseits schafft es der auf einer Erzählung Frédéric Bouets beruhende Film nichtsdestotrotz, gerade aus der Dichotomie zwischen der eher dürftig eingerichteten Behausung von Jeans Mutter und dem Überfluss in der Stadtvilla der Marnet eine konstante Spannung zu ziehen – zumal die Inszenierung erneut, wie schon bei VISAGES D’ENFANTS, auf allzu grelle, allzu dramatische Töne verzichtet, und sich viel eher auf das tadellose Spiel der Darsteller – und hierbei vor allem natürlich auf das des damals dreizehnjährigen Jean Forest – fokussiert. GRIBICHE ist erneut kein lauter Film geworden – man könnte ihn vielmehr als beinahe introvertiert bezeichnen –, und, trotz der Klassenthematik, schon gar kein pessimistischer. Subtil streut Feyder ein paar Splitter Gesellschaftssatire ein, wenn Jean von seiner Adoptivmutter beispielweise in einen mathematisch exakt kalkulierten Zeitplan eingespannt wird, der ihm im Viertelstundentakt ab 7 Uhr morgens vom Boxtraining über Geographieunterricht bis hin zu genau terminierten Spaziergängen kaum einmal Zeit zum Luftholen lässt. Genauso fehlen aber eher schmerzhafte Momente nicht, wenn zum Beispiel Madame Marnet einer Runde befreundeter Damen aus der Oberschicht ihren frischgewonnen Zögling wie ein dressiertes Äffchen vorführt. Wie schon in VISAGES D’ENFANTS hat das ebenfalls aus der Feder Feyders stammende Drehbuch kein Interesse an plakativen Schwarzweißzeichnungen: Weder die finanziell wenig gepolsterte Lebens- und Wohnsituation der Witwe Berlot wird wahlweise idealisiert oder degradiert noch das opulente Treiben im Palast der Marnet – und selbst wenn sich am Ende, erneut wie schon in VISAGES D’ENFANTS, alles zum Guten fügt, habe zumindest ich nicht das Gefühl, keine ausgewogene Mischung aus bitteren Pillen und Zuckerstückchen in den Mund gesteckt bekommen zu haben.

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Besonders ergötzt hat mich indes freilich die bereits erwähnte französische Bulldogge, die wie ein Bindeglied zwischen den beiden Welten fungiert, zwischen denen sich GRIBICHE's Handlung spannt. Madame Marnets Hündchen stellt eine Mischung aus Natur und Kultur dar, die einerseits auf Kommando Purzelbäume schlagen kann, domestiziert und überzüchtet ist, und andererseits dennoch ihren Urinstinkten folgt. Vor allem aber ruft das Tier bei den Angehörigen verschiedener Gesellschaftsschichten unterschiedliche Reaktionen hervor: Die Lausbuben in den Armenviertel strecken dem Hündchen die Zunge raus, machen sich über es lustig, ziehen Grimassen vor dem Fenster der Luxuskarosse, in der es auf seine Herrin wartet. Jean wiederum ängstigt oder ekelt sich zunächst vor dem Tier, bevor er in einer Szene seinem eigenen Gefühl, in einem goldenen Käfig eingepfercht worden zu sein, dadurch Ausdruck verleiht, dass er die Bulldogge zu immer tolleren Luftsprüngen dirigiert. Madame Marnet letztlich scheint in dem Kurzschnauzer so etwas wie einen Kinderersatz zu erblicken: Sie hätschelt und tätschelt das Tier wie sie nur kann, und stopft es gar in hübsche Kleidchen. Für eine umfassende Arbeit zur Kulturgeschichte von Schoßhunden im Kino wäre GRIBICHE demnach genauso geeignetes Fressen wie für jeden Cineasten, der sich einmal nach einem Film sehnt, dessen Effekt ich nur als den schlichter Schönheit bezeichnen kann.

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Eine Frage bleibt: Wieso scheint Jacques Feyder offenbar selbst unter Stummfilm-Aficionados noch immer den Rang eines Geheimtipps zu haben!?
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Poil de carotte

Produktionsland: Frankreich 1932

Regie: Julien Duvivier

Darsteller: Robert Lynen, Harry Baur, Catherine Fonteney, Louis Gauthier, Simone Aubry, Maxime Fromiot
Nun endlich, nachdem das neue Jahr bereits mehr als sechs Wochen auf dem Buckel hat, bin ich zum ersten Mal in ihm von einem Film zu Tränen gerührt worden. Wie kam es dazu?

Zunächst stelle ich fest, nachdem ich kürzlich GRIBICHE von Jacques Feyder gesichtet hatte, dass der französische Regisseur, der in meiner persönlichen Filmgeschichte für alle Zeiten ein Denkmal für VISAGES D’ENFANTS besitzen wird, im gleichen Jahr 1925, in dem sein Meisterwerk erschienen ist, - (gedreht wurde VISAGES D’ENFANTS freilich bereits 1923) –, an einem weiteren Projekt mitgearbeitet hat, das seine Geschichte ebenfalls konsequent aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen versucht. POIL DE CAROTTE basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jules Renard aus dem Jahre 1894, in dem episodenhaft die Leidensgeschichte des titelgebenden Karottenkopfs nachgezeichnet wird, einem rothaarigen, sommerbesprotten Buben namens Francois Lepic, der in einer desolaten Familie des Fin-de-siécle-Bürgertums aufwächst, und dort nicht das Geringste zu lachen hat: Sein Vater interessiert sich kaum für die Kinder, vertreibt sich die Tage lieber auf der Jagd und seiner laufenden Bürgermeisterkandidatur der kleinen ; seine Mutter ist eine bitterböse Frau, die die Dornen ihrer missglückten Ehe vor allem am jüngsten Sohn ausagiert, indem sie ihn aschenputtelgleich zu allen erdenklichen Haushaltsaufgaben verdonnert, ihn körperlich und seelisch misshandelt, und niemals auch nur ein nettes Wort oder eine liebevolle Geste für ihn übrig hat; seine Geschwister sind trotzige, verwöhnte Geschöpfe, die Tochter eitel und egoistisch über alle Maßen, und Mamas Liebling Felix vorrangig an den Rockzipfeln junger Damen interessiert, von denen er sich ausnehmen lässt wie eine Weihnachtsgans, weshalb seine Langfinger sich auch schon mal in den mütterlichen Geldbörsen verirren. Erst als Poil de Carotte, wie Francois eher beleidigend denn schmeichelhaft gerufen wird, einen Selbstmordversuch unternimmt, begreift sein Vater, wie sehr sein Sohn unter der familiären Situation leidet…

Für die Verfilmung von 1925 hat Feyder nicht den Regiestuhl übernommen – auf diesem sitzt Julien Duvivier -, sondern lediglich am Drehbuch mitgewirkt, und vielleicht ist es auch damit zu erklären, dass POIL DE CAROTTE gerade im Vergleich mit VISAGES D’ENFANTS, aber auch GRIBICHE doch einige künstlerische Abstriche hinnehmen muss: Statt dem poetischen Realismus von Feyders Film dominieren bei Duvivier eher groteske, satirische Töne, die die immanente Dramatik der Geschichte erst weit im letzten Drittel überhaupt sichtbar zutage treten lassen. Nicht dass Duvivier den Film nicht kompetent inszeniert hätte, oder dass die Darsteller, gerade André Heuzé als Rotfuchs, nicht die nötige Balance aus Zurückhaltung und Expressivität finden, oder ihren Figuren nicht ausreichend Leben einhauchen würden – dennoch hat mich der Film derart kaltgelassen, dass ich ihn im Grunde nicht anders betrachten konnte als mit dem Blick des Filmwissenschaftlers, der darüber nachdenkt, wann welche Montageentscheidung geworden wurde, weshalb wann eine Großaufnahme Verwendung fand, wie genau die Lichtsetzung in welcher Szene funktioniert usw. Verantwortlich ist hierfür vor allen Dingen wohl eine Regieentscheidung, die ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann: Die grausame Über-Mutter, die Poil de Carotte zu jeder sich bietenden Gelegenheit demütigt und züchtigt, wird zwar von einer Frau gespielt – und zwar von Charlotte Barbier-Krauss, außerhalb der Leinwand die tatsächliche Gattin des Vater-Darstellers Henry Krauss –, doch das musste ich erst einmal nachprüfen, denn man hat alles dafür getan, die gute Dame physiognomisch wie einen Mann wirken zu lassen. Konkret hat Duvivier ihr einen exorbitanten Oberlippenbart verpasst, der zumindest mich wirklich für eine Weile daran zweifeln ließ, ob man für die Rolle nicht tatsächlich einen männlichen Schauspieler verpflichtet haben sollte. Letztlich ist das aber völlig egal: Poil de Carotte’s Mutter sieht aus wie ein Mann, tritt auf wie ein Mann, trägt sogar einen Bart. Welcher Teufel Duviver und sein Team bei dieser Idee auch geritten haben mag, für mich ist das ein Ritt in plakative Gefilde, die mir in jeder italienischen Trash-Kanone niemals den Filmgenuss vergällt hätten, mir bei einer ernsten Thematik wie der in POIL DE CAROTTE dann aber doch ziemlich sauer aufgestoßen sind.

POIL DE CAROTTE von 1925 ist demnach sicherlich nicht der erste Film 2019 gewesen, der mich zu Tränen rührte – (es sei denn zu Tränen der Verzweiflung, weil es mir einfach nicht in den Kopf will, wie man der weiblichen Hauptdarstellerin solch einen hässlichen Schnauzer ankleben konnte.) Dennoch ist POIL DE CAROTTE derjenige Film gewesen, der mich letzte Woche in seinem Schlussteil unvermittelt zu Tränen rührte. Allerdings die Adaption von 1932, ohne Beteiligung Feyders, inszeniert jedoch erneut von Julien Duviver, die den (sich wiederum dicht an die Vorlage Renards haltenden) Vorgängerfilm teilweise bis in Details kopiert. Warum nimmt mich der eine denn dann so mit, und der andere überhaupt nicht, wenn sich beide Filme so ähnlich sind?

Irgendwo meine ich einmal gelesen zu haben, dass Duvivier einer der wenigen bereits im Stummfilm tätigen Regisseure gewesen sein soll, die den Tonfilm mit offenen Armen begrüßt haben. Wenn man sich sein Remake von POIL DE CAROTTE anschaut, und es seiner eigenen 25er Verfilmung des Stoffs entgegenhält, besteht eigentlich gar kein Zweifel mehr an der Richtigkeit dieser Behauptung. Was sieben Jahre zuvor noch wirkte wie das Leben fremdartiger Insekten unter dem objektiv-nüchternen Teleskop eines Wissenschaftlers, der zwar fasziniert, aber nicht emotional engagiert von dem bunten Treiben in seinem Schaukasten ist, besitzt auf einmal genau – beinahe wäre ich pathetisch geworden, und hätte geschrieben: die Wahrheit – die Vitalität, die vonnöten ist, um einen Zuschauer (wie mich) vollkommen in die Geschichte einzuwickeln.

Ich muss gestehen, anfangs war ich noch skeptisch. POIL DE CAROTTE beginnt genauso überdreht und betont heiter wie das Original von 1925 – wenn nicht sogar noch überdrehter. Robert Lynen, der den Titelhelden im Jahre 1932 verkörpert, ist ein hagerer, schlaksiger Junge, dem man während seiner ersten Auftritte mindestens ein ausgeprägtes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu unterstellen versucht ist. Er lacht sich halbtot, wenn seine Eltern sich in die Haare kriegen; er nimmt jede drakonische und unverdiente Strafe der Mutter mit einem lockeren Spruch hin; er schäkert mit dem neuen Hausmädchen Anette, als ob es kein Morgen gäbe. Bald schon wird einem bewusst: All dieses affektierte, quirlige Gebaren ist reiner Selbstschutz, ein Panzer, den Frederic Lepic sich hat wachsen lassen, um seine triste, tragische Existenz überhaupt ertragen zu können. Nachts, allein in seinem Dachstubenbett, bricht sein wahres Gesicht hervor – und zwar in Gestalt von Doppelgängern seiner selbst, die ihm vom Schlafen abhalten. Niemand liebt Dich!, bläut ihm der eine ein. Der andere zählt ihm die verschiedenen Möglichkeiten auf, wie er sich das Leben nehmen könne. Aber der Fluss, der ist doch eiskalt!, wendet unser Held ein. Dann tunke Deinen Kopf eben so lange wie möglich in einen Eimer voller Wasser; daran stirbt man auch!, rät ihm sein Doppelgänger. Diese Szene ist nur eins von mehreren Beispielen, in denen Duvivier den Spagat zwischen bitterer Komik und humorvoller Tragik mit Bravour schafft: Auf gewisse Weise besitzt sie das Potential, einen zu amüsieren, zugleich hat man das Gefühl, nie etwas Trauriges gesehen zu haben. Im Original von 1925 ist Poil de Carotte übrigens in seinen Alpträumen einfach nur die Mama (mit Oberlippenbart!) erschienen, wie sie ihm – per Spiegeltricks und Mehrfachbelichtung ins Unendliche vervielfacht - die Leviten liest.

Ähnlich famos ist ein kleiner Ausbruch, den Francois sich aus seinem grauen Alltag erlaubt, wenn er mit seinem Patenonkel und seiner kleinen Freundin Mathilde durch die Naturidyllen außerhalb des Dorfes streunt. Die Kinder setzen sich gegenseitig Blumenkränze auf, spielen Hochzeit. Der Patenonkel, (von dem zumindest ich bis zuletzt nicht begriffen habe, ob er wirklich ein Verwandter der Lepics ist, oder einfach nur ein Freund der Familie), stimmt derweil ein Volkslied an, dessen pastorale Stimmung der Montage dirigiert, was sie in der nächsten Minute an Bilder aneinanderzureihen hat: Da sind Kühe auf der Weide, an die die Kamera dicht heranführt, und eine Kolonne Enten als Brautjungfern, und munter umhertollende Ferkelchen, weitere lyrische, mit die Bilder verschwommen und verwaschen, nahezu traumgleich wirken lassenden Kameralinsen bewerkstelligte Aufnahmen von Flora und Fauna, die nicht nur in deutlichem Kontrast zum dumpfen, von ehelichen und geschwisterlichen Konflikten regelrecht kontaminierten Bürgerhaus stehen, in dem Poil de Carotte seine Tage fristet, sondern auch als Nussschalenbeispiel dafür herhalten könnten, was der Filmhistoriker meint, wenn er vom Poetischen Realismus im französischen Kino der 30er spricht. Im Original von 1925 fehlt diese Szene (und überhaupt die Figur des Paten) vollkommen, und auch derartige lyrische Einsprengsel habe zumindest ich nirgends auffinden können – stattdessen aber den deplatziertesten falschen Schnauzer der mir bekannten Filmgeschichte.

Was Duvivier auf jeden Fall versteht – und wobei ihm der Ton zupasskommt –, das ist, seine erneut exzellenten Schauspieler - (begeistert bin ich vor allem von Harry Baur als Monsieur Lepic) – mittels feiner Nuancen in ihren Dialogen mehr über ihr Seelenleben auszusagen als das jeder elaborierte Monolog (oder, was das betrifft, jede plakative Requisite wie ein angeklebter Bart) vermocht hätten. Sicherlich, die Mutter von Francois benimmt sich, verkörpert von Catherine Fonteney, im 32er Remake wie eine exaltierte Schmierenkomödiantin, die jede Fliege zum Elefanten aufbauscht, und das gesamte Register von unbeugsamer Härte ihrem Sohn gegenüber, aber auch Krokodiltränen weinender Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs beherrscht, und wenn im Hause Lepic der Segen desselben schiefhängt, dann äußert sich das durchaus auch mal in enervierendem Geschrei und Gezeter. Worin POIL DE CAROTTE jedoch tatsächlich brilliert und berührt, das sind seine stillen Töne, die beiläufigen Geste, die subtilen Botschaften, die in leicht dahingesagten Sätzen mitschwingen. Das gesamte Finale ist dafür ein Paradebeispiel: Francois Vater beginnt allmählich zu begreifen, wie schlecht es um seinen Sohn steht, und setzt sich entgegen seiner Gattin für ihn ein, verspricht ihm gar, dass er ihn abends zur Bürgermeisterwahl begleiten dürfe. Die Mutter lässt sich ihre Autorität freilich nicht gerne untergraben, und sperrt Poil de Carotte zur Strafe in sein Zimmer ein. Als Anette ihn zu befreien versucht, ist dieses jedoch bereits leer: Unser Held hat sich abgeseilt, um mit seinem Papa in der Dorfschenke die erfolgreich bestandene Bürgermeisterwahl zu feiern. Der Vater jedoch ist abgelenkt von all den Verlockungen, die ihm sein neues Amt bieten – vor allem, dass just am gleichen Abend eine Hochzeit stattfindet, und er als Schultheiß das Vorrecht besitzt, als Erster mit der Braut zu tanzen. Als Francois ihm am Rock zupft, weist er den Sohn kühl ab: Er habe nun wirklich keine Zeit für ihn. Anders gesagt: Francois Vater verfällt genau in die Gleichgültigkeit zurück, die er seinem jüngsten Sohn gegenüber Jahre schon an den Tag legte. Poil de Carotte ist verständlicherweise am Boden zerstört. Nein, mehr noch: Nun, wo ihm die Hoffnung regelrecht zerstampft worden ist, im Vater einen Freund und Verbündeten gegen die Mutter gefunden zu haben, schwindet ihm endgültig der Lebensmut. Mit einem Strick zieht er zum Heuschober hin, vertraut sich unterwegs nur der kleinen Mathilde an. Als die Nachricht von Francois‘ geplantem Suizid seinen Vater erreicht, reißt dies ihn erstmals aus seiner üblichen Lethargie. Gerade noch rechtzeitig kann er seinen Sohn vom Äußersten abhalten.

Diese Sequenz, die im Film das gesamte letzte Drittel ausmacht, ist hervorragend montiert, beseelt von einer Dramaturgie, die jedem Thriller gut zu Gesicht stehen würde, und dabei so geerdet, betont unaufgeregt, beinahe schüchtern in ihrer Inszenierung, dass ich nur staunen kann. Noch mehr staune ich jedoch darüber, was der abschließende Dialog zwischen Vater und Sohn in mir ausgelöst hat: Man spaziert gemeinsam über Felder. Endlich, nach so vielen Jahren, schütten die beiden einander ihre Herzen aus. Du hast ja nie gesagt, wie unglücklich Du gewesen bist, wenn wir jagen gewesen sind, sagt der Vater zerknirscht. Du hast ja noch viel weniger gesagt! Nein, Du hast überhaupt nie mit mir gesprochen!, erwidert Poil de Carotte. Diesen Namen legt er am Ende dann ab. Das ist ein Schimpfwort, das die Mutter sich für ihn ausgedacht hat. Ab nun bist Du Francois!, verspricht der Vater ihm. Man umarmt sich. Die Kamera fährt an Kuhherden vorbei, zeigt uns in Großaufnahme die Schönheit von Schilf, das in einem leichten Windgang schaukelt. Unser Held sieht endlos glücklich aus. Fin – und der Film ist sogar klug genug, seinen versöhnlichen Ausgang über alle Gebühr zur Schau stellen: Für einen Moment, als Vater und Sohn sich am Tisch einer Schenke zuprosten, sind sie in einem Pakt vereint, den sie gegen die Schikanen der Mutter geschmiedet haben – doch, inwieweit dieser Pakt Bestand haben, und ob sich die Lage im Hause Lepic wirklich zum Besseren ändern wird, das verschweigt der Film uns mit dem Taktgefühl von jemandem, der eine gute Nachricht nicht durch unnötigen Kitsch entstellt will. Mir sind derweil die Augen feucht geworden.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Sans Soleil

Produktionsland: Frankreich 1983

Regie: Chris Marker

In einem japanischen Tempel betet ein Ehepaar im Angesicht zahlloser Katzenstatuetten dafür, dass ihrer entlaufenen Mieze namens Tora kein Leid geschehe. Ebenfalls in Japan kann man ein eigenwilliges Etablissement besuchen: Eine Mischung aus religiöser Stätte, Sex-Shop und Museum. In der einen sind überdimensionale Penisse und Vulven ausgestellt, in die die Besucher Geldstückchen als Opfergabe fallenlassen, im andern können sie sich mit extravagantem Spielzeug für die schönen Stunden zu Zweit versorgen, in letzterem hat man die Geschlechtsteile ausgestopfter Tiere wie Zebras und Äffchen miteinander in teilweise abenteuerlichen Posen verschränkt. Auf Island erwacht ein Vulkan aus jahrhundertelangem Schlaf, während die afrikanische Savanne aufgrund einer anhaltenden Trockenzeit von ausgedorrten Tierkadavern gespickt ist.

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Wer bei diesen knappen Schlaglichtern auf den 1984 erschienenen Film SANS SOLEIL auf die Idee kommt, es könne sich um einen späten Nachzügler des Mondo-Booms handeln, der bewegt sich eigentlich auf gar nicht allzu glattem Eis. Obwohl ich mir sicher bin, dass der französische Regisseur Chris Marker, dessen bekanntester Werk wohl der nahezu ausschließlich aus Photographien kompilierte Science-Fiction-Kurzfilm LA JETÉE von 1963 sein dürfte, alles im Sinn hatte, nur nicht, Jacopetti und Prosperi seine Referenz zu erweisen, sind die Gemeinsamkeiten zwischen seinem elaborierten Bild-Essay, und deren Streifzüge auf der Suche nach Kuriositäten rund um den Globus kaum von der Hand zu weisen.

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Ich glaube, es war in einer Kritik zu Godfrey Reggios nahezu zeitgleich erschienenem KOYAANISQATSI (1983), (oder möglicherweise auch zu Ron Frickes BARAKA (1992)), dass ich auf die Bezeichnung „New Age Mondo“ gestoßen bin. Obwohl ich den Terminus nun nicht für unbedingt wirklich passend halte, ist die Idee dahinter doch eine, die ich teilweise nachvollziehen kann: Nach der Hochphase des Mondo-Kinos in den 60ern und 70ern zerfasert es in zwei Adern, von denen die eine stark pulsiert, und die andere einen eher schmächtigen Eindruck erweckt. Erstere führt zu FACES OF DEATH, zu FACES OF GORE, zu Schock-Seiten im Internet, letztere führt zu meditativen, nicht durch schockierende Inhalte, sondern visuelle Opulenz überwältigende Filmen wie den erwähnten von Reggio oder Fricke.

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SANS SOLEIL besteht größtenteils aus Aufnahmen, die Chris Marker in den 70ern vor allem in Guinea-Bissau und Japan, aber auch auf Island oder den USA geschossen hat. Hinzukommen Archivaufnahmen, beispielweise von einer Giraffe, die Großwildjägern zum Opfer fällt – (übrigens die einzige wirklich graphische Szene des Films) –, oder aus japanischen Spielfilmen und Nachrichten-Berichten, die Marker von Fernsehschirmen abgefilmt hat. Der Name des Regisseurs taucht einzig im Abspann beiläufig auf. Er habe das Material zusammengestellt, nicht mehr, nicht weniger. Präsentiert wird SANS SOLEIL von einer weiblichen Erzählerin, die vorgibt, Briefe zu paraphrasieren oder auch wortgetreu vorzulesen, die ihr der Photograph Sandor Krasna über Jahre hinweg geschickt haben soll. Krasna ist natürlich eine fiktive Figur, hinter der sich Marker selbst verbirgt. Auch die Dinge, über die Krasna in seinen ebenso fiktiven Briefen reflektiert und philosophiert, dürften mit denen identisch sein, die Marker selbst über die Jahre hinweg beschäftigt haben.

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Was die Dame aus dem Off rezitiert, das wirkt wie Tagebucheinträge, unsystematisch, momenthaft, und einzig durch den roten Faden der Frage verbunden, wie menschliche Erinnerung funktioniert, wie voller Fallstricke unser Gedächtnis ist, und wie verzweifelt man wird, sobald diese Fallstricke sich einem ins Bewusstsein drängen, und man das Funktionieren oder besser Nicht-Funktionieren der eigenen Erinnerung permanent beim Stottern beobachten muss. Marker philosophiert über den Videospiel-Kultur, der in Japan bereits tiefe Wurzeln geschlagen hat, oder über Alfred Hitchcocks VERTIGO, dessen Originalschauplätze er in San Francisco aufsucht, oder über einen Blick, den ihm für den Bruchteil einer Sekunde eine Frau auf einem afrikanischen Markt zuwirft, die dabei so tut, als habe sie die auf sie gerichtete Kamera nicht bemerkt, und schaue nur zufällig in deren Richtung. Marker erzählt uns die Geschichte vom treusten Hund der Welt, Hachiko, der noch zu Lebzeiten an der Bahnhofsstation, wo er sein Leben lang auf sein längst verstorbenes Herrchen wartete, eine Statute errichtet bekommen hat, oder von den Gefühlen, die er nun, Anfang der 80er, der 68er-Bewegung gegenüber hegt, von der er selbst ein aktiver Teil gewesen ist, oder von einem Computertechniker namens Haya Yamaneko, der eine alternative Realität erfunden hat, die er – als Reminiszenz an Tarkowskijs STALKER – schlicht die „Zone“ nennt: Dort kann er Bilder einspeisen – von Emus im Zoo auf der Ile de France zum Beispiel, oder von japanischen Kamikazepiloten –, und sie werden digital zu bunten, fasrigen Schlieren transformiert, die nur bei eingehendem Studium noch Ähnlichkeit zu ihrem Ausgangsmaterial aufweisen. Währenddessen sind die Hunde Sandor Krasnas aka Chris Markers bei einem Strandspaziergang ganz aufgeregt: Kein Wunder, denn laut japanischem Kalender treffen in diesem Jahr die Zeichen von Hund und Wasser erstmals nach einer Ewigkeit wieder aufeinander. Mit schöner Regelmäßigkeit kommt Krasna immer wieder auf einen Science-Fiction-Film zu sprechen, den er immer hatte drehen wollen: Er soll SANS SOLEIL heißen, nach dem Liederzyklus von Mussorgsky, und er soll mit einem Bild beginnen, das ihm auf Island begegnet ist: Drei Mädchen auf einer Wiese, die langsam in einiger Entfernung an der Kamera vorbeilaufen, und sich halb kritisch, halb neugierig zu ihr umwenden. Ein Außerirdischer betritt unseren Planeten. Zwischen zwei seiner Schritte vergehen Jahre. Aber, erklären Sandor Krasna und Chris Marker im gleichen Atemzug, dieser Film, der wird sowieso niemals gedreht werden.

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Wo Godfrey Reggio und Ron Fricke sich eines Off-Kommentars vollends entledigen, und den jeweiligen Soundtrack von Philipp Glass und Michael Stearns zum eigentlichen Sprecher erheben, der uns bei der Hand nimmt, und durch die assoziative Bilderflut leitet, wählt Marker den Weg der semantischen Überfülle: Man mag das prätentiös finden, diesen endlosen Strom an Wörter, von denen manche hängenbleiben, andere an einem vorbeiziehen, ohne dass man ihren Sinn richtig zu fassen kriegt, weil sie zu esoterisch und zu kryptisch daherkommen. Eine dritte Gruppe fällt jedoch, gerade wenn sie ungewöhnliche Liaisons mit den Bildern eingehen, mir mitten hinein ins Herz: Schlafende Menschen in der völlig überfüllten Tokioer U-Bahn, und ihre Träume, ein riesiges Archiv an visuellen Fetzen. Dann die Treppe, die zur U-Bahn hinabführt, als langes, breites Instrument: Jeder Schritt ein Ton. Der Blick einer jungen Frau, nur für eine Millisekunde, direkt in die Kamera, so tuend, als sei das Kreuzen von Linse und Auge bloßer Zufall. Markers Lieblingstiere, die Katze und die Eule, wie sie eingespeist werden in Yamanekos Paralleluniversum: „In that moment poetry will be made by everyone, and there will be emus in the zone.“
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Zir-e Sayeh

Produktionsland: Großbritannien / Jordanien / Katar 2016

Regie: Babak Anvari

Darsteller: Narges Rashidi, Avin Manshadi, Bobby Naderi, Arash Marandi
Hamid Nacify unterscheidet in seiner der Filmemacherin Rakhshan Banietemad gewidmeten Untersuchung zu „Veiled Voice and Vision in Iranian Cinema“ zwischen drei, sich freilich überlappenden und ineinanderfließenden, Phasen der Repräsentation des Weiblichen innerhalb des post-revolutionären Iranischen Kinos. Die frühen 80er Jahre, kurz nach Sturz des Schah-Regimes und Installation eines muslimischen Gottesstaates, seien, laut Nacify, gekennzeichnet durch die Absenz von Frauen in kommerziellen Spielfilmen. Nicht nur werden Filme der wesentlich westlicher orientierten Schah-Zeit nachträglich um allzu verfängliche Szenen gekürzt – prominentestes Beispiel ist möglicherweise der erste Kuss der irani-schen Filmgeschichte in Samuel Khachikians großartigem Noir-Thriller CHAHAR-RAHE HAVADES (1955), von dem heute bloß noch ein Still-Photo existiert – oder aber, wenn allzu heftige Kürzungen den jeweiligen Film komplett sinnentstellt hinterlassen hätte – (was durchaus der Fall sein konnte, denn mitunter wurde mehr als eine halbe Stunde „anstößiges“ Material entfernt) – mittels schwarzer Balken in Ordnung gebracht, die beispielweise westlich gekleidete Frauenfiguren oder als unschicklich empfundene Handlungen wie Zigarettenkosum verdecken. Aus Angst vor staatlichen Regulierungen beginnen die Filmemacher in dieser Phase aber auch aus reiner Selbstzensur, ihre Kameras von weiblichen Wesen fernzuhalten. Manche, wie Abbas Kiarostami, drehen Filme für Kinder oder Filme, die zwar an Erwachsene gerichtet sind, aber hauptsächlich von Kinderdarstellern bestritten werden. Andere, wie der erwähnte iranische Hitchcock Khahikian, verlagern sich aufs Kriegsfilmgenre: Seine kinematographische Kriegserklärung an den Irak, OGHABHA (1985), wird zur ersten bahnbrechenden iranischen Materialschlacht, in deren Bilderreigen von einander jagenden, abschießenden und explodierenden Luftwaffen Frauen allein rein storytechnisch keinen Platz haben.

Ab Mitte der 80er fängt dieses strikte Schema an, sich ein bisschen aufzuweichen. Nacify spricht von der „fahlen Präsenz“ der Frauen, die nunmehr zwar wieder auf der Leinwand akzeptiert werden, jedoch einzig als geisterhafte Erscheinungen im Hintergrund, verschleiert bis zum Kinn, und auch unter ihren Hidschabs von einer bruchlosen Tugendhaftigkeit gezeichnet. Das bringt aber natürlich neue Probleme für einen etwaigen filmischen Realismus mit sich: Da der (männliche) Betrachter des fertigen Films im Kinosaal stets während des Filmdrehs bereits implizit anwesend ist, benehmen sich die Filme dieser Phase selbst in intimen Momenten, in Szenen, die im privaten häuslichen Bereich spielen, wo es der muslimischen Frau im Kreis ihrer Engsten normalerweise erlaubt ist, ihren Schleier zu lüften, so, als würden sie auf öffentlichen Plätzen spielen. Anders gesagt: Die Schauspielerinnen im iranischen Kino schlagen deshalb ihre Hidschabs nicht zurück, weil ihre Rolle innerhalb der Diegese das erfordert, sondern weil das extradiegetische (männliche) Auge dies von ihnen verlangt. Erst in den späten 80er Jahren stellt Nacify ansatzweise so etwas wie einen Paradigmenwechsel fest: Immer mehr Frauen wechseln von vor der Kamera hinter die Kamera, werden, wie die erwähnte Rakshan Banietemad, selbst Regisseurinnen, aber auch vor der Kamera etablieren sich starke Frauenhauptrollen, die teilweise einen ganzen Film tragen. Die Determinanten sind jedoch immer noch: Tugendhaftigkeit und Sittsamkeit, und die vorgeschriebene Verschleierung, die sich, zumindest im vom iranischen Spielfilm evozierten Paralleluniversum, bis tief in den privaten Raum hinein fortsetzt.

Weshalb die lange Einleitung? Nun, weil es sich bei dem kürzlich von mir inspizierten ZIR-E SAYEH aus dem Jahre 2016 a) um einen Film handelt, der im Iran spielt, der von einem Iraner, Babak Anvari, konzipiert wurde, in dem sämtliche iranischstämmigen Darsteller Farsi sprechen, und der damit nicht von iranischer Kultur und Gesellschaft zu trennen ist, der aber b) von einer britischen Produktionsfirma finanziert wurde, und in Jordanien hat gedreht werden müssen, und der c) nicht in Teheran hat inszeniert werden können, weil er genau dieses dem post-revolutionären Kino des Irans inhärente Tabu verletzt, das ich oben zu skizzieren versucht habe: In seinem Fokus stehen zwei Frauen, Shideh und Dorsa, Mutter und Tochter, und größtenteils angesiedelt ist seine Handlung im privaten Raum derer Stadtwohnung, wo die beiden über weite Strecken des Films nur miteinander interagieren, und auf die strengen Moral- und Bekleidungsvorschriften der Scharia dabei wenig achtgeben. Dass Shideh und die kleine Dorsa den Großteil der Laufzeit in geschlossenen Räumen verbringen, hat aber nicht allein mit dem herrschenden politischen System zu tun, in dem sie leben, sondern vor allem mit dessen außenpolitischen Verwicklungen: ZIR-E SAYEH spielt im letzten Jahr des Ersten Golfkrieges, 1988, als Teheran unter rapidem Beschuss des Iraks steht, und sich das Alltagsleben nicht nur von Shideh zwischen Normalität und Todesdrohung abspielt.

Dabei hätte Shideh aber auch ohne die feindlichen Bomben und das ständige Fliehen in den hauseigenen Schutzbunker schon genügend Gründe, verzweifelt zu sein: Erfolglos bewirbt sie sich seit Ende der Revolution immer wieder bei der örtlichen Universität darum, ihr Medizinstudium wieder aufnehmen zu können. Zu Beginn des Films versichert ihr der zuständige Beamte, dass sie ein für allemal die Hoffnung aufgeben müsse, noch einmal an irgendeiner akademischen Einrichtung des Iran Fuß zu fassen. Zu heftig wirkt sich ihre Beteiligung bei einer linksgerichteten Gruppierung während der Revolutionsjahre auf ihre Biographie aus. Shideh, deren Mutter Ärztin gewesen ist, und deren größter Wunsch wiederum, dass ihre Tochter einmal in ihre Fußstapfen tritt, und damit ihr positives Beispiel weiblicher Emanzipation fortsetzt, trifft dieser Schlag beinahe noch härter als die Einberufung ihres Ehemanns Iraj zum Militärdienst. Als ob die Rekrutierung seine Schuld sei, gestaltet sie ihre verbleibende gemeinsame Zeit als einzigen unausgesprochenen Vorwurf, und verwehrt sich vor allem auch gegen seine Versuche, sie dazu zu überreden, mit Dorsa bei den Schwiegereltern auf dem Land unterzuschlüpfen. Nachdem Iraj abkommandiert worden ist, verläuft ihr Leben in monotonen Bahnen: Während Dorsa Privatunterricht bei einer Nachbarin erhält, lenkt Shideh, zum Nichtstun verdammt, sich mit Hausarbeiten ab, oder mit Aerobic-Kursen von Jane Fonda auf illegal erworbenen VHS-Kassetten. In unbestimmten Intervallen ertönt der Bombenalarm, und das gesamte Haus rennt um sein Leben in den Keller. Nach einem solchen Bombenangriff stellt Shideh indes Veränderungen bei Dorsa fest: Angeblich sei ihre Lieblingspuppe spurlos verschwunden, und sie sei sicher, dass die Dschinn sie geholt hätten, und es nun auch auf sie beide abgesehen haben. Als das Haus sich nach und nach leert – die Bewohner verreisen zu Verwandten, erst recht, nachdem eine Rakete direkt in das Dach des Gebäudes eingeschlagen ist –, isolieren Shideh und Dorsa sich immer mehr in ihren eigenen vier Wänden, und alsbald beginnt unsere Heldin, die Visionen ihrer Tochter nicht mehr als bloße Ausgeburten überreizter Kinderphantasien wegzuwischen…

Ich kann natürlich verstehen, weshalb ZIR-E SAYEH gemeinhin unter dem Etikett des Horrorfilms beworben und bespro-chen wird. Neben kommerziellen Erwägungen, einigen ikonographischen Genre-Anleihen und Storywendungen, die auf den ersten Blick tatsächlich in die Richtung übersinnlichen Spuks zu tendieren scheinen, fällt für mich allerdings nicht viel in die Waagschale, was diese Etikettierung rechtfertigen würde – sofern man das Genre denn nicht weit genug fasst, dass beispielweise auch eine klaustrophobische Seelenschau wie Roman Polanskis REPULSION hinzuaddiert werden kann. Letztlich findet sich in ZIR-E SAYEH für jeden vermeintlichen Einbruch des Irrationalen und Gespenstischen eine vielleicht nicht logische, aber psychologisch fundierte Erklärung, und wenn Babak Anvari eins nicht möchte, dann ist das, die Probleme seiner Figuren in einem wie auch immer gearteten metaphysischen Eskapismus zu kanalisieren. Stattdessen stellt ZIR- E SAYEH ein unglaublich dichtes, konzentriertes, von überzeugenden Darstellern getragenes Psychodrama dar, das die Auswirkungen repressiver Außenumstände auf das Seelenleben von Menschen nicht nur zum Thema hat, sondern diese Auswirkungen auch intensiv an sein Publikum weitergibt. Neben einem zunehmend fiebriger werdenden Kammerspiel, dem sein limitiertes Budget nur zum Vorteil gereicht, ist ZIR-E SAYEH aber noch viel mehr: Ein erschütternder Bericht aus dem kriegsgebeutelten Teheran der 80er Jahre heraus, und wie, allgemeiner gefasst, Krieg, wenn er nur lange genug dauert, irgendwann zu einem Teil des Alltags wird: Bei ihrem Bewerbungsgespräch an der Uni zu Beginn sitzt Shideh mit einem Beamten in dessen Büro, und beide zucken kaum, als in der Ferne eine Detonation zu hören ist, und gucken kaum aus dem Fenster, als irgendwo in der Stadt eine Rauchsäule den Himmel hinaufzuklettern beginnt. Eine niemals plakative Illustration der Repressalien, die Frauen im post-revolutionären Iran zu erdulden hatten und haben: Als Shideh einmal panisch mit Dorsa aus ihrem Eigenheim auf die nächtliche Straße flieht, wird sie sofort von der Sittenpolizei einkassiert, da sie ihren Hidschab vergessen hat, und entgeht der Züchtigung per Rutenschlägen nur, weil eine andere Frau sich für sie einsetzt. Eine kluge Reflexion der drei Stadien von femininer Repräsentation im Kino des Iran, wie ich sie anfangs skizziert habe: Im Grunde zeigt ZIR-E SAYEH das, was Kriegsfilme wie Khachikians OGHABHA aussparen – die Heimatfront jenseits des Schlachtfelds, wo es keine Helden, sondern nur Opfer gibt –, und im Grunde thematisiert ZIR-E SAYEH in seinen wenigen Szenen, die im öffentlichen Raum spielen, auch, was die Filme der „fahlen Präsenz“ als Agenda haben – Shideh ist kein eigenständiges Individuum, sondern eine von vielen, bei einem oberflächlichen Blick kaum voneinander unterscheidbaren Frauen in schwarzer Vollverschleierung –, und im Grunde löst ZIR-E SAYEH sogar das Versprechen ein, das die Filme von Nicays dritter Phase der spärlichen Emanzipation geben: In einer regelrecht befreienden Geste reißt sich Shideh einmal, als sie gerade nach Hause gekehrt ist, den Schleier vom Kopf.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Noidan kirot

Produktionsland: Finnland 1927

Regie: Teuvo Puro

Darsteller: Heidi Blåfield, Einar Rinne, Kaisa Leppänen, Yrjö Tuominen, Toivo Suonpää

Letztes Jahr hatte ich die Freude, zusammen mit einigen Kollegen aus der Redaktion des 35mm-Magazins den finnischen Schauerfilmklassiker VALKOINEUN PEURA aus dem Jahre 1952 im Rahmen des Braunschweiger Filmfestivals auf der großen Leinwand präsentieren zu dürfen. Der märchenhaft-folkloristische schneebedeckte Film erzählt von einer jungen Frau, die, nachdem die Hochzeit mit einem Hirten sie in die Einöde Lapplands geführt hat, alsbald, da ihr Gatte ständig außer Haus ist, von seuxellem Frust geplagt wird: Was also anderes tun, als sich auf Hexenzauber einzulassen, der jedoch derart schiefläuft, dass die Gute sich letztlich des Nachts in ein weißes Rentier verwandelt, um ihre unbefriedigte Lust an wehrlosen Mannsbildern auszuagieren…

Erstaunt hat es mich, der ich bis vor Kurzem dachte, Erik Blombergs Film sei zusammen mit dem im gleichen Jahr erschienenen, thematisch verwandten NOITA PALAA ELAMAAN der älteste finnische Ausflug in horrorähnliche Gefilde, dass der nordeuropäische Staat mit NOIDAN KIROT bereits 1927 eine Produktion vorgelegt hat, die überraschende Kongruenzen gerade zu VALKOINEUN PEURA aufweist: Auch der von einem gewissen Teuvo Puro inszenierte Film handelt von einer frischgebackenen Ehefrau, Selma, die es mit ihrem Liebsten Simo in die lappländische Eiswüste verschlägt, wo dieser gemeinsam mit seiner blinden Schwester Elsa in autarker Abgeschiedenheit lebt. Da die Mitgift von Selmas Familie indes in einer lebendigen Kuh besteht, die mit einigen Anstrengungen einen Fluss hinauf bis zu Simos Grund und Boden geschafft werden muss, verlässt dieser unsere Heldin alsbald wieder, um besagtes Rindvieh abzuholen. Allein mit Selma entpuppt sich Elsa nicht nur als körperlich äußerst angeschlagene junge Frau – tagelang liegt sie kränkelnd, teilweise halluzinierend im Bett –, sondern auch als jemand, der es versteht, seine Mitmenschen mit Schauermärchen in Angst und Schrecken zu versetzen: So führt sie Selma zu einem merkwürdigen Steinhaufen, von dem sie zu berichten weiß, dass dort vor Jahrhunderten ein bitterböser Schamane von den aufgebrachten Finnen zu Tode gebracht worden sei – eine Legende, die uns NOIDAN KIROT dankenswerterweise in einer schönen Rückblende zeigt: Da überfallen die Finnen den bärtigen, bärigen Hexer in seiner Hütte und führen ihm, nachdem er einen von ihnen per Pfeilschuss erledigt hat, dem verdienten blutigen Ende zu – jedoch nicht, ohne dass der Zauberer noch die Möglichkeit hat, den gesamten Landstrich zu verfluchen, und jedem Finnen, der dort jemals Wurzeln schlagen wird, ein düsteres Schicksal zu versprechen. "Alle eure Nachkommen sollen... usw." Ihr kennt das.

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Die grenzenlose Einsamkeit der Landschaft, die sich beinahe bedrohlich um das zerbrechliche Gehöft herum aufbauscht, sowie die Tatsache, dass ihr einziger Kontakt zu einer psychisch wie physisch reichlich zerrütteten Dame besteht, sind erfolgreich darin, dass Selma sich das Ammenmärchen vom Schamanenspuk mehr zu Herzen nimmt als es ihr guttut: Schlimme Träume suchen sie heim, in denen per Überblendung der hysterisch gackernde Zauberer durch Wälder und Zimmer wütet, und kaum traut sie sich noch, ihrer täglichen Aufgabe, der Kontrolle der im Flusslauf ausgespannten Fischernetze, nachzugehen. Bei einem dieser Kontrollgänge indes stößt sie auf drei Holzfäller unter der Führung eines Rüpels namens Paku-Sakari, die wir vorher schon kennengelernt haben, als sie Simo bei seiner Abreise proletenhaft gegenübergetreten sind. Kaum haben die wilden Burschen das Mädchen in seinem Floss entdeckt, zeichnen sich auf ihren Gesichtern schon die widerlichsten Gedanken ab. Was genau die Bande mit Selma anstellt, das spart der Film zwar aus, zeigt uns aber als Substitut für die Vergewaltigung stattdessen Simo bei seinen Schwiegereltern unruhig sich im Bett herumwerfend, während neben ihm auf der Matratze ein waschechter Nachtmahr sitzt: Ein äffchenhafter Dämon – (offenbar ein kleines Kind im Ewok-Kostüm!) –, das aufgeregt umherzappelt, putzig und verstörend zugleich.

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Zurückgekehrt zu Selma findet Simo diese auf einmal wortkarg, verschlossen, melancholisch vor. Dass ihr die verrückte Schwester die Räuberpistolen vom umgehenden Schamanen eingetrichtert habe, liegt für ihn auf der Hand, weswegen er das steinerne Monument, das den Hinrichtungstod des Unholds anzeigt, Stück für Stück abträgt, und in den Fluss schmeißt. Der Tod Elsas besiegelt für ihn außerdem die Phase von Selmas Grabesstimmung – zumal das junge Paar feststellt, dass sie ein Kind erwarten. Die Jahre ziehen dahin, der Frühling kommt, Simo bekommt den erhofften Sohnemann – doch erweist sich der als ein sehr unbändiger Junge, der am liebsten die Hofhühner zu Tode erschreckt, die Abendsuppe grundlos ins Kaminfeuer kippt, und nicht mal davor zurückschreckt, den eigenen Vater mit Schlägen zu traktieren. An Selmas weichherzigen Erziehungsmethoden kann das allein nicht liegen, denkt Simo sich, dem immer mehr auffällt, wie sehr der Satansbraten in seinem Aussehen und seinem ganzen Verhalten dem angeblich vor Jahren bei einer Wirtshausschlägerei verstorbenen Paku-Sakari ähnelt. Sollte Selma ihm etwa ein Kuckuckskind untergeschoben haben…?

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Dass die Stummfilme von Staaten wie Norwegen, Dänemark und vor allem Schweden es verstehen, die Schicksale ihrer Protagonisten sich in atemberaubenden Natur- und Landschaftsaufnahmen spiegeln zu lassen, das ist ein Allgemeinplatz – und wundert schon allein deshalb nicht, wenn man bedenkt, was für Panoramen Regisseure wie Carl Theodor Dreyer (GLOMDALSBRUDEN) oder Mauritz Stiller (HERR ARNES PENGAR) quasi vor der eigenen Haustür hatten. Auch NOIDAN KIROT wurde offenbar fernab steriler Studiokulissen an Originalschauplätzen in Lappland gedreht, und vernetzt die Landschaften eng mit dem Innenleben seiner Figuren: Signalisiert werden deren emotionale Kapriolen andauernd durch Veränderungen in der Natur, sprich, wenn es taut, dann erwachen unsere Helden aus schlimmen Lebensphasen, und wenn ein Schneesturm tobt, können wir sicher sein, dass auch in ihren Herzen gerade Chaos herrscht. Darüber hinaus nutzt Tevuo Puro die Analogieschlüsse zwischen innerer und äußerer Natur aber nicht nur zu psychologischen und melodramatischen Effekten. Gerade in der ersten Hälfte, wenn Selma von der Tristesse ihrer neuen Heimat regelrecht übermannt wird, evoziert NOIDAN KIROT eine regelrecht gotische Schauerstimmung. Man meint den einsam pfeifenden Wind in den Dachbalken zu hören; das Knirschen der Dielen in dem einzig von Elsas Röcheln belebtem Holzhaus; das Rascheln der Schatten, die die verloren brennenden Kerzen an die Wände werfen. Das ist zu keinem Zeitpunkt grell-expressionistisch, sondern zutiefst naturalistisch. NOSFERATU wäre da eine Referenz, gerade weil Murnau sich dort ja auch mit vollen Händen bei der Vorliebe von Freilichtkulissen der Schweden bedient.

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NOIDAN KIROTs Horror-Appeal endet aber noch nicht bei ein bisschen gänsehäutiger Lagerfeuerstimmung. Die optischen Effekte, mit denen Selmas überreizte Phantasie den bärenhaften Schamanen überallhin projiziert, habe ich schon erwähnt, und ebenfalls die Rückblende, die prototypisch die Prologsequenz etlicher Gothic-Horrorfilme der 60er wie Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO antizipiert. Herzstück des Films – (für mich zumindest) – bildet jedoch das Auftauchen des Äffchen-Sukkubus an Simos Schlafstatt. Da zitiert der Film nicht nur offensichtlich Füsslis berühmten „Nachtmahr“ und das Kostüm des (Kinder-)Darstellers ist einfach nur zum Verlieben. Gerade durch ihre Kürze verblüfft die Szene: Kaum hat man kapiert, was man da sieht, ist sie auch schon wieder vorbei. (Ich habe nachgemessen: In meiner Fassung ist das Äffchen keine fünf Sekunden zu sehen.) Hinzukommt, dass der Film diese Erscheinung zu keinem Zeitpunkt erklärt. Wahrscheinlich ist das haarige Kerlchen ein integraler Bestandteil des lokalen Mythenschatzes und jeder Finne, der den Film sieht, weiß schon, was damit gemeint sein soll – mich hat die flüchtige, von der Handlung nur halbseiden motivierte Erscheinung dieses Wesen fast so sehr irritiert wie die wahnwitzige Wendung, die die Story nach seiner gotischen ersten Hälfte unerwarteterweise nimmt, denn plötzlich sind wir nicht mehr bei einer Nordland-Effi-Briest, sondern erst mitten in einem aufwühlenden Ehedrama und zu guter Letzt in einem reinrassigen Rape-&-Revenge-Thriller, wenn Simo beschließt, den, wie sich herausstellt, doch noch am Leben befindlichen Paku-Sakari zu jagen, und Rache an ihm für die Vergewaltigung Selmas zu nehmen. Selbst das zuckerkitschige Happy End hilft nur halbherzig dabei, darüber hinwegzutäuschen, wie sehr die vorherigen siebzig Minuten über die Stränge geschlagen sind. Sicher, das ist nun kein HÄXAN, aber im Vergleich zu den Horrorfilmen der Universal Studios wenige Jahre später wirkt dieses Konglomerat aus Backwood-Vergewaltigungen, Teufeln in Kindergestalt, die ihre eigenen Väter attackieren, Schamanenspuk und – ich kann gar nicht oft genug erwähnen, wie sehr ich diese Szene feiere! – Nachtmahren im Affenpelz, als ob sich Kernelemente eines 70er-Jahre-Exploitation-Streifens per Zeitmaschine in ein naturalistisches Stummfilmmelodram der 20er gebeamt hätten.

Begeistert bin ich!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Noita palaa elämään

Produktionsland: Finnland 1952

Regie: Roland af Hällström

Darsteller: Mirja Mane, Toivo Mäkela, Hillevi Lagerstam, Helge Herala, Sakari Jurkka
Hannu ist Archäologe. Außerdem ist er glücklich verheiratet mit Greta. Beide sind zu Ausgrabungen im finnischen Hinterland, wo sie der Baron Hallberg, verschrien in der gesamten Gegend als Lüstling, von dem potentiell jede zweite junge Frau der Region abstammt, freundlicherweise auf seinem Landsitz unterbringt. Der Baron hat einen Sohn, Veikku, Single bislang, eben weil er fürchtet, jede junge Frau der umliegenden Dörfer, die er daten wollen würde, könnte aus einer Affäre seines Vaters mit einer Bäuerin hervorgegangen sein. Greta gefällt ihm allerdings ganz gut, doch wesentlich heftigere Blicke hat der ebenfalls beim Baron einquartierte Boheme-Künstler Kauku auf die Archäologinnengattin geworfen – wobei er nicht mal in Anwesenheit Hannus einen Hehl daraus macht, wie gerne er Greta doch einmal in die Horizontale lotsen würde. Was fehlt nun noch, um die vorhandene Spannung zwischen den um Greta gruppierten Männern übers bloße Knistern hinaus zu wahren Orgasmen anzustacheln? Erstens: die Grabstätte einer weiteren jungen Frau, die Hannu eines Tages aus dem Morast freikratzt, und zweitens: die tauben Ohren der modernen Wissenschaft, die den Protest der lokalen Bevölkerung als abergläubisches Gewäsch abtut, genau an dieser Stelle sei vor dreihundert Jahren eine Hexe verbuddelt worden. Es dauert nicht lange und die allzu neugierigen Hände Hannuss haben den Pfahl aus der skelettierten Brust der Toten herausgepfriemelt. Noch ein Genre-Topos gefällig? Nun, Blitz und Donner ziehen auf, und im frisch ausgehobenen Grab findet unser Trio aus Hannu, Veikku und Kauku in derselben Nacht noch eine splitterfasernackte junge Frau, die offenbar unter Schock steht, nur zu wissen scheint, dass ihr Name Birgit ist, und aufgrund der Witterung und nicht zuletzt ihrer Schönheit ins Schloss mitgenommen wird, - wo sie alsbald dem Archäologen, dem adligen Junggesellen sowie dem Akademiemaler die Köpfe verdreht. Während das Bauernvolk in Birgit die Reinkarnation der erwähnten Hexe wiedererkennt, und keine Gelegenheit auslässt, die wahlweise verführerische oder kindlich-naive Frau mit Forken nach dem Leben zu trachten, und während der Baron in der Fremden eine seiner unehelichen Töchter vermutet, die sich seinen Sohn zu angeln versucht, um an ihr unrechtmäßiges Erbteil zu gelangen, häufen sich nach und nach sowohl die mysteriösen Vorkommnisse – ein Kuh gibt Blut statt Milch; eine Holzbrücke birst grundlos auseinander – als auch die Eruptionen allzu lange verschütteter erotischer Energien auf Seiten unserer männlichen Protagonisten..

Kürzlich habe ich mit NOIDAN KIROT einen wahren Schatz gehoben: Einen finnischen Film von 1927, der sich zwar vorwiegend aus den Genres des Ehedramas, des naturalistischen Melodrams und gar des Rape-&-Revenge-Thrillers speist, gerade in seiner ersten Hälfte aber genügend folkloristische Schauerstimmung aufbietet, dass man ihn wohl gut und gerne als den ersten Beitrag Finnlands zur internationalen Horrorfilmgeschichte bezeichnen kann. Üblicherweise schiebt man diesen Trumpf ja dem 1952 in die Lichtspielhäuser gelangten VALKOINEN PEURA zu, der mit NOIDAN KIROT nicht nur ästhetische Konstanten teilt, sprich, die in ihrer Schwermut schönen Winterlandschaften, sondern auch die eine oder andere Plot-Kapriole: Bei VALKOINEN PEURA haben wir es mit einer recht schwermütig-melancholischen Geschichte um eine sexuell frustrierte Frischverheiratete zu tun, die ihrem Gefühl, von ihrem durch Abwesenheit glänzenden Gatten in jedweder Hinsicht vernachlässigt zu werden, dadurch verheerenden Ausdruck verleiht, dass sie sich, nach einem Besuch beim örtlichen Schamanen, in Vollmondnächte in das titelgebende weiße Rentier verwandelt, das auf todbringende Weise zur Männerjagd bläst. Im gleichen Jahr erscheint kurioserweise aber noch ein zweiter finnischer Film, der ebenfalls dem Phantastischen Kino zugeschlagen werden muss. Wo NOIDAN KIROT und VALKOINEN PEURA mit Vorliebe in schneeverhangener Wintertristesse schwelgen, und dabei jegliches reißerische Potential ihrer Plots zugunsten einer zurückhaltenden, atmosphärischen Inszenierung in den Hintergrund drängen, tanzt der auf einem (mir unbekannten) Theaterstück von Mika Waltari fußende NOITA PALAA ELÄMÄÄN derweil auf einem ganz anderen dionysischen Fest.

Roland af Hällströms Film als grell zu bezeichnen, wäre angesichts seiner Produktionszeit vielleicht sogar noch untertrieben: Was mit gotischem Gruseln á la Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO anfängt, entpuppt sich schnell zur Gesellschaftssatire, in der sozial nur halbseiden überformte und kaschierte Triebe spätestens dann den Ton angeben, wenn die titelgebende Hexe bei unseren Helden Einzug hält, und für Verwicklungen sorgt, die ich nicht nur als recht amüsant empfunden habe, sondern die zuweilen unbeirrt über Stränge hinausschlagen, von denen man Anfang der 50er eigentlich hätte vermuten müssen, dass die Filmzensur diese noch weitgehend fest in ihrem Griff hält. Im Klartext: Wenn Hauptdarstellerin Minja Mane so wie Gott sie schuf durch von Gewittern erhellte Nordnächte springt, wenn sie den ihr reihenweise verfallenden Männern verheißt, sie sehne sich nach ihren Körpern wie nach der Wärme des Feuers und der Wärme des Blutes, und wenn diese Männer wiederum in ihrer (übernatürlichen) Becircung blindlinks ins Moor stapfen, einander gegenseitig die Schädel einzuschlagen drohen und die eigenen Ehefrauen mit der kältesten Schulter bedenken, dann durchzieht NOITA PALAA ELÄMÄÄN eine nicht nur schwüle, sondern regelrecht impulsive Erotik, die gar keine expliziten Sexszenen oder Aufnahmen von Geschlechtsorganen braucht, um klarzumachen: Auch in diesem Film dreht sich, wie bei VALKOINEN PEURA, alles um eine unter den Teppich gekehrte Sexualität, die jedes Vehikel daran setzt, doch irgendwie zum Ausbruch zu kommen. Wo VALKOINEN PEURA sich allerdings in (recht leicht decodierbare) Metaphern flüchtet, dominiert bei NOITA PALAA ELÄMÄÄN ein fast schon aggressiver Tonfall, wenn die Hirne unserer Helden beim Anblick der nackten Hexe in ihre Leistengegenden rutschen, und dort auch nicht so bald wieder hervorkommen. Obwohl der Film seinen Punkt vorrangig über einen verschrobenen, bizarren Humor macht, der sich niederschlägt in zugleich pointierten wie haarsträubenden Dialogen und Szenen – einfach nur göttlich: wie die Dörfler der Hexe andauernd über die Felder hinterherjagen - verschmäht er es aber doch nicht, einige durchaus effektvolle Schauerbilder aufzubieten, von denen Minja Manes andauernd von purer Einfalt in eine hysterische, blutgierige Fratze sich verwandelndes Gesicht für mich wohl das eindrucksvollste darstellt. Was selbst bei Hammer fünf bis zehn Jahre später noch mit Feigenblättern versehen wird, ist hier so handfest wie es sein kann, ohne ins rein Pornographische abzurutschen. Eros und Thanatos halten Händchen; Birgit beißt ihren Verehrern in die Lippen; ihr Gesicht wird zu einem bleckenden Totenschädel, wenn vor Geilheit zitternde Finger ihre Wangen berühren; nur mit einem hauchdünnen, durchsichtigen Stofffetzen bedeckt bringt sie ihre Brüste im Mondschein zum Hüpfen: Schaurig und sexy in einem Atemzug.

Dabei lässt NOITA PALAA ELÄMÄÄN tatsächlich aber lange Zeit offen, ob es sich bei der klamottenlosen Dame nicht doch um eine Bewohnerin einer der umliegenden Ortschaften handeln könnte, die aus irgendwelchen Gründen traumatisiert ist, sprich, die Befürchtungen der Bauernschaft nicht doch plumpen Aberglaube darstellen, und der Umstand, dass die vermeintliche Hexe eine nicht zu leugnende Wirkung auf jeden Mann ausübt, der ihre Wege kreuzt, nicht einfach nur mit ihrer unzweifelhaften Schönheit erklärt werden kann. Im letzten Drittel freilich schmeißt der Film derartige Ambivalenzen ins Moor, und es wird exzessive Hexerei betrieben: Da lösen sich Pferdchen in Luft auf, und Sensen bohren sich unter dem Kommando eines bloßen Blicks der Zauberin in ihr feindlich gesinnte Bauernbeine. Natürlich kann man dem Film, wenn man denn unbedingt möchte, eine misogyne Attitüde unterjubeln – die Frau als leibhaftiger Teufel, der die Männer ins Verderben zieht –, auch wenn diese Interpretation freilich davon etwas aufgeweicht wird, dass sich der gesamte Hexenspuk letztlich als (Alp-)Traum Hannus herausstellt, (eine recht blöde Pointe btw, die sicher nur dazu gedacht gewesen ist, die zeitgenössischen Zensoren dem Film gegenüber gnädiger zu stimmen). Andererseits komme ich nicht umhin, dem Film zu unterstellen, dass er doch ziemliche Freude daran hat, gerade in seinen letzten zehn Minuten ein regelrechtes Weltuntergangsszenario an hervorplatzender Leidenschaften zu inszenieren, das bestimmt keine Filmprüfstelle unbeschadet hätte passieren können, sofern es nicht auf irgendeine abschwächende Art und Weise kontextualisiert und damit abgemildert worden wäre.

Auch weil sie zeitlich so nahe beieinander liegen, ist mir als mögliche Referenz übrigens zuallererst LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE in den Sinn gekommen. Kleidet Raffaello Matarazzo seine kinematographische Ejakulation formell ins Gewand eines Kostümfilms, und lässt erst im letzten Drittel die Hüllen auf unmissverständliche Weise fallen, so schlüpft Roland af Hällströms kleine Priaposorgie ebenso rein an der Oberfläche in gotische Schauer, um allerdings viel früher, nämlich bereits im ersten Drittel, seine Katze aus dem Sack zu lassen. Seine Katze, das ist natürlich die splitterfasernackte Minja Mane, die halb wie ein verschrecktes Reh, halb wie ein angriffslustiger Bär zwischen Sturmbrausen, Regengüssen und in Flammen stehenden Scheunen umherspringt. Wann hört das eigentlich auf, dass ich immer noch quasi am laufenden Band Filme entdecke, von denen ich nie gedacht hätte, dass die wirklich in dieser Form zu dieser Zeit gedreht werden konnten, und dann auch noch kommerziell vertrieben worden sind!? (Ich hoffe nie.)
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