bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Zwei Nikoläuse unterwegs

„Nicht einverstanden!“

Teil meiner Doppel-DVD-Kompilation aus dem Hause Studio Hamburg mit DDR-Weihnachtsfilmen ist auch diese Fernsehproduktion aus dem Jahre 1985, die unter der Regie Dieter Knusts („Susanna und der arme Teufel“) entstand. Dieser trat in erster Linie als Schauspieler in Erscheinung, inszenierte aber auch acht Filme. Seine letzte Regiearbeit ist dieser mit nur rund einer Stunde Laufzeit an der Kurzfilmgrenze kratzende heitere saisonale Familienfilm.

„Na komm, lass uns einen trinken!“

Die Herren Nikolaus Kranz (Peter Reusse, „Tatort: Unter Brüdern“) und Ruprecht Weise (Werner Tietze, „Polizeiruf 110“) sind familiär ungebunden und beschließen, Weihnachten einmal nicht in der Stadt zu feiern, sondern aufs beschauliche Land zu reisen. Die Pension, die sie ansteuern, hat jedoch keine Zimmer mehr für sie frei. Die Obhut, die sie daraufhin finden, ist ungemütlich und ohne Heizung, woraufhin sie durch den Ort spazieren und bei einer dysfunktional anmutenden Familie unterkommen, der sie dabei helfen, doch noch ein Weihnachten in Harmonie und Besinnlichkeit feiern zu können.

„Wir sind eigentlich Obernikoläuse!“

Nachdem mich die DDR-Produktionen „Weihnachtsgeschichten“ und „Die Weihnachtsklempner“ auf dem richtigen Fuß erwischt und mir vergnügliche Stunden beschert hatten, muss ich im Falle dieser beiden Nikoläuse doch deutliche Abstriche machen. Zum einen scheint es sich seiner Familienthematik zum Trotz doch eher um ein auf Kinder zugeschnittenes Vergnügen zu handeln, was mir den Zugang tatsächlich etwas erschwert, zum anderen dauert es, bis überhaupt weihnachtliche Stimmung aufkommt. Sicherlich, die zunächst überhaupt nicht verkleideten Nikoläuse treten ja gerade an, diese heraufzubeschwören; das ist das Konzept des Films. Bis dahin ist es jedoch ein nun leider wirklich nicht sonderlich aufregender oder fesselnder Weg, dem eben auch sämtliche Weihnachtsatmosphäre komplett abgeht. Immerhin erhält Nikolaus von einem Weihnachtsmann auf der Straße ein Kostüm, an der wenig interessanten oder gar erinnerungswürden Handlung ändert das aber nichts.

Nett ist der Meta-Gag, wenn sie am Schluss gleichzeitig im Fernseher der Familie zu sehen sind, alles andere ist mir dann aber doch ein gutes Stück weit zu bieder und nichtig. Eventuell bin ich nach den beiden o.g. DDR-Weihnachtsfilmen mit einer überzogenen Erwartungshaltung an „Zwei Nikoläuse unterwegs“ herangegangen, eventuell bin ich der Zielgruppe zu sehr entwachsen – und eventuell erhält er zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Chance. Denn sympathisch und zuweilen irgendwie ganz niedlich ist er ja schon…
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Drei Schlingen

„Wir sind besser als die Polizei!“

Der elfte Einsatz der Essener „Tatort“-Kommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) entstand nach einem Drehbuch Karl Heinz Willschreis, wurde von Wolfgang Becker („Die Vorstadtkrokodile“) inszeniert – und landete nach seiner Erstausstrahlung am 28. August 1977 mehrere Jahrzehnte im Giftschrank: Grund sollen Zuschauer(innen)beschwerden über die gezeigte Brutalität dieser öffentlich-rechtlichen Krimiepisode gewesen sein.

„Ich kann schon selber auf mich aufpassen!“ – „Sieht nicht so aus…“

Mitglieder eines Judoclubs überfallen einen Geldtransporter, indem sie einen Verkehrsunfall fingieren und damit den Fahrer Werner Fink (Andreas Seyferth, „Tatort: Tote brauchen keine Wohnung“) aus dem Fahrzeug locken: Er will sich um ein vermeintlich verletztes Opfer, eine angefahrene Frau, kümmern. Dieses attackiert ihn jedoch, im weiteren Verlauf des Überfalls wird er auf offener Straße erschossen. Sein Kollege Schießer (Traugott Buhre, „Die Dubrow-Krise“), der während des Überfalls in einer Bankfiliale weilte, findet seinen sterbenden Partner und ist tief betroffen. Schießer ist ein ehemaliger Polizist, der sich Recht und Ordnung weiterhin verbunden fühlt und vom ermittelnden Beamten Haferkamp nicht sonderlich viel hält. Dieser bekommt es bald mit zwei weiteren Morden zu tun: Offenbar hat jemand zwei der drei Täter jeweils mit einer Schlinge um den Hals erhängt, um es wie Selbstmord aussehen zu lassen, dabei aber deren Beute nicht angerührt… Aber wer ist die dritte Person im Bunde, die Frau, die erst angefahren wurde, dann jedoch aufsprang und Fink niederschlug? Und wer ist der Mörder, der auf eigene Faust unter den Tätern „aufzuräumen“ scheint…?

„Was wollen Sie von mir?!“ – „Dich aufhängen, weiter nichts!“

Tatsächlich ist „Drei Schlingen“ ein recht harter, grimmiger „Tatort“, der mit Thriller-Elementen arbeitet und zuweilen die Atmosphäre eines Rachewesterns heraufbeschwört. Dazu trägt u.a. die Kameraführung bei, die neben entschleunigten Fahrten einige Nahaufnahmen von Gesichtern produziert und bei Finks Beerdigung eine beunruhigende Perspektive aus dem Grab heraus einnimmt. Bemerkenswert ist auch die Szene, in der die Kamera die mit Nacktfotos von Frauen behangenen Wände der Wohnung eines der Toten vollumfänglich abtastet. Ungewöhnlicherweise geht es eine Zeitlang weniger um die Ermittlung des Schlingenmörders, hinsichtlich dessen Identität Haferkamp schnell den richtigen Riecher hat, sondern um den oder die Dritte(n) des Überfalltrios. Man kommt schließlich einer Stuntfrau auf die Spur – oder doch einem Stuntman? Daraus entwickelt sich ein interessantes Spiel mit Geschlechteridentitäten, zeitgenössisch „erklärt“ mit Homosexualität, was letztlich gar nicht nötig gewesen wäre.

„Wir haben uns benommen wie die Idioten!“

Nichtsdestotrotz mutet dieses Handlungselement progressiv an und steht im Zusammenhang mit einem Gastauftritt des Unterhaltungskünstlers Vico Torriani („O Sole Mio“), der sich selbst spielt, und einem ellenlang und übermäßig laut integrierten Slapstick-Film-im-Film. Dieser steht in krassem Kontrast zur toternsten Stimmung dieses „Tatorts“ um einen Mann, der eigentlich immer noch gern Polizist wäre und seinen Job in Law-&-Order-Manier interpretiert. Haferkamp spielt mit dem Feuer und trickst wissentlich zusammen mit dem, wie sich alsbald herausstellen wird, Mörder, führt sogar dessen potenzielles nächstes Opfer mit ihm zusammen. Gegenüber dem Mörder plaudert Haferkamp offen seine Überlegungen und Schlüsse aus, und wenngleich sein Plan aufgeht, gibt er im handfesten, brutalen Showdown keine besonders gute Figur ab. Ein Vabanquespiel, das an die Substanz geht. Im Epilog erwartet den erschöpften Haferkamp ein ernüchternder Dialog mit seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum), die ihn anfänglich noch bei ihm zu Hause erwartete und zum festen Inventar der Essener „Tatorte“ gehört.

Der atmosphärische, unheilschwangere, aber coole Synthesizer-Soundtrack arbeitet mit Versatzstücken aus Jean Michel Jarres „Oxygène (Part I)“, weitere Musik steuern Supertramp („School“) und Jethro Tull („Bouree“) bei. In einer Nebenrolle ist übrigens Marie-Luise Marjan aus der „Lindenstraße“ zu sehen. Für den renommierten Theater-Charakterdarsteller Traugott Buhre, der hier eine Spitzenleistung als innerlich verbitterter und wütender, äußerlich aber kontrollierter Biedermann gibt, folgten noch vier weitere von insgesamt sechs „Tatort“-Einsätzen. Ja, „Drei Schlingen“ dürfte die Grenzen des Machbaren zur bundesdeutschen Hauptsendezeit am Sonntagabend des Jahres 1977 ausgelotet haben und unterhält seinen Temposchwankungen zum Trotz als Mischung aus gewohnten „Tatort“-Ingredienzien und härterer Thriller-Kost auch heute noch vorzüglich. 7,5 von 10 Judorollen absolviere ich da gern.
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Der große Diktator

„Demokratie Schtonk! Liberty Schtonk! Free sprecken Schtonk!“

Charles „Charlie“ Chaplins erster vollständiger Tonfilm und zugleich letzter Auftritt in seiner Paraderolle als Tramp wurde seine erfolgreichste und wichtigste Arbeit: „Der große Diktator“, seine wie so oft im Alleingang geschriebene und von ihm in den USA produzierte und inszenierte Satire auf den europäischen Faschismus und Hitlers mörderischen Größenwahnsinn erschien im Jahre 1940, zu einem Zeitpunkt also, als die USA sich noch gegen jede Einmischung in den Zweiten Weltkrieg verwahrten. Dementsprechend stieß sein Film auch außerhalb der faschistisch okkupierten Gebiete nicht von vornherein auf ungeteilte Gegenliebe. Andererseits waren Chaplin die Ausmaße des mörderischen NS-Terrors damals noch gar nicht bewusst: „Hätte ich von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte ,Der große Diktator‘ nicht zustande bringen, hätte mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können“, schrieb Chaplin in seiner Autobiographie.

„Ich mag zerstreute Menschen!“

Der Erste Weltkrieg liegt in seinen letzten Zügen, als ein am Kriegsgeschehen beteiligter jüdischer tomanischer (= deutscher) Soldat (Charlie Chaplin) sein Gedächtnis verliert. 20 Jahre später eröffnet er in einem jüdischen Viertel einen Friseursalon und wird bald mit dem „Reichspfuirer“ Tomaniens konfrontiert, dem cholerischen, größenwahnsinnigen Despoten Adenoid Hynkel (ebenfalls Charlie Chaplin). Dieser möchte erst den den Nachbarstaat Osterlich (= Österreich) und schließlich die ganze Welt erobern und findet in der jüdischen Gemeinde willkommene Sündenböcke für seine menschenverachtende Politik. Mithilfe seiner Sturmtruppen terrorisiert er auch das Viertel des namenlosen Friseurs, während er sich mit Herrscher Bakterias (= Italiens), Benzino Napoloni (Jack Oakie, „Geldrausch“), verbündet. Der Friseur wird wie so viele aus seinem Kulturkreis in ein Konzentrationslager deportiert, kann jedoch entkommen und wird aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit mit Hynkel verwechselt, woraufhin er in dessen Rolle schlüpft…

Texttafeln führen in die Handlung ein, die mit Kriegsszenen aus dem Ersten Weltkrieg beginnt. Ereignisse in der fiktionalisierten Weimarer Republik werden rasch in Form einer Abfolge an Zeitungsschlagzeilen abgehandelt, bevor der Film in seiner narrativen Gegenwart ankommt. Der gezeigte jüdische Soldat ist alles andere als für den Kriegseinsatz gemacht, scheut den Umgang mit Waffen, ist ängstlich und ungeschickt. Er wird jedoch dahingehend charakterisiert, dass er stets hilfsbereit und bescheiden ist und dementsprechend gut mit seinen Mitmenschen auskommt. Ein Mensch mit Schwächen, aber dem Herzen am rechten Fleck. Mit seinem Friseursalon kommt er über die Runden und ist zufrieden. In einer besonders schönen Szene versorgt er einen Kunden im Rhythmus zur Musik Brahms‘. Gegen die Angriffe von Hynkels Sturmtruppen wehrt er sich redlich und verliebt sich schließlich in die Wäscherin Hannah (Paulette Goddard, „Moderne Zeiten“), eine kämpferische junge Frau, die hier eine starke Frauenrolle verkörpert.

Der Welt des Friseurs wird jene Hynkels gegenübergestellt, die von einem hektischen und enggetakteten Alltag bestimmt ist. Hynkel ist ebenso machtbesessen, größenwahnsinnig und selbstverliebt wie infantil, autoritär, dilettantisch und aufbrausend. Chaplin zeichnet Hynkel als eine kranke Persönlichkeit und zieht ihn kräftig durch den Kakao, ohne jedoch dessen Gefährlichkeit in Abrede zu stellen. Hynkels Reden in einem Fantasiesprachen-Kauderwelsch inklusive einzelner Versatzstücke deutscher Sprache sind in der Inbrunst, mit der sie von Hynkel vorgetragen werden, nicht nur eine großartige Hitler-Parodie, sondern auch eine satirische Überspitzung der deutschen Phonetik. In den meisten Szenen spricht Hynkel jedoch schlicht Englisch. Zwischenzeitlich meldet sich ein Sprecher aus dem Off zu Wort, um das Geschehen zu kommentieren und auch Teile der Rede Hynkels zu übersetzten, verstummt danach jedoch wieder. Das Aufwerfen der „Judenfrage“ zeigt Chaplin als Ablenkung des Volks von wahren Problemen, womit er die NS-Demagogie durchschaut hat.

Die Konkurrenz zwischen Mussolini und Hitler wird aufs Korn genommen, wenn deren Äquivalente Napoloni und Hynkel sich wie zwei kleine Kinder um Kriege streiten und der Konflikt in einer Lebensmittelschlacht mündet. Der Größenunterschied zwischen beiden ist ein weiterer Quell des spöttischen Humors. Satirischer Wortwitz findet sich in den ihren realen Vorbildern ähnlich klingenden Namen, neben Hynkel und Napolini sind dies beispielsweise „Gorbitsch“ für Goebbels oder „Hering“ für Göring. Derart satirisch verschlüsselte Abbilder ziehen sich durch den Film und finden ihre Entsprechung auch in vielen ausstatterischen Details. Der gesamte inszenierte Glanz des Faschismus wird verulkt, was Chaplin immer wieder mit Slapstick in Verbindung bringt – am memorabelsten möglicherweise verbunden in der Szene, in der Hynkel machttrunken mit seinem Globus tanzt, der am Ende zerplatzt. Hilfreich ist auch die Perspektive des Naiven, die der Film einnimmt, wenn er vom bzw. durch den Friseur erzählt. Ausgerechnet diese klassische Stummfilmfigur des Tramps avanciert zum mutigen politischen Mittel gegen Faschismus.

Dieser wächst bei seiner berühmten und vielzitieren Abschlussrede über sich hinaus, wenn er sich in einem ergreifenden, gänzlich unkomödiantischen Appell ans Publikum und damit gerade auch an die einfachen Leute richtet, sich gegen Gier und somit gegen Kapitalismus, aber für Menschlichkeit und Frieden ausspricht und betont, dass es nur mit einem solchen Film nicht getan ist, sein Publikum also in die Realität zurückholt. Zuvor ist der Film zu einer Verwechslungskomödie geworden, das bis dahin schon so lange Naheliegende endlich auskostend: die äußerliche Ähnlichkeit zwischen beiden Charakteren, die aufgrund der damaligen Mode auch in der Realität zwischen Chaplin und Hitler bestand.

„Der große Diktator“ ist derart dynamisch ausgefallen, dass er zu keinem Zeitpunkt in Langatmigkeit oder aus Verlegenheit integrierte Wiederholungen verfällt, obwohl er mit über zwei Stunden Laufzeit insbesondere für damalige Verhältnisse relativ lang ist. Wie der immer sehr auf seine respekteinflößende Außenwirkung bedachte Hitler zu einem infantilen, albernen Typen degradiert wird, ist ebenso gelungen wie unterhaltsam und zeigt, weshalb sich die Frage, ob man Nazis parodieren darf, eigentlich nicht zu stellen braucht: Ihre Agenda ist die Angst; macht man sich über sie lustig, verlieren sie bereits ein gutes Stück ihrer Macht.

Chaplins Film verhandelt auf fulminante Weise Themen wie Widerstand und Solidarität, spart in seiner Personalisierung faschistischer Herrschaft jedoch den Anteil eines Großteils der Bevölkerung aus, der die faschistische Machtergreifung erst ermöglichte. Als das satirische Psychogramm Hynkels, das der Film zu großen Anteilen ist, wäre er damit möglicherweise überfordert gewesen, weshalb man ihm das nur schwerlich zum Vorwurf machen kann. Und so kann man fast froh sein, dass Chaplin seinerzeit das ganze Ausmaß des NS-Terrors noch nicht bekannt war, weil anderenfalls dieser wertvolle Film wohl nie entstanden wäre.
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Kanak Attack

In der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Vollbeschäftigung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren herrschte ein Mangel an Arbeitskräften für geringe Qualifikationen erfordernde Tätigkeiten. Die Bundesregierung schloss daher Anwerbeabkommen mit diversen, meist südeuropäischen Staaten ab, darunter im Jahre 1961 auch mit der Türkei. Die meisten türkischen Arbeitsimmigrantinnen und -immigranten blieben in Deutschland und bemühten sich um Familiennachzug und/oder gründeten in Deutschland neue Familien. Seitdem stellen Türkinnen und Türken sowie türkischstämmige Deutsche die größte ethnische Minderheit Deutschlands dar.

Im Zuge dessen wurde sich nicht nur auf politischer Ebene, in Form von Zeitungs-/Zeitschriftenartikeln, Sachbüchern oder im Rahmen gesellschaftlicher Diskussionen mit dem diesem Phänomen auseinandersetzt, sondern auch im filmischen Bereich. Neben Reportagen und Dokumentationen/Dokumentarfilmen wurden und werden auch Spielfilme fürs Fernsehen und fürs Kino quer durch diverse Genres produziert, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema auseinandersetzen. Der Cross-Culture- bzw. der deutsch-türkische Film war geboren. Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ aus dem Jahre 1974 war der erste bundesdeutsche Spielfilm über Migration, Helma Sanders-Brahms‘ „Shirins Hochzeit“ folgte 1976 als erster deutscher Spielfilm, der sich speziell der türkischen Migration widmete. „40 qm Deutschland“ von Regisseur Tevfik Baser war 1986 der erste Film eines Türken über türkische Migration nach Deutschland.

Im Jahre 2000 gelangte Regisseur Lars Beckers Spielfilm „Kanak Attack“ in die deutschen Lichtspielhäuser, der seinen Fokus speziell auf in Deutschland geborene, jugendliche Nachkommen der ersten und zweiten Arbeitsimmigrant(inn)en-Generation richtet und im kriminellen Milieu angesiedelt ist. Diese Generationen waren und sind immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse, gelten häufig als überdurchschnittlich aggressiv und/oder kriminell und sind Ziel von Anfeindungen, Vorurteilen und ausländer(innen)feindlichen Ressentiments.

Der rund 80-minütige deutsche Spielfilm „Kanak Attack“ von Regisseur Lars Becker basiert lose auf dem Roman „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ Feridun Zaimoğlus aus dem Jahre 1997 und weist ferner Einflüsse aus Zaimoğlus halbfiktionalem Buch „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ auf. Der Filmtitel wiederum referenziert auf die ebenfalls von „Kanak Sprak“ inspirierte Aktivist(inn)engruppe „Kanak Attak“, die sich u. a. um die positive Aneignung des Begriffs „Kanake“ bemühte. „Kanak Attack“ griff in seinem Veröffentlichungsjahr 2000 die Erlebniswelten krimineller türkischer oder türkischstämmiger Mitbürger der zweiten und dritten Migrantengenerationen in Deutschland in episodischer Form auf und vermengt typische Elemente eines Dramas mit denen einer Komödie, speziell denen einer Gangsterkomödie, weshalb sich für ihn die Kofferwortkreation Dramödie anbietet. Aufgrund seiner Unterteilung in 13 einzeln benannte „Storys“ handelt es sich zudem um einen Episodenfilm. Drehorte des Spielfilms sind Kiel, Hamburg, Vechta und Istanbul. Achtung: Im Folgenden spoilert diese analytische Rezension die Handlung!

Regisseur Lars Becker wurde 1954 in Hannover geboren, ist Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und wohnhaft in Hamburg. Das Drehbuch hat Becker zusammen mit Bernhard Wutka nach dem nach Autorangaben Tatsachenroman „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ verfasst. Finanziert wurde „Kanak Attack“ mit einer Million DM von der Filmförderung Hamburg, 950.000 DM von der Filmförderung Westfalen und 1,1 Millionen DM vom Zweiten Deutschen Fernsehen sowie den privaten Produzenten Bavaria Film und Becker & Häberle. „Kanak Attack“ wurde mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren in den deutschen Kinos aufgeführt und erlangte in bestimmten Rezipient(inn)enkreisen Kultstatus.

Auf der narrativen Ebene erzählt „Kanak Attack“ Geschichten aus dem Leben Ertans (Haluk „Luk“ Piyes, „Die Mädchenfalle – Der Tod kommt online“) und Kemals (David Scheller, „Die HonigKuckucksKinder“), zwei jungen Kielern türkischer Abstammung der zweiten und dritten Generation. Angesiedelt im kriminellen Milieu, dreht es sich bei ihnen um Drogengeschäfte und -konsum, Geldeintreiberei und das Rotlichtmilieu bis hin zu bewaffneten Überfällen, Mordversuchen und Toten. Die Titel der einzelnen, „Storys“ genannten Episoden werden jeweils in Textform eingeblendet: „Die Beerdigungs-Story“, „Die Bargeld-lacht-Story“, „Die Spielhallen-Überfall-Story“, „Die Abschiebe-Story“, „Die Vater-Story“, „Die Istanbul-Story“, „Die Kranke-Mann-Story“, „Die Puff-Aufmisch-Story“, „Die Verräter-Story“, „Die Glorreichen-Sieben-Story“, „Die Geldeintreiber-Story“, „Die Burger-Überfall-Story“ und „Die Anfang-vom-Ende-Story“.

Ertan ist nicht nur die Hauptfigur, sondern führt auch als Erzähler aus dem Off durch den Film. Zunächst stellt er seine Clique vor. Bereits zu Beginn, nach den Bildern einer Aufnahme persönlicher Daten bei der Polizei, wurde ein Gewaltausbruch platziert: Ein Pfandleiher (Hilmi Sözer, „Voll Normaaal“) erschießt Farouk (Sekou A. Neblett), einen Freund der beiden, der als Zuhälter arbeitete. Die Prostituierten Sandra (Nadeshda Brennicke, „Die Straßen von Berlin“) und Yonca (Oezlem Cetin) würden fortan gern unter Ertans Schutz arbeiten, der daraufhin mit dem türkischen Bordellbetreiber Attila (Ercan Durmaz, „Aprilkinder“) aneinandergerät, der selbst Interesse an den beiden Prostituierten hat. Ertan wiederum möchte mit Prostitution und Zuhälterei eigentlich nichts zu tun haben. Die Situation spitzt sich dennoch immer weiter zu. Ertan und Kemal überfallen dilettantisch und unter Drogeneinfluss stehend eine Spielhalle und werden verhaftet. Ertan versucht, einen „Deal“ mit der Polizei in Person Hauptkommissar Lorants (Andreas Hoppe, Ludwigshafener „Tatort“) auszuhandeln und wird anschließend Zeuge brutaler Polizeigewalt gegen Kemal. Dieser wird in die Türkei abgeschoben. Nachdem Ertan für seinen Vater Schulden beim Betreiber eines Döner-Imbiss (möglicherweise handelt es sich um Schutzgelderpressung, das bleibt unklar) eingetrieben und zusammen mit Freunden den Pfandleiher zusammengeschlagen hat, besucht er Kemal in Istanbul. Dort besorgen sie sich Heroin zum Verkauf und konsumieren es auch selbst. Ertan wird infolgedessen abhängig von der Droge.

Ertan besucht seinen Onkel Bülent (Ralph Herforth, „Knockin' on Heaven's Door“) in einer Nervenheilanstalt, wo dieser infolge eines Nervenzusammenbruchs und paranoider Wahnvorstellungen stationiert ist. Obwohl die ganze Familie anwesend ist, ist Ertan der einzige, der Bülent zu verstehen scheint und im Dialog zu ihm durchdringt, um in ihm neuen Lebensmut zu entfachen. Nach einem Bordellbesuch wird Ertan von Attila und dessen Männern zusammengeschlagen und in die Kieler Bucht geworfen. Ertan überlebt, doch spätere Auseinandersetzungen fordern nicht nur Schwerverletzte, sondern mit Ertans Freund Mehdi (Tyron Ricketts, „Die Todesfahrt der MS SeaStar“) auch einen Toten: Er stirbt infolge eines Schädelbasisbruchs. Nachdem Kemal nach Deutschland zurückgekehrt ist, werden Ertan und er von der Polizei überführt, wegen Drogenhandels angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Dies wurde dadurch begünstigt, dass Kemal gegen Ertan ausgesagt hat. Nichtsdestotrotz bilden sie im Gefängnis eine Art Gang und provozieren u. a. eine Massenschlägerei. Nach ihrer Haftentlassung überfallen sie eine „Burger King“-Filiale. Anschließend kommt es zu einer finalen Konfrontation mit Attila, in deren Zuge Kemal erschossen wird und Ertan daraufhin Attila erschießt. Ertans Werdegang führt wieder ins Gefängnis, diesmal wahrscheinlich für eine lange Zeit.

Im Roman stehen die Episoden wie Kurzgeschichten stärker für sich selbst als im Film, der ein episodenübergreifendes horizontales Narrativ aufweist. So spielen selten dieselben Nebenfiguren in mehreren „Storys“ eine Rolle. „Storys“ existieren im Roman 35, also 22 mehr als im Spielfilm. Sie weisen im Roman keine einheitliche Chronologie auf. Die Verfilmung verdichtet einige der „Storys“ zu einer zusammenhängenden, aufeinander aufbauenden Handlung. Die Nebenfiguren des Films wie Kemal, Mehdi, Atilla oder Zlatko sind nur ansatzweise oder überhaupt nicht im Roman enthalten.

Einer der bedeutendsten Unterschiede jedoch ist die Charakterisierung Ertans: Im Roman ein eiskalter Verbrecher, wurde seine Filmrolle als eher jugendlich charmant gezeichnet, sodass er die Sympathien der Rezipientinnen und Rezipienten für sich gewinnen kann – passend zum veränderten Tonfall des Films gegenüber dem Roman. Denn während der Roman Ertans Erlebnisse betont unangenehm bis abstoßend beschreibt, lässt sich der Film als ein von Humor durchsetztes, urbanes Abenteuer konsumieren.

Der moritatische Spielfilm „Kanak Attack“ vermengt im Stile einer Gangsterkomödie dramatische und komödiantische Elemente miteinander, wobei insbesondere gefährlichen und tragischen Momenten mit demonstrativer Lockerheit und Gleichgültigkeit begegnet wird. Herunterbrechen ließe sich dies auf die einfache Formel „dramatischer Inhalt, komödiantisch inszeniert“. Vermittelt wird dadurch der Eindruck, dass den Protagonisten des Spielfilms ihre Misserfolge, ihre Verluste und ihre persönliche und gesellschaftliche Situation nicht viel ausmachen. Der Eindruck, sich mit ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft abgefunden zu haben, wird durch Aussagen Ertans wie „Unser ganzer eigener Stil ist Kanake!" oder „Ficken und gefickt werden – so ist die Welt.“ verstärkt. Der Spielfilm wird aus Ertans Perspektive erzählt und moralisiert nicht, weil Ertan dies auch nicht tut. Seinem Verhalten liegt ein eigener Ehrenkodex zugrunde, der sich von dem der rechtschaffenden Bevölkerung unterscheidet. Es ist der Kodex einer Art Parallelgesellschaft.

An dieser Parallelgesellschaft lässt „Kanak Attack“ die Rezipientinnen und Rezipienten teilhaben. Mit dem beschriebenen Erzählstil besitzt der Spielfilm das Potential, auf diejenigen Rezipientinnen und Rezipienten, die sich in Teilen oder vollumfänglich mit der Figur Ertan identifizieren können – beispielsweise aufgrund eines ähnlichen familiären Hintergrunds oder einer ähnlichen sozialen Situation –, in besonderer Weise faszinierend bis nachahmenswert zu wirken, weil Ertan in seiner „Coolheit“, der Lakonie, mit der er nahezu alles wegzustecken scheint, Vorbildfunktion einnehmen könnte. Dass der Spielfilm kein Happy End im klassischen Sinne, also aus Sicht des Protagonisten, hat, könnte eventuell abschreckende Wirkung haben, aber auch als eine Alibifunktion erfüllendes Zugeständnis an gängige Moral- und Gerechtigkeitsnormen empfunden werden.

Zugleich ermöglich die Rezeption des Films aber auch einen Einblick in ein fremdes Milieu, das verbreitete Vorurteile über Gastarbeiter(innen) genannte Arbeitsimmigrant(inn)en bzw. vielmehr deren Nachkommen zu bestätigen scheint. Das Klischee des „kriminellen Ausländers“ wird durch den Film bedient, wenngleich er (im Gegensatz zur Literaturvorlage) nie für sich in Anspruch nimmt, die Realität abzubilden oder sein Figurenensemble stellvertretend für die Mehrheit der jeweiligen Bevölkerungsgruppe bzw. Minderheit stehen und agieren zu lassen. Dennoch wird deutlich, dass Ertan und Konsorten kein isoliertes Einzelphänomen sind. Durch die trotzige Selbsttitulierung und -inszenierung Ertans als „Kanake“ wird auf eine größere Bevölkerungsgruppe referenziert, worauf auch der Filmtitel hinweist.

„Kanak Attack“ verbildlicht ferner Elemente aus der Hip-Hop-Jugend- und -Subkultur. An den Umgang mit Schallplatten von Hip-Hop-Discjockeys, speziell das Scratchen, erinnernde Stilelemente wie Beschleunigungen, Freeze Frames, Jumpcuts u. ä. verbinden die Bilderwelt des Films mit seiner musikalischen Untermalung aus demselben Bereich und erzeugen bisweilen eine Ästhetik ähnlich der einschlägiger Musikvideos. Diese Kombination wiederum verdeutlicht die Verbindung zwischen dem „Kanaken“- und Kleinkriminellenmilieu und der Hip-Hop-Subkultur, in der u. a. fragwürdige selbsternannte „Gangta-Rapper“ Rücksichtslosigkeit, Materialismus und Sexismus predigen und den Eindruck vermitteln, Kriminalität und Gewalt führe zu Ansehen, Ruhm und Reichtum, womit sie bei ihrer Klientel in der Regel Vorbildfunktion genießen. Im Kontrast dazu steht jedoch die Realität, die sich für Ertan häufig in abweisend und spärlich ausgestatteten Räumen wie seiner Hochhauswohnung oder dem Polizeirevier widerspiegelt.

Trotz Ertans Selbsttitulierung als „Kanake“ und der Bezugnahme des Spielfilmtitels auf die Aktivist(inn)engruppe „Kanak Attak“ bleibt der Spielfilm jedoch weitestgehend frei von politischer bzw. gesellschafts- oder sozialkritischer Konnotation. Die Aktivist(inn)engruppe über ihr Selbstverständnis:

„Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ,Identitäten‘ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen. Wir wenden uns schlicht gegen jeden und alles, was Menschen ausbeutet, unterdrückt und erniedrigt. Erfahrungen, die keineswegs nur auf die sog. ,Erste Generation‘ von Migranten beschränkt bleiben. Das Interventionsfeld von Kanak Attak reicht von der Kritik an politisch-ökonomischen Herrschaftsverhältnissen und kulturindustriellen Verwertungsmechanismen bis hin zu einer Auseinandersetzung mit Alltagsphänomenen in Almanya. Wir setzen uns für die allgemeinen Grund- und Menschenrechte ein, […].“

Dieses Selbstverständnis spiegelt sich im Film in kaum einer Weise wider. Ertan und Konsorten erscheinen nur wenig selbstreflektiert und an Politik und Gesellschaft komplett desinteressiert.

Der „Filmdienst“ kritisiert: „[…] Vorurteile bekräftigendes Bild der (kleinkriminellen) zweiten und dritten türkischen Migranten-Generationen […].“ Bekräftigt und schürt der Film also Vorurteile und bestätigt ausländerfeindliche Ressentiments? Tatsächlich bewegt sich der Film ausschließlich im kriminellen migrantischen Milieu, das für die Protagonisten Normalität, normaler Alltag zu sein scheint. Damit bedient er sich eines verbreiteten Stereotyps des „kriminellen Ausländers“, das auch in den Medien häufig auftaucht.

In ihrem Aufsatz „Wie Medien über Migranten berichten“ vergleichen Georg Ruhrmann und Songül Demren mehrere inhaltsanalytische Massenmedienstudien miteinander und kommen zu folgendem Schluss: „Alle Studien zeigen, daß die Medien ein eher negatives Image der hier lebenden Migranten verbreiten. Dieses Image beeinflusst die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit der Inländer. Sie befördern aber auch desintegrative Tendenzen der ausländischen Wohnbevölkerung, die allerdings wesentlich auch kulturelle, ökonomische und sozialpsychologische Gründe hat (vgl. Bade 1994; Maletzke 1996; Hettlage 1997; Nuscheler 1998) […].“

Und der Soziologe Rainer Geißler fasst wie folgt zusammen:

„Ein unkritischer Umgang mit den offiziellen Kriminalstatistiken, die die Selektionsvorgänge, Fehler und Unzulänglichkeiten der Strafverfolgung im Dunkeln lassen und mit einem höchst problematischen Konzepts des ,Ausländers‘ arbeiten, kann dazu führen, dass sich integrationshemmende Vorurteile über das kriminelle Verhalten von Migranten verbreiten. Durch eine differenziertere Aufschlüsselung des ,Ausländer‘-Konzepts lässt sich belegen, dass sich die (ausländischen) Arbeitsmigranten mindest [sic] genauso gut an die Gesetze halten wie die Deutschen. Und die Beachtung des Faktors Schicht lässt den Schluss zu, dass die (ausländischen) Arbeitsmigranten erheblich gesetzestreuer sind als Deutsche in vergleichbarer Soziallage. Neuere Dunkelfeldstudien machen allerdings deutlich, dass ein Teil der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien deutlich anfälliger gegenüber schwereren Delikten (Gewalttaten, Einbruchdiebstahl) ist als Deutsche – ein Phänomen, das mit strukturellen Integrationsdefiziten im ökonomischen und sozialen Bereich (Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildungschancen, ethnische Cliquenbildung, zunehmende Ausgrenzung in den 1990er Jahren) sowie mit Besonderheiten der mitgebrachten Kulturen (familiale Gewalt, Männlichkeitsnormen) zusammenhängt.“

Die Massenmediale Berichterstattung über „Ausländer“ konzentriere sich insbesondere auf negative Ereignisse wie (steigende) Kriminalität; Unterscheidungen zwischen Gesetzesbrüchen, die lediglich von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden können (wie Verstöße gegen das Ausländerrecht), und solchen, die sowohl Deutsche als auch Nichtdeutsche begehen könnten, fänden häufig nicht statt. In daraus resultierenden Analysen und Diskussionen werde die alleinige Verantwortung bei den Täterinnen und Tätern gesucht und soziale Begleitumstände sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen außer Acht gelassen.

Insofern muss einerseits davon ausgegangen werden, dass sich der Spielfilm „Kanak Attack“ an der negativen Berichterstattung der Massenmedien orientiert und selbst zu einem ein negatives Bild zeichnenden Medium wird. Die Filmhandlung stellt keinen konkreten Bezug zu den Umständen her, unter denen Ertan und sein Umfeld so wurden, wie sie sind. Für die Entstehung des Milieus, in dem sie sich aufhalten, werden keine Erklärungen geliefert. Es wird als eine von der deutschen Gesellschaft weitestgehend isolierte Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln und Gesetzen gezeichnet, deren kriminelle und gewalttätige Vorgänge jedoch immer wieder die Polizei auf den Plan rufen. Ein Milieu also, das gefährlich ist und von dem man sich besser fernhält. Die Rezipientinnen und Rezipienten werden zudem im Unklaren darüber gelassen, wie viele sich gesetzestreu verhaltende Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten es gibt, sodass diese Ertan und Konsorten nicht als Positivbeispiele gegenübergestellt werden können.

Andererseits versucht „Kanak Attack“ auch nicht, wie bereits angeschnitten, bewusst den Eindruck zu erwecken, es handele sich bei seiner Handlung um eine Abbildung der Realität. Durch die komödiantische, sich an Gangsterkomödien seiner Zeit orientierenden Ausrichtung wird die Fiktionalität des Inhalts deutlich. Der gesamte, zum Teil artifizielle Stil des Films unterscheidet sich stark von dem eines Dokudramas. Ferner behauptet „Kanak Attack“ auch, wie ebenfalls bereits erwähnt, zu keinem Zeitpunkt, seine Protagonisten stünden stellvertretend und exemplarisch für die Mehrheit der Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Dennoch sind die männlichen Figuren unschwer als solche zu erkennen, die statistisch häufiger bei bestimmen, nicht-migrantenspezifischen Straftaten in Erscheinung treten, im Gegensatz zu ihrer Eltern- bzw. Großelterngeneration nicht besonders defensiv, unauffällig und gesetzestreu agieren und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen verinnerlicht haben. Die Inspiration für diese Figuren ist also durchaus der Realität entlehnt.

Das Potential, eine negative Vorbildfunktion für Heranwachsende, geistig und moralisch noch nicht gefestigte Jugendliche, zu selektiver Wahrnehmung neigende, die negativen Folgen für die Protagonisten ausblendende oder labile Erwachsene einzunehmen, sollte daher nicht unterschätzt werden. Gerade durch den Umstand, dass Ertan als lässiger, cooler Typ gezeichnet wird, der auch eine ausgeprägte menschliche Seite besitzt, tritt er als Sympathieträger und Identifikationsfigur auf. Und so, wie Ertan sämtliche Vorurteile gegen „Kanaken“ für sich anzunehmen und keinen Sinn (mehr?) darin zu sehen scheint, sie zu entkräftigen, sie stattdessen immer wieder aufs Neue bestätigt, kann die Identifikation mit seiner Figur zu nachahmendem Verhalten bei bestimmten Rezipientinnen und Rezipienten führen, die dieser Fiktion in der Realität nacheifern, damit ausländerfeindliche Ressentiments bestätigen und diejenige Kriminalität, die so vielen Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten nachgesagt wird, in der Realität in die Tat umsetzen.

Doch „Kanak Attack“ verfügt über ein weiteres Potential: diejenigen, die genügend Distanz zum gezeigten Milieu haben, zum Lachen zu bringen. Dies kann ein überhebliches, sozialchauvinistisches Lachen sein, ein Auslachen Ertans und seiner Freunde, es kann aber auch ein indirektes Lachen über sich selbst sein, handelt es bei der rezipierenden Person um jemanden, der selbst einmal einem solchen oder einem ähnlichen Milieu angehörte, dem es jedoch gelungen ist, es hinter sich zu lassen, und der die Missgeschicke und -erfolge Ertans und Konsorten so oder so ähnlich in seiner eigenen Biografie wiedererkennt. Eventuell erlangt er diese Fähigkeit zur Selbstironie gar erst durch den Humoranteil des Spielfilms, durch den lange Zeit wenig ernsten Umgang mit den im Spielfilm behandelten Themen. Ein weiteres mögliches Lachen kann das jener Menschen sein, die sich im Alltag vor Menschen wie Ertan und Konsorten sowie ihrem Milieu fürchten. In diesem Falle kann das Lachen befreiend und beinahe therapeutisch wirken. Wie so häufig bei Spielfilmen ist die Wirkung des Films also stark abhängig von der individuellen Sozialisation, Erwartungshaltung und geistigen Verfassung der Rezipientinnen und Rezipienten.

Fazit:

„Kanak Attack“ zeichnet ein Milieu in komödiantisch überspitzter Form nach, das in ähnlicher Weise in der Realität anzutreffen ist. Seine Hauptfigur Ertan wird zum Antihelden eines kriminellen Umfelds, das er selbst aktiv mitschafft. Er ist zugleich Täter und Opfer, da sein Lebenswandel auch negative Konsequenzen für ihn persönlich nach sich zieht und es ihm nicht gelingt, sich aus dem Bereich des Milieus, von dem er sich zu distanzieren versucht, dem Prostitutions- und Zuhältergewerbe, erfolgreich herauszuhalten. Wie in einem Strudel wird er gegen seinen Willen mit hineingezogen.

Obschon dieses kriminelle Milieu, dem viele Migrant(inn)en bzw. Migrantennachkommen angehören, in der Realität existiert, wird die sog. Ausländerkriminalität für gewöhnlich überschätzt. Diesbezüglich ein differenzierteres Bild zu liefern, vermag der Spielfilm „Kanak Attack“ nicht und dies ist auch nicht sein Anliegen. Somit kann er durchaus dazu beitragen, Vorurteile und Ressentiments zu zementieren.

Dies ist jedoch stark von der Haltung der Rezipierenden abhängig. Die Möglichkeit der vorurteilsfreien Rezeption besteht ebenso. Hierfür müsste der Film als ein rein fiktionales Produkt zu Unterhaltungszwecken betrachtet werden, der behaupteten Authentizität der für die Spielfilmadaption stark abgewandelten Romanvorlage zum Trotz. Der sich grob an den Gangsterkomödien seiner Zeit orientierende Spielfilm besticht gerade dadurch, dass er so vieles für den Großteil der Rezipierenden Ungewöhnliche zur Normalität seiner Figuren erklärt, innerhalb diese agieren. Dieses Stilelement kann als provokant aufgefasst werden, ist jedoch Ausdruck der trotzigen Selbstidentifikation mit dem Dasein als unterprivilegierte Minderheit der „Kanaken“, die erst gar nicht mehr versucht, ein Teil der rechtschaffenden Bevölkerung zu werden.

Vieles in negativer Medienberichterstattung Stattfindende findet seine filmische Entsprechung in „Kanak Attack“, jedoch nicht alles: Weder fällt Ertan durch übermäßig ausgeprägten Machismo noch durch unkontrollierte Gewalteruptionen oder besondere Grausamkeit gegenüber seinen Mitmenschen auf. Diese Eigenschaften werden eher Atilla und dessen Gefolgsleuten zuteil. Das Identifikationspotential, das mit der als durchaus sympathisch charakterisierten Figur Ertans einhergeht, kann problematisch werden, wenn sich gesellschaftlich an den Rand gedrängt fühlende Migrantennachkommen, die nur noch wenige oder gar keine Chancen sehen, jemals vollumfänglich in „der normalen Gesellschaft“ anzukommen bzw. von ihr akzeptiert zu werden, ihn sich zum Vorbild nehmen und sich von dessen „Coolness“ beeindruckt zeigen.

Resultierten daraus dann Nachahmungstaten, würden diese medial aufgegriffen und verbreitet werden, was wiederum ein negatives Bild innerhalb einer Gesellschaft zu verfestigen hülfe, in der negative Abweichungen von der Norm weitaus stärker auffallen als beispielsweise die Majorität der Migrantinnen und Migranten bzw. derer Nachkommen, die kaum oder gar nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Das Aufgreifen realer Ereignisse und Phänomene, um aus ihnen Inspiration für das Drehbuch zu einem Unterhaltungsfilm zu schöpfen, kann im Sinne der Kunstfreiheit jedoch keinem Filmschaffenden zum Vorwurf gemacht werden, solange nicht versucht wird, negative Handlungen minderprivilegierter gesellschaftlicher Minderheiten als exemplarisch für die überwiegende Mehrheit derselben herauszustellen. Und dies ist bei „Kanak Attack“ nicht der Fall.
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Tatort: AE 612 ohne Landeerlaubnis

„Are you alright?“

Mit dem „Tatort: AE 612 ohne Landeerlaubnis“ konnte die öffentlich-rechtliche Krimireihe ein kleines Jubiläum feiern: Der am 12. September 1971 erstausgestrahlte dritte Einsatz für den Hamburger Kriminalhauptkommissar Trimmel (Walter Richter) war die bis dahin zehnte Episode. Regisseur Peter Schulze-Rohr, damals ein Stammregisseur der Reihe und verantwortlich für den Serienauftakt „Taxi nach Leipzig“, inszenierte sie nach einem Drehbuch Friedhelm Werremeiers.

„Sie haben schlechte Nerven!“

Der Deutsche Max Bergusson (Günter Mack, „Der Fall Liebknecht-Luxemburg“) verfolgt auf dem Mailänder Flughafen heimlich den Palästinenser Femal Racadi (Joe Bogosyan, „Durchs wilde Kurdistan“), der mit der Air-Europe-Maschine 612 über Athen nach Beirut in den Libanon reisen möchte. Nachdem Bergusson Racadis Ziel kennt, bucht er denselben Flug und versucht vorher noch erfolglos, den Hamburger Kommissar Trimmel telefonisch zu erreichen. Nachdem der Flieger gestartet ist, schleicht sich Bergusson zu Flugzeugkapitän Feininger (Heinz Bennent, „Die letzte Metro“) ins Cockpit, bedroht ihn mit einem Revolver und zwingt ihn, die Route in Richtung Hamburg zu ändern. Feininger versucht, den Mann zu beruhigen, tut aber, was er sagt. Die Nachricht von der Entführung dringt bis zu Trimmel vor, der die Flugsicherung informiert und herauszufinden versucht, wer Bergusson ist und was sein Motiv sein könnte. Schließlich erinnert er sich: Bergussons Ehefrau starb in der Hansestadt nach einem palästinensischen Bombenattentat, die Beweise gegen den mutmaßliche Täter Racadi reichten jedoch nicht aus. Nun will Bergusson Selbstjustiz verüben, doch Racadi bemerkt die Kursänderung, bringt Stewardess Gaby (Petra Fahrnländer, „Sparks in Neu-Grönland“) in seine Gewalt und versucht, den Flug zurück in Richtung Beirut zu lenken. Eine Patt-Situation, auch für die Piloten und die verängstigten Fluggäste…

„Schmeißt sofort diesen Halbaffen raus!“

Dieser „Tatort“ greift den damals aktuellen Terrorismus bewaffneter palästinensischer Befreiungsarmeen auf und stand offenbar unter dem Eindruck zeitgenössischer Katastrophenfilme wie „Airport“ und Konsorten. Die Exposition kann mit schönen Bildern Mailands und viel Flughafenstimmung punkten, wenn Bergusson geheimnisvoll, aber nervös durch die Gänge und Schalter schleicht. Nur langsam und dadurch besonders spannend entspinnen sich Bergussons Motiv und die Hintergrundgeschichte beider Delinquenten. Während Racadi relativ abgeklärt wirkt, ist Bergusson anzumerken, dass er eigentlich kein Krimineller und schon gar kein Flugzeugentführer ist. Die von zahlreichen Funksprüchen unterbrochenen Dialoge zwischen Pilot, Kopilot und ihm sind psychologisch ausgefeilt, wobei Feininger sehr besonnen bleibt und sich lange Zeit unbeeindruckt gibt.

Ganz anders Trimmel, der hier keine besonders gute Figur macht: Erst droht er einem Polizisten Schläge an, sollte dieser nicht Stillschweigen darüber bewahren, dass er damals im Fall Racadi etwas verbockt hat, und dann führt sein eigenmächtiges Vorgehen in Bezug auf die Flugzeugentführung fast zu einer Katastrophe. Für die Lösung des Falls muss er letztlich auf das couragierte Eingreifen zweier Zivilisten sowie Feiningers Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis vertrauen, wodurch (Achtung: Spoiler!) es glücklicherweise keine Toten zu beklagen gibt. Durch diese beiden Faktoren nimmt dieser mit seinen rund 105 Minuten überlange „Tatort“ eine Sonderstellung ein. Den damals obligatorischen Gastauftritt legt der österreichische Bezirksinspektor Wirz (Kurt Jaggberg) hin, mit dem Trimmel zwecks Informationsbeschaffung telefoniert. Wirz war der Assistent Oberinspektor Mareks, der von 1963 bis 1970 seine autarke TV-Serie im österreichischen Fernsehen hatte, bevor diese ab 1971 in die „Tatort“-Reihe eingemeindet wurde und das Duo Marek/Wirz diese um Wiener schmäh erweiterte.

Etwas artfremd erscheint die zwischendurch eingefügte Szene einer kiffenden Kommune o.ä. (inklusive kurz aufblitzender nackter Frauenbrust), wobei aber generell fast alle in diesem „Tatort“ permanent am Qualmen sind. Im Flugzeug befindet sich auch ein hin und wieder fokussiertes schwules Pärchen, ein weiterer progressiver Ansatz dieses „Tatorts“. Racadis Freundin Angelica (Ilona Grübel, „Peter und Sabine“) ist ein ausgesprochen hübsches Naivchen, während man im Falle der Stewardessen davon absah, diese als dümmlich oder reine Staffage zu zeichnen. Schauspielerisch überzeugt insbesondere Günter Mack in seiner Rolle als tragische Figur. Der politische Aspekt der zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser spielenden Handlung wird um den Kalten Krieg ergänzt, als das Flugzeug zu weit gen Osten abzudriften droht. „AE 612 ohne Landeerlaubnis“ ist nicht weniger als ein superber, spektakulärer „Tatort“, der zum echten Nägelkauer avanciert und dem der Spagat zwischen Katastrophen-Krimi-Thrill auf der einen und familienfreundlichem Verzicht auf allzu starke Grausamkeiten formidabel gelingt!
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Pleasure

„Are you here for business or for pleasure?”

Die schwedische Nachwuchsregisseurin Ninja Thyberg veröffentlichte bereits im Jahre 2013 einen (mir unbekannten) Kurzfilm namens „Pleasure“, dessen Thema – ein Blick hinter die Kulissen der Pornoindustrie – sie nach vielen persönlichen Recherchen in der Branche mit dem 2021 auf diversen Festivals präsentierten, schwedisch-niederländisch-französisch produzierten und 2022 auch hierzulande in die Kinos gekommenen „Pleasure“ auf abendfüllende rund 100 Minute ausdehnte. Das Ergebnis als Drama zu kategorisieren, trifft es einerseits, liefert andererseits aber kaum einen Eindruck davon, mit welch einem Film man es zu tun bekommt.

„For pleasure.“

Die 19-jährige Linnéa (Sofia Kappel) siedelt aus der langweiligen schwedischen Einöde ins neonbunte Los Angeles um, ein Ziel fest vor Augen: unter dem Pseudonym Bella Cherry ein Pornostar zu werden. Ihre Scheu vorm ersten Dreh überwindet sie mithilfe des freundlichen Drehteams und möchte anschließend mehr, vor allem raus aus der Wohngemeinschaft, in der ihr Agent sie mit seinen anderen Darstellerinnen untergebracht hat. Bald verinnerlicht sie die Regeln, nach denen die Branche funktioniert: Höhere Aufmerksamkeit und dadurch mehr Reichweite durch immer extremere Praktiken vor der Kamera erzielen. Zum Vorbild nimmt sie sich „Spiegler-Girl“ Ava (Evelyn Claire, „Trashy Love Story“), die Verkörperung der aktuellen Porno-Elite…

Thyberg hält sich und ihr Publikum gar nicht erst mit einer langen Charakterisierung oder Vorgeschichte Linnéas auf, stattdessen entsteht der Eindruck einer selbstbewussten, mutigen und moralistisch nicht vorbelasteten jungen Frau auf der Suche nach einem großen Abenteuer – und nach Schwänzen. Nachdem die feministische Thyberg in der Vergangenheit anscheinend Pornos gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt war, nimmt „Pleasure“ eine sexpositive, weibliche und zunächst weitestgehend neutrale Perspektive auf die Porno-Branche ein, die sie gekonnt aufs Publikum ihres Films überträgt. Es ist ok, Pornodarstellerin zu sein, es ist ok, Bock auf Schwänze zu haben (wie es Linnéa so oder ähnlich formuliert) – und es ist ok, Pornos zu drehen. Linnéas erster Dreh zeigt ein professionelles Team, das ihr gegenüber routiniert seiner Informationspflicht nachkommt und für ein Umfeld sorgt, in dem sie sich keine Sorgen zu machen braucht, ihr jederzeit die Möglichkeit bietet, abzubrechen, und das generell einen fairen Eindruck hinterlässt. Anfänglich hadert und zweifelt sie, ist kurz davor, einen Rückzieher zu machen – zieht dann aber durch, ist stolz auf sich und angefixt. Im Prinzip also ähnlich wie bei „normalem“ Sex außerhalb von Pornodrehs.

Den aus der Hose schnellenden erigierten Penis bekommt man in Großaufnahme zu sehen, die Penetration jedoch nicht bzw. ganz anders als in Pornos – aus Linnéas Perspektive nämlich. Dieser sich durch den Film ziehende darstellerische Kniff trägt dazu bei, dass sich der bis auf Kappel überwiegend aus tatsächlichem Personal jener Branche rekrutierende „Pleasure“ all seiner Freizügigkeit zum Trotz eben nicht wie ein herkömmlicher Porno rezipieren lässt, der typische Male gaze greift hier nicht. Davon einmal abgesehen findet kein echter Sex vor der Kamera statt. Linnéa jedenfalls ist geil auf mehr, kommt jedoch zunächst in der wenig glamourösen Darstellerinnen-WG unter, wo sie eine freundschaftliche Beziehung zu Joy (Zelda Morrison alias Revika Anne Reustle, „Big Black Cock Gave Me My First Orgasm“) knüpft, einer Darstellerin aus dem White-Trash-Milieu.

Doch bald greifen ganz ähnliche Mechanismen wie in anderen Branchen: Um „voranzukommen“ und Karriere zu machen, muss Linnéa möglichst schnell ihre Popularität ausbauen, wofür regelmäßige Beiträge in sozialen Netzwerken nicht ausreichen. Ihre Drehs müssen spektakulärer, extremer werden. Also versucht sie sich an einem BDSM-Dreh in der Maso-Rolle. Wird Thyberg diesen als frauenverachtend und erniedrigend inszenieren? Mitnichten. Auch hier gerät Linnéa an ein Profiteam, sogar an eine weibliche Regisseurin. Man umsorgt Linnéa und schafft eine Atmosphäre, in der sie sich trotz der erschwerten Bedingungen gegenüber „normalen“ Drehs wohlfühlen kann. Linnéa nimmt die Herausforderung an und entwickelt Spaß daran. Eine Mischung aus Arbeit und Befriedigung.

Eine Werbefilm für die Porno-Industrie also? Nein: Als Linnéa noch einen Schritt weiter geht und für ein rein männliches Drehteam das Opfer einer Vergewaltigung spielen soll, verwischen die Grenzen zwischen Spiel und Realität und werden schließlich überschritten. Auch wenn sie zu wissen glaubte, worauf sie sich einlässt, ist die an ihr verübte Gewalt in zu großen Teilen real und setzt ihr (sowie jedem noch nicht ganz abgebrühten Kinopublikum) schwer zu – und zwar derart, dass sie den Dreh mehrfach unterbricht und eigentlich – einem Zusammenbrach nah – abbrechen möchte. Was darauf jeweils folgt, ist ein perfektes Beispiel einer Manipulation dahingehend, dass die jeweilige Wiederaufnahme des Drehs vor dem Gesetz keine Vergewaltigung ist, aufgrund der emotionalen Erpressung aber einer gleichkommt. Diese Veranschaulichung ist eine der Schlüsselszenen des Films, aufgrund derer jede Zuschauerin und jeder Zuschauer einen Eindruck davon erhalten sollten, wie so etwas in der Praxis „funktioniert“ – und man sich generell die Frage stellen sollte, für wen solcher Rape Porn eigentlich produziert wird…

Fast schon schwarzhumorig mutet es da an, wenn Linnéa anschließend ihre von ihrem Einstieg ins Pornogeschäft nichts ahnende Mutter in Schweden anruft und unter Tränen nach Hause kommen zu dürfen bittet, ihre Mutter sie jedoch mit Durchhalteparolen beschwichtigt, davon ausgehend, sie habe lediglich einen schlechten Tag während eines Praktikums o.ä. gehabt. Doch tatsächlich hält Linnéa nicht nur durch, sondern bereitet sich auf ihren nächsten großen Coup vor: Double Black Anal, eine der größten Herausforderungen für Pornodarstellerinnen. In diesem Zusammenhang thematisiert Thyberg rassistische Stereotype und Rollenklischees, die sich in derlei spezifischen Pornofetischen widerspiegeln. Und wie man als Zuschauer(in) vom Kinosessel aus mit Linnéa mitfiebert und ihr wünscht, dass sie diese Herausforderung bestehen möge, mutet im Nachhinein irgendwie absurd an.

Doch in der Tat: Double Black Anal ist krass, krasser aber ist die charakterliche Veränderung, die Linnéa durchmacht: Gegenüber ihrer besten Freundin Joy wird sie zur Verräterin, als diese bei einem gemeinsamen Dreh vom männlichen Darsteller nicht nur spielerisch, sondern ganz real aufgrund ihrer sozialen Herkunft und persönlicher Animositäten erniedrigt wird und Linnéa ihr nicht zur Seite steht, um ihren weiteren Aufstieg in der Branche nicht zu gefährden. Nach oben buckeln, nach unten treten, korrumpiert durch Karrierismus. Die zweite große Schlüsselszene des Films. Spaß macht von nun an nichts mehr, stattdessen begleitet man Linnéa mit mehr als gemischten Gefühlen auf ihrem Weg zum „Spiegler-Girl“ und ihren Versuchen, Hauptkonkurrentin Ava auszustechen. Ihre eigene Gewalterfahrung wird Linnéa im weiteren Verlauf reproduzieren, was einerseits kathartische Wirkung zu haben scheint, sie andererseits aber auch – insbesondere angesichts der kaum wahrnehmbaren Reaktion ihres offenbar bereits weitestgehend abgestumpften Opfers – nachdenklich stimmt. Double Black Anal und „Spiegler-Girl“ – was soll danach noch kommen? Das Abenteuer ist durchlebt und langweilig (!) geworden. Am Ende steht der metaphorisch inszenierte Ausstieg.

Thyberg ist es gelungen, ohne moralischen Zeigefinger oder feministischen Beißreflex ein authentisch anmutendes Bild des Pornogeschäfts zu zeichnen, das die Branche fair zu behandeln scheint und zugleich als Abbild der kapitalistischen Gesell- bzw. Wirtschaft mit ihrem Konkurrenzkampf und ihrer Ellbogenmentalität entzaubert. Es geht nie darum, ob Pornos legitim sind oder nicht, sie sind sowieso da und gehen nicht mehr weg. Was man jedoch neben der ernüchternden Erkenntnis, dass Porno auch im Zuge weiblicher Selbstermächtigung ein ebenfalls den Regeln des Markts unterworfener Geschäftszweig wie so vieles andere ist, mitnimmt, ist die Infragestellung dieses Markts, der offenbar mit immer härteren Extremen bedient werden will. Wer bestimmt eigentlich diesen Markt?

Neben seiner Authentizität, der stimmigen Dramaturgie und der wunderbar durchdachten Kameraarbeit ist das größte Pfund des Films Hauptdarstellerin und Debütantin (!) Sofia Kappel, die süß und sexy zugleich erscheint und deren im Kontrast zu ihrer Jugendlichkeit stehende verbrauchte Stimme etwas Verruchtes mitbringt. Ein auch für Rap-Muffel hörenswerter, rebellischer Hip-Hop-Soundtrack rundet „Pleasure“ musikalisch ab. Thyberg setzt mit „Pleasure“ ein dickes Ausrufezeichen in die Filmbranche und empfiehlt sich als überaus interessante Newcomerin, auf deren nächste Arbeiten man gespannt sein darf. Ihr gilt Dank dafür, aus diesem Stoff kein Melodram gemacht zu haben – wenngleich die betonte Kühlheit und der bewusste Verzicht auf zu viel Emotionalität den einen oder anderen großen Gänsehautmoment verhindern. 8,5 von 10 Vaginalduschen für „Pleasure“!
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Eins, zwei, drei

„Manchmal weiß man wirklich nicht, wer den Krieg gewonnen hat!“

US-Regisseur Billy Wilder („Manche mögen's heiß“) drehte 1961, im Jahr des Mauerbaus also, in West-Berlin seine komödiantische Kalter-Krieg-Satire „Eins, zwei drei“, deren Drehbuch er zusammen mit I. A. L. Diamond verfasste. Dieses fußt auf dem gleichnamigen Bühnenstück Ferenc Molnárs aus dem Jahre 1929 und scheint zudem vom US-Spielfilm „Ninotchka“ beeinflusst. Während der Dreharbeiten kamen Wilder und seinem Team der Bau der Berliner Mauer in die Quere, weshalb Teile in den Bavaria-Filmstudios gedreht werden mussten und ein (verkleinerter) Studionachbau des Brandenburger Tors zum Einsatz kam. Bei seiner Erstaufführung floppte der Film, u.a. aufgrund der aufgeheizten politischen Stimmung, im Laufe der Jahrzehnte und hierzulande im Zuge einer Kino-Wiederaufführung in den 1980ern entwickelte sich jedoch eine immer größere Fan-Gemeinde, die Wilders rasanten Persiflage-Rundumschlag zu schätzen lernte.

„Wie wär‘s jetzt mit einem Wodka-Cola?“

Der Chef des West-Berliner Coca-Cola-Sitzes C.R. MacNamara (James Cagney, „Der Admiral“) will mit dem koffeinhaltigen Erfrischungsgetränk auch den roten Osten erobern und steht daher in Verhandlungen mit der sowjetischen Handelskommission, als der erzkonservative Konzernchef Hazeltine (Howard St. John, „Verschwörung im Nordexpress“) mit einer Bitte an MacNamara herantritt: Er solle ein Auge auf Hazeltines jugendliche Tochter Scarlett (Pamela Tiffin, „Ein schwarzer Tag für den Widder“) haben, die auf Berlin-Besuch kommt. Das ist leichter gesagt als getan, denn Scarlett ist ebenso weltfremd und naiv wie liebesdurstig – und verliebt sich ausgerechnet in den idealistischen Ost-Berliner Jungkommunisten Otto Ludwig Piffl (Horst Buchholz, „Die Halbstarken“), den sie einen Tag, bevor ihr Vater ebenfalls nach Berlin reist, heimlich ehelicht. Und es kommt noch ärger: Schwanger ist sie auch noch von ihm! Nun ist Coca-Cola-Land in Not, wie soll MacNamara das seinem Chef erklären? Da hilft nur noch eines: Ideologische Umerziehung im Schnelldurchlauf. Wird es MacNamara gelingen, aus Piffl einen USA-kompatiblen Kapitalisten zu machen…?

Die Handlung spielt kurz vor dem Mauerbau, deutsche, österreichische und schweizerische Filmstars wie Liselotte Pulver („Ich denke oft an Piroschka“) als MacNamaras Sekretärin und Vertreterin des „Fräuleinwunders“, Karl Lieffen („Tadellöser & Wolf“) als MacNamaras stetig salutierender Fahrer Fritz, Hanns Lothar („Die Buddenbrooks“) als MacNamaras Diener Schlemmer, Leon Askin („Die Lachbombe“), Ralf Wolter („Der Maulkorb“) und Peter Capell („Der Satan lockt mit Liebe“) als die Sowjets Peripetchikoff, Borodenko und Mishkin sowie natürlich Horst Buchholz geben sich die Klinke in die Hand. MacNamara führt zu Beginn als Off-Erzähler in die Handlung ein, um als Berufshektiker sowie Choleriker in Gestik, Mimik und Sprache anschließend das hohe Tempo des Films vorzugeben, das zur Handlung passt: geschäftiges kapitalistisches Treiben, alle haben wenig Zeit und nicht zuletzt die Verwestlichung der Nachkriegs-BRD in einer Mordsgeschwindigkeit. „Eins, zwei, drei“ ist ein von MacNamaran auch im Originalton auf Deutsch wiederkehrend verwendeter Ausspruch, um seine Mitmenschen anzutreiben, „Sitzen machen!“ ruft er (ebenfalls auch im O-Ton) seinen Mitarbeitern zu, wenn sie – durch die NS-Diktatur sozialisiert – strammstehen, wann immer er ihr Großraumbüro betritt.

Wilders Film lebt viel vom spitzem Dialog- und Wortwitz inklusive zahlreichen Anspielungen auf die deutsche Nazivergangenheit (MacNamaras Frau Phyllis (Arlene Francis, „Alle meine Söhne“) pflegt ihren Mann „Mein Führer“ zu nennen…) und das sozialistische Ostsystem, ergänzt um Situationskomik, Running Gags und Slapstick-Elemente, kulturelle Anspielungen und Verballhornungen von Stereotypen. Der deutsche Gehorsams- und Untertanengeist wird ebenso aufs Korn genommen wie die Geschichtsvergessenheit – es sei doch nie etwas gewesen, eigentlich sei man unschuldig etc. –, die insbesondere Diener Schlemmer verkörpert. Dieser schlägt noch immer inbrünstig die Hacken zusammen, kann sich an einen Adolf aber nicht mehr erinnern… MacNamaras Kraftakt in Bezug auf Piffl wiederum veranschaulicht und persifliert die Oberflächlichkeiten des Kapitalismus. Übertrieben ist es indes, Piffl keinerlei Tischmanieren zuzugestehen. Letztlich bekommen aber eben alle drei Parteien ihr Fett weg.

Wilder arbeitet zeitgenössische Ereignisse wie eine sozialistische Demonstration inklusive Gesang der Internationalen ebenso in den Film ein wie die ebenfalls reale Geheimnistuerei um die Coca-Cola-Formel und lässt Ingeborg aufreizend den Säbeltanz auf einem Tisch aufführen, sehr zum Gefallen der sowjetischen Delegation. Jener Säbeltanz zieht sich als musikalisches Motiv durch den Film und unterstreicht bzw. verstärkt noch einmal die allgemeine Hektik. Eine Verfolgungsjagd findet stilecht per Trabant statt. Die Gags folgen nicht selten im Stakkato aufeinander, die Geräuschkulisse ist hoch und bewusst enervierend. Von Piffls Idealismus bleibt am Ende nicht viel, vom Amüsement fürs Publikum manch etwas plumpen Scherzes zum Trotz hingegen umso mehr. Dem gegenüber steht ein etwas fragwürdiges Frauenbild, das sich jedoch in die allgegenwärtige Ironie durchaus einfügt und sicherlich nicht überbewertet werden sollte. Schade finde ich persönlich, dass „Eins, zwei, drei“ noch in Schwarzweiß gedreht wurde, denn nur allzu gern hätte ich dieses Ensemble innerhalb dieser Handlung im Berlin kurz vorm Mauerbau in prächtigen Farben gesehen.

Nichtsdestotrotz ist Billy Wilder und seinem Team mit „Eins, zwei, drei“ eine der beachtlichsten US-Komödien der 1960er gelungen, die zudem ein wundervolles historisches Zeitdokument in cineastischer und politisch-historischer Hinsicht darstellt, die James Cagney überaus eindrucksvoll in seiner letzten Hauptrolle präsentiert und an der sich nicht zuletzt verbohrte Ideologen gleich welcher Strömung so richtig schön stören können – womit er seiner Zeit voraus war. Danke für die Aufmerksamkeit, Sitzen machen!
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Pulse – Du bist tot, bevor Du stirbst!

„Irgendetwas verfolgt mich...“

„Pulse – Du bist tot, bevor Du stirbst!“ ist die US-Neuverfilmung des japanischen Mystery-Horrorfilms „Kairo“ aus dem Jahre 2001, der hierzulande unter dem Titel „Pulse“ vermarktet wurde. Die US-Version datiert aufs Jahr 2006 und wurde vom ehemaligen Musikvideo-Regisseur Jim Sonzero verfilmt, der ein Drehbuch Wes Cravens und und Ray Wrights inszenierte. Sonzero war zuvor lediglich mit dem 1999 veröffentlichten Drama „War of the Angels“ in Sachen Spielfilm in Erscheinung getreten und wurde seit „Pulse“ mit keiner weiteren Spielfilm-Regie mehr betraut.

„Ich bilde mir das nicht ein!“

Mattie Webbers (Kristen Bell, „Veronica Mars“) Freund Josh (Jonathan Tucker, „Michael Bay's Texas Chainsaw Massacre“) begeht in dessen Anwesenheit Selbstmord. Zuvor hatte er sich bereits sehr verändert, sein Lebenswille schien wie ausgehaucht. Mattie und weitere Freunde Joshs erhalten seltsamerweise weiterhin Nachrichten über Computerkommunikationsprogramme, die angeblich von Josh stammen. Erlaubt sich jemand einen bösen Scherz? Man sucht Dexter McCarthy (Ian Somerhalder, „Fearless“) auf, der den PC des Toten gekauft hat. Dexter entpuppt sich jedoch als unschuldig und wendet sich bald selbst hilfesuchend an Mattie, denn wie von Geisterhand erscheinen plötzlich Selbstmordvideos auf dem Rechner. Gemeinsam finden sie heraus, dass Josh und dessen Freund Douglas Zieglar (Kel O'Neill, „Domino“) an einer Art neuer WLAN-Technologie in einem Hochfrequenzbereich gearbeitet und damit offenbar unwissentlich ein Tor in eine andere Dimension geöffnet haben. Aus diesem heraus ergreifen nun Geister die Macht über die Menschen und saugen ihnen ihre Lebensenergie aus. Mehr und mehr greifen Fälle um sich, in denen Menschen Suizid begeben oder zu Staub zerfallen. Lediglich rotes Klebeband scheint die finsteren Mächte von einem fernzuhalten. Und eventuell erweist sich ein Computervirus als nützlich, den Mattie und Dexter in den außerdimensionalen Server einzuschleusen versuchen. Sie müssen sich beeilen, denn die Menschheit steht vor ihrer Auslöschung…

„Es brennt sich durch jede Firewall!“

Wie Craven, Wright und Sonzero aus dem rätselhaften, insbesondere westliche Sehgewohnheiten strapazierenden, aber düster-atmosphärischen „Kairo“ diese Handlung ableiten und zu allgemeinverständlichem Cyberhorror banalisieren, ist genauso gaga, wie es sich liest. Dabei muss dieses Sujet eigentlich kein Übles sein, immerhin bahnte sich der Horror der technikverliebten Ostasiaten bereits über Magnetbänder und Telefonnetze erfolgreich seine Wege. Und zumindest die kalten Blaufilter, die immer blasser werden, bis der Film am Ende kaum noch Farbe aufweist, machen sowohl als Idee als auch in ihrer Umsetzung als mehr oder weniger subtil eingeflochtene metaphorische Ebene durchaus etwas her.

In Kombination mit einer US-Teenage-Horrorfilmprämisse um digitale Kommunikation versagt Sonzeros Film jedoch über weite Strecken, wenn er typisches, nicht selten dämliches Teenie-Geplänkel wie aus Slasher-Filmen düsteren, bedrohlichen Szenen gegenüberstellt und sich dabei viel zu sehr auf die Gruselwirkung der Gestalten aus der Schattenwelt, arg durchschaubare, schlecht gealterte CGI-Effekte, Lichtgewitter und eine dominante Geräuschkulisse verlässt. Die mangelhafte Dramaturgie wird durch Budenzauber zu kompensieren versucht, der Pseudo-Tech-Talk ergibt kaum Sinn und wie unheimlich ernst sich der Film bei alldem nimmt, sorgt ebenso für unfreiwillige Komik wie manch Logikschlagloch, das verhindert, dass die aufgetischte Geschichte tatsächlich Sinn ergibt. Rotes Klebeband gegen WLAN-Geister jedenfalls erinnern mehr an die Aluhüte der Schwurblerfraktion als an eine geeignete Methode, sich dem kollektiven (Selbst-)Mord zu entziehen, soll der Handlung aber allen Ernstes abgenommen werden.

Aus einer existenzialistischen, kryptischen Schauermär aus Fernost um die Vereinzelung, Vereinsamung und innere Leere einer ganzen Gesellschaft wurde hier eine Fast-Food-Geisterbahn für die Generation MTV gemacht, der sogar noch zwei Fortsetzungen folgten. Angesichts des verschenkten Potentials eine glatte Enttäuschung. Wie es weitaus besser geht, unter im Prinzip ganz ähnlicher Prämisse aus einem überaus mysteriösen Asia-Grusler einen stimmigen Film fürs westliche Genrepublikum zu machen, bewiesen drei Jahre später Charles und Thomas Guard mit „Der Fluch der zwei Schwestern“.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

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Ninja Cheerleaders

„Zeigen wir unser Können, Grashüpfer!“ – „ich bin bereit, Schmetterling!“ – „Let's rock'n'roll, Ninjas!“

Nach einer Handvoll Kurzfilmen debütierte der US-Amerikaner David Presley im Jahre 2008 mit der Actionkomödie „Ninja Cheerleaders“, deren Drehbuch er ebenfalls verfasste. Seitdem trat er noch nicht wieder als Regisseur in Spielfilmlänge in Erscheinung.

„Männer denken, sie stehen über uns. Und den Gedanken hab' ich zerquetscht!“

Die Cheerleaderinnen April (Ginny Weirick, „Lie To Me“), Courtney (Trishelle Cannatella, „Ein Duke kommt selten allein – Wie alles begann“) und Monica (Maitland McConnell, „Arnolds Park“) vom Lomas-Malas-Gemeinschaftscollege verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit Striptease-Auftritten, sparen zugleich auf die Gebühr für eine Elite-Uni und lassen sich von Hiroshi (George Takei, „Raumschiff Enterprise“), dem Betreiber des Stripclubs, nebenbei auch noch in fernöstlicher Kampfkunst ausbilden. Doch als dieser von der örtlichen Mafia um Victor Lazzaro (Michael Paré, „Straßen in Flammen“) entführt wird und die Spitzbuben auch noch den Lohn der Damen stibitzen, setzen sie ihre Kampf- und Sport-, um nicht zu sagen: Kampfsportkenntnisse ein, um ihren Sensei-Hoshi eigenhändig zu befreien…

„Genug von den ,Stirb langsam‘-Zitaten!“

Was sich wie ein (S)Exploitation-Spaß liest, beginnt mit einem Prolog, der direkt in die Vollen geht und einen Ninja-Überfall auf eine US-Militärbasis zeigt. Dieser entpuppt sich jedoch lediglich als eine Art Aufnahmeprüfung, gefolgt von einer von vielen Verhörsituationen, die sich durch den Film ziehen und in der Narration die gezeigten Ereignisse zu Rückblenden erklären. Die weiblichen Ninjas werden anhand von Kampfszenen und halbnackten Cheerleading- und Modelling-Szenen im College-Umfeld vorgestellt, dazu werden eine Art Steckbriefe mit personenbezogenen Informationen eingeblendet. Pate stand hier offenbar „Drei Engel für Charlie“, doch statt diesen sexploitativ mit viel Spaß durch einen US-Action/Eastern-Mix-Wolf zu drehen, bleiben die Damen keusch, da das Budget offenbar nicht einmal für Oben-ohne-Szenen im Vertragswerk langte. Stattdessen wird man bei Szenewechseln mit der immer gleichen Zwischensequenz in Form einer kurzen barbusigen Szene irgendeiner ganz anderen Stripperin, die für die Handlung keine Rolle spielt, abgespeist.

Auf Befehl einer weiteren Frau namens Kinji (Natasha Chang, „The Metrosexual“) wird der gekidnappte greise Meister gefoltert, denn Mafiaboss Lazzaro will dessen Besitzurkunde des Stripclubs. Statt sich an dessen Fersen zu heften, ist Detective Harris (Larry Poindexter, „Opposite Sex – Der kleine Unterschied“) den drei Mädels auf der Spur und spielt ein falsches Spiel. Ein paar nette, rasant geschnittene Kampfszenen münden schließlich in einem Schwertkampffinale, das dann doch noch zwei Brustpaare x-beliebiger Hühner aus dem Stripclub offenlegt. Ein paar grafische Spezialeffekte aus dem Diskontbereich fanden ebenso in den Film wie etwas lakonischer Humor, gelungene Gags sind jedoch Mangelware. Dies gilt auch für grafische Härten, Spannung, erinnerungswürdige Momente oder schlicht irgendetwas, das diesem Film zu einer Existenzberechtigung verhelfen würde. Die dankenswerterweise recht kurze Spielzeit wird mit einem langen Abspann gedehnt und der Epilog suggeriert eine Fortsetzung, die es zum Glück nie gab.

„Ninja Cheerleaders“ täuscht Exploitation vor, ist aber nicht mehr als billiger Schrott fürs Tele5-Programm, den Elektronikmarktwühltisch oder zum Verstopfen des eigenen DVD-Regals, in den sich George Takei auf seinen Reisen durch die unendlichen Weiten des Unterhaltungsfilmgeschäfts böse verirrte. No cheers!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Wohnheim Westendstraße

„Sie werden sich freuen: eine Woche Veigl-frei!“

Der in Paris geborene Regisseur Axel Corti („Der Fall Jägerstätter“) inszenierte Mitte der 1970er seinen ersten von insgesamt zwei Beiträgen zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe „Tatort“, der am 9. Mai 1976 erstausgestrahlt wurde: „Wohnheim Westendstraße“ ist der siebte Fall der bayrischen Kriminaloberinspektors respektive Kriminalhauptkommissars Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer), der zusammen mit Kriminalhauptmeister Ludwig Lenz (Helmut Fischer) ermittelt. Das Drehbuch verfasste Herbert Rosendorfer, der ein von Luigi Squarzina geschriebenes Hörspiel fürs Fernsehen frei adaptierte.

„Ich komm‘ mir bei den Vernehmungen vor wie der Uhrmacher, der mit Handschuhen arbeitet!“

Der just zum Kriminalhauptkommissar beförderte Veigl muss auf Geheiß von oben zu seinem Leidwesen Kriminalhauptmeister Lenz für Ermittlungen gegen die grassierende Schwarzarbeit abstellen. Die Wege kreuzen sich jedoch alsbald wieder, denn ein angeblicher Betriebsunfall mit Todesfolge auf dem Gelände der Bundesbahn – ein italienischer Gastarbeiter soll an die Starkstromleitung geraten sein – kann sich nicht wie vor Ort behauptet ereignet haben. Dafür wird auf einem Schwarzbau Material entdeckt, das offenbar der Bahn entwendet wurde. Veigl recherchiert innerhalb des italienischen Gastarbeitermilieus und verhört zusammen mit seinem Assistenten Brettschneider (Willy Harlander) sowie der Dolmetscherin Welponer (Margot Leonard, „Moselbrück“) die Arbeiter, stößt jedoch auf eine Mauer des Schweigens. Was ist wirklich vorgefallen und wovor haben die Männer Angst?

„Italiener ham‘ immer ‘n Grund, sich gegenseitig umzubringen!“

Dieser „Tatort“ wirft in einer Mischung aus Kriminal-, Sozial-, Liebesdrama und Milieustudie ein Schlaglicht auf die Situation italienischer Gastarbeiter – und wie sie von windigen deutschen Bauunternehmern ausgenutzt werden. Die Handlung um den Tod eines Arbeiters wird erweitert um die Dreiecksbeziehung um die stets schwer beschäftigte Kellnerin Eva Krüner (Veronika Fitz, „Dieser Platonow…“), ihren Verflossenen Türken Murat Bugra (Kurz Weinzierl, „Kottan ermittelt“) und ihren aktuellen Lebensgefährten, den Italiener Ernesto Legrenzi (Renzo Martini, „Die Ermordung Matteottis“) aus dem Wohnheim Westendstraße. Bugra ist nicht nur alles andere als gut auf Legrenzi zu sprechen, er hat auch Beobachtungen gemacht, die der Polizei weiterhelfen würden, die er jedoch als Pfund in die Waagschale im Kampf um Eva wirft.

Bestimmt wird dieser Fall jedoch über weite Strecken von Sprachbarrieren. Veigl versteht die Italiener nicht und fühlt sich in seiner Arbeit stark eingeschränkt, weil er nur über die Dolmetscherin mit ihnen kommunizieren kann. Und das Publikum oberhalb des Weißwurstäquators versteht darüber hinaus die Bayern nicht, denn ohne allzu viel Rücksicht auf Zuschauer(innen) aus anderen Regionen wird hier munter drauflosbajuwart. Veigl indes scheint auch Vorurteile gegen die „Itaker“ zu haben, wofür er von der Dolmetscherin zurecht kritisiert wird. Diese tritt generell als Fürsprecherin der Gastarbeiter auf, von der Veigl lernt. Das ist recht ordentlich und ohne erhobenem Zeigefinger, jedoch mit sozialem Anspruch in die Handlung integriert worden und dürfte bei einer damaligen Einschaltquote von über 50 % tatsächlich zum Abbau von Vorurteilen beigetragen haben.

Der eigentliche Fall jedoch zieht sich längere Zeit recht ereignisarm hin, für ein wenig Action sorgt lediglich der Hahnenkampf zwischen Bugra und Legrenzi. Türke Bugra wird kurioserweise von Kurt Weinzierl gemimt, aber immerhin sind die Italiener echt. Etwas Komik bringt Brettschneiders Inkognito-Einsatz auf dem Schwarzbau mit sich. Höhepunkt ist der Showdown in Form einer Schießerei in einem Parkhaus, während die Auflösung der Geschehnisse verdeutlicht, mit welchen Lügenkonstrukten Bauunternehmen ihre Schwarzarbeiter in Schach zu halten versuchten. Unterm Strich ein sehenswertes Zeitdokument.
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