bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Die Hexen von Eastwick

„Ich bin zuckersüchtig!“

Dass der australische Filmemacher George Miller nach knallharten Endzeit-Genrefilmen ab Mitte der 1980er eher auf den Mainstream-Markt drängte, ließ sich am dritten Teil seiner „Mad Max“-Reihe ablesen. Zwei Jahre später, im Jahre 1987, folgte mit der US-Produktion „Die Hexen von Eastwick“ seine Verfilmung des gleichnamigen Romans John Updikes, der drei Jahre zuvor erschienen war und den Miller in Form einer Fantasy-Komödie mit Horroranleihen inszenierte.

„Männer sind ungeheure Arschlöcher, nicht wahr?!“

Das Damentrio aus Alex (Cher, „Die Maske“), Jane (Susan Sarandon, „The Rocky Horror Picture Show“) und Sukie (Michelle Pfeiffer, „Kopfüber in die Nacht“) eint ihr Pech mit den Männern: Alex ist verwitwet, die anderen beiden sind geschieden. Ihr Heimatort, die US-Kleinstadt Eastwick, bietet ihnen kaum Auswahl an neuen Herren der Schöpfung, die es kennenzulernen wert wäre. Zum Spaß backen sie sich ihren Traummann in einer Art Hexenritual, ohne dabei von ihren magischen Kräften zu ahnen. Doch plötzlich taucht der charmante und vermögende Lebemann Daryl Van Horne (Jack Nicholson, „Shining“) in Eastwick auf, scheint das Schicksal ihre Seufzer erhört haben: Eine nach der anderen lässt sich bereitwillig von ihm verführen und erhält dadurch wahre Schübe an Lebenskraft und Kreativität. Doch der mysteriöse Mann verbirgt ein dunkles Geheimnis, denn es geht nicht mit weltlichen Dingen zu…

„Ich habe nichts gegen einen guten Fick!“

Ein mysteriöser Fremder, dessen Namen sich niemand merken kann, dringt mit sehr direkten Avancen in das Leben dreier Frauen ein, die mit ihrem selbstbewussten Auftreten und ihren eigenen Vorstellungen von einem erfüllten Leben nur schwer in die piefige, konservative Kleinstadt passen. Sie verdingen sich als Bildhauerin, als Musikerin, als Journalistin, scheinen aber mittlerweile auf der Stelle zu treten. Der dandyhaft charmant, vulgär und belesen-intellektuell zugleich auftretende Daryl wirkt wie ein Impulsgeber auf sie, die Frauen tanken neue Kraft, strotzen vor positiver Energie und Tatendrang. Ihre anfängliche Eifersucht aufeinander überwinden sie und genießen ihre Existenz in vollen Zügen. Das Hexenklischee verwendet die Handlung als Metapher für Selbstermächtigung, aber auch für solidarisches Verhalten untereinander und die geballte Stärke, die daraus entstehen kann.

Dass so etwas von außen mit Argwohn betrachtet wird, liegt auf der Hand. Diese Rolle wird der gottesfürchtigen Felicia Alden (Veronica Cartwright, „Die Vögel“) zuteil, die die Handlung mit christlicher Symbolik auflädt – wobei das Christentum hier für frauenfeindliche Rückwärtsgewandtheit steht. Daryl hingegen ist – bald unschwer zu erahnen – eine Inkarnation des Teufels, der zunächst positiv konnotiert wird. Seine böse Seite stellt er im Umgang mit seiner Gegnerin Felicia unter Beweis, deren diverse Kotzattacken noch das Harmloseste darstellen. Ihr Ableben jedoch findet offscreen statt: Der Film möchte zwar höchst blaphemisch und eklig sein, aber nicht offen gewalttätig.

Im Finale gilt es für die drei „Hexen“, es auch mit dem Teufel persönlich aufzunehmen, nachdem Daryl sie mit ihren jeweils größten Ängsten konfrontiert hat. Denn die Damen wissen, dass Angst zwar ein guter Indikator, aber schlechter Berater ist. Den Teufel versucht man also nicht mit dem Beelzebub, sondern mittels Voodoo auszutreiben, sodass nun Daryl die Kirche blasphemisch vollreihern darf. Und konnte man sich bereits zuvor an einigen bizarren und ein paar ein bisschen gruseligen Szenen laben, ergeht sich Nicholson nun in turbulenten Stunts, bevor ein vollkommen irres Finale die volle Breitseite an Spezialeffekten abfeuert.

Der Epilog im Stile klassischer Fortsetzungsandeutungen im Horror- oder auch Science-Fiction-Bereich stellt den kämpferischen Erfolg der „Hexen“ infrage – und sorgt dafür, dass der Film zumindest theoretisch unterschiedliche Lesarten erlaubt. Eine lautet: Der Teufel ist verdammt böse und wer sich mit ihm einlässt, wird ihn nie wieder los. Dieses Zugeständnis an einen schäumenden Klerus, dem der Film über weite Strecken alles andere als behagt haben dürfte, wird jedoch locker von den Damen übertrumpft, die bereitwillig die Hilfe des Teufels annehmen, um auf dem Wege zur Selbstverwirklichung schließlich auch ihn abschütteln zu können.

„Die Hexen von Eastwick“ ist unterm Strich somit ein launiger Beitrag zum Thema weibliche Emanzipation, der als über weite Strecken etwas harmlose, mit ihren blasphemischen Ausbrüchen dafür umso konfrontativere Ensemblefilm-Komödie daherkommt. Dass Miller aus dem härteren Genrebereich kommt, schimmert immer mal wieder durch, für meinen Geschmack hätte der Film gern noch etwas weiter gehen und mutiger ein dürfen. Mit seiner beschwingten Leichtigkeit funktioniert er aber als reiner Unterhaltungsfilm zweifelsohne gut, zumal mit Cher und Nicholson zwei exaltierte Menschen aufeinandertreffen, denen man gern zusieht – wenngleich die Cartwright ihnen (und allen anderen) mitunter glatt die Show stiehlt! Die musikalische Untermalung ist überwiegend klassisch-orchestral, die getroffenen Aussagen über Knochenbrüche sind wissenschaftlich unhaltbar und wer die Sauerei in der Kirche aufwischen muss, ist der wahre Verlierer dieser schrägen Geschichte.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Der Rausch

Mit seinem im September 2020 veröffentlichten Film „Der Rausch“ hat der dänische Filmemacher Thomas Vinterberg („Die Jagd“), der die Tragikomödie/Dramödie inszenierte und zusammen mit Tobias Lindholm ihr Drehbuch verfasste, im Folgejahr den Oscar für den besten internationalen Film abgeräumt. Ob die Jury unter Alkoholeinfluss stand? Möglich, denn die gesellschaftliche Akzeptanz und quasi permanente Verfügbarkeit der legalen Droge in weiten Teilen der westlichen Welt ist eines der Hauptmotive dieses Films.

Martin (Mads Mikkelsen, „Die Tür“) unterrichtet Geschichte, Nikolaj (Magnus Millang, „Kursk“) Psychologie, Peter (Lars Ranthe, „Adams Äpfel“) Musik und Tommy (Thomas Bo Larsen, „Pusher“) Sport. Doch das dänische Lehrerquartett befindet sich kollektiv in einer Midlife-Crisis, worunter Privatleben und Beruf leiden. Bei Martin geht die Krise gar so weit, dass sich die Eltern seiner Schüler(innen) gegen ihn wenden. Als Nikolaj seinen 40. Geburtstag in einem Restaurant zusammen mit seinen drei Kollegen feiert, muss Martin erst mühsam zum Trinken überredet werden. Doch dann bringt Nikolaj die These des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud auf den Tisch, nach der es Menschen grundsätzlich mit einem konstanten Alkoholpegel von 0,5 Promille besser gehe. Aus der Schnapsidee, es selbst einmal zu versuchen, wird Ernst: In dokumentierten Selbstversuchen wird sich tagsüber heimlich dieser Pegel angetrunken und aufrechterhalten, und tatsächlich: Die Auswirkungen sind auf alle Beteiligten überaus positiv. Doch auf der Suche nach dem Optimum respektive der Obergrenze steigt der Pegel – und damit entstehen Probleme…

Vinterberg stellt seinem Film ein philosophisches Zitat Søren Kierkegaards voran: „Was ist die Jugend? Ein Traum. Was ist die Liebe? Der Inhalt des Traums.“ Nun, die Jugend illustriert Vinterberg in den ersten Filmszenen, die die Schülerschaft beim traditionellen Bierkastenrennen zeigt, in dessen Rahmen sie sich dem hemmungslosen Alkoholexzess hingibt. Martins Hadern, auf Nikolajs Geburtstag auch nur einen Tropfen anzurühren, kontrastiert diese Bilder auf beinahe manipulative Weise: Dort die Jugend, lebenslustig, aktiv und alkoholisiert, hier der Mann „im besten Alter“, langweilig, selbst gelangweilt, stocknüchtern und kostverächtend. Die feucht-fröhliche Runde, die schließlich doch noch entsteht, inklusive ausgelassener Albernheit auf dem Heimweg, zeigt ausschließlich die positiven Seiten des Betrunkenseins – und man freut sich regelrecht für Martin, denkt sich, er habe das einmal dringend nötig gehabt.

Den Ansatz der 0,5-Promille-These kann ich sehr gut nachvollziehen. Oftmals wäre ich tatsächlich lieber von Natur aus so, wie ich es mit zwei Bier intus bin. Doch dann gibt es wiederum auch diejenigen, die bereits stocknüchtern und clean wirken, als seien sie naturbekokst. Dass Vinterberg seine Handlung im Lehrermilieu ansiedelt, erscheint mir naheliegend; eigentlich ging ich ohnehin davon aus, dass sich Lehrkörper mindestens einen kräftigen Schuss in ihren Kaffee kippen. „Der Rausch“ beweist großes Verständnis dafür, die neu erweckte Lebenslust der „Versuchsteilnehmer“ paart sich mit ein wenig Situationskomik und der Diskrepanz zwischen dem eigentlich als unvernünftig konnotierten Verhalten der Lehrer auf der einen und ihrer wissenschaftlich-akademischen Herangehensweise auf der anderen Seite. Das Identifikationspotential für das Publikum ist hoch und dürfte sich quer durch alle Schichten ziehen – denn getrunken wird letztlich doch überall.

Dies skizziert auch eine Art Einspieler, eine Collage aus authentischem Archivmaterial öffentlicher Auftritte hochrangiger Politiker in eindeutig alkoholbeeinflusstem Zustand (die eindrucksvoll Martins Ausführungen im Geschichtsunterricht ergänzt). Das ist zwar überaus lustig anzusehen, jedoch nicht mehr ohne weiteres als positive Folge des Alkoholgenusses zu werten. Problematisch wird es mit steigendem Pegel dann auch für die Lehrer: Auf nächtliche Exzesse folgen schwere Kater, das Bett bleibt nicht immer trocken, im Beruf wird man als Trinker enttarnt (bzw. enttarnt sich ungewollt selbst), die eigene Familie wendet sich ab. Der letztgenannte Aspekt wird indes mit einer nicht unbedingt alkoholindizierten Ehekrise vermengt, zu der die Ehefrau ihr Scherflein entschieden beigetragen hat. Lustig ist nun nichts mehr – schon gar nicht, als einer der vier den Absprung nicht mehr schafft.

Auch damit bleibt „Der Rausch“ bissig realistisch: Ist es nicht tatsächlich so, dass mehr oder weniger gesellschaftlich hingenommen wird, dass eine Vielzahl der Alkoholkonsumentinnen und -konsumenten mit der Droge nicht umgehen kann und schwerwiegende Zerwürfnisse und Probleme bis hin zum Tod die Folgen sind? Alkohol enthemmt, was gerade für etwas introvertiertere oder schüchterne bis ängstliche Menschen ein Segen sein kann, er schafft es, dich zu beruhigen und dir die Prüfungsangst zu nehmen, wie der Film zeigt, macht dich lockerer, umgänglicher und schlagfertiger – kann aber auch in schwere Abhängigkeit, Depression und Frust bis hin zur Selbstaufgabe führen.

Der erhobene Zeigefinger bleibt bei Vinterbergs Film jedoch aus, er wertet oder verurteilt nicht, sondern schafft ein Panoptikum der Ambivalenz. Das Ende des durchweg stark gespielten Films lässt sich in seiner Stimmung und Aussage in verschiedene Richtungen auslegen und bleibt dabei letztlich offen. Der Tanz, den Mikkelsen am Schluss aufführt, steht für mich schon jetzt auf einer Stufe mit Alan Bates‘ Sirtaki in „Alexis Sorbas“. Der an Vinterbergs Dogma-Vergangenheit erinnernde natürliche Look des Films mit seiner zumeist diegetischen Musik und seiner Nähe zu den Figuren intensiviert das Filmerlebnis und macht es nahbarer.

Als wenig verantwortungsvoll empfinde ich aber, dass mit keinem Filmmeter auf die nicht unwahrscheinlichen körperlich-organischen Folgen eines permanenten 0,5-Promille-Pegels eingegangen wird – immerhin scheint ja erst die Erhöhung der täglichen Dosis zu Problemen geführt zu haben, während mit 0,5 Promille alles eitel Sonnenschein war. Das wäre dann aber auch schon mein einziger Kritikpunkt. Ergo: „Auf den Alkohol – den Ursprung und die Lösung sämtlicher Lebensprobleme!“ (Homer Simpson)
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Wenn Steine sprechen

„Machen Sie keinen Massenmord daraus!“

Der 15. Beitrag zur damals noch jungen öffentlichen-rechtlichen Fernsehkrimireihe „Tatort“ hat die Stadt Baden-Baden zum Schauplatz und ist der erste und zugleich letzte um die Figur Kommissar Pflüger (Ernst Jacobi, „Nachruf auf Jürgen Trahnke“) – ein Novum: Pflüger war der erste „Tatort“-Kommissar, der nicht in Serie geschickt wurde. „Wenn Steine sprechen“ wurde von Bruno Hampel geschrieben, von Erich Neureuther inszeniert und am 13. Februar 1972 erstausgestrahlt. Mit „Der Mann auf dem Hochsitz“ führte Neureuther im Jahre 1978 zum zweiten und letzten Mal bei einem „Tatort“ Regie.

„Gibt’s Belohnung?“

Der ältere Tippelbruder Matysiak (Horst Beck, „Die Gentlemen bitten zur Kasse“) wird von einem etwa gleichaltrigen Mann ins Koma geprügelt. Als er erwacht, schafft er es noch in die Stadt und bricht dort zusammen, woraufhin er ins Krankenhaus eingeliefert wird. Er faselt immer wieder etwas von einem Mord im Jahre 1939 und Beton – auch gegenüber Kommissar Pflüger, der aus diesem Grunde zu ihm ans Krankenbett bestellt wurde. Es geht um den Westwallbunker am Rheinufer, wo jemand namens Lothar 1939 ermordet worden sei. Offenbar weiß Matysiak wirklich zu viel, denn kurz darauf wird er im Krankenhaus per Luftinjektion umgebracht. Tatsächlich gilt ein Lothar Windegger seit damals als vermisst – man vermutete, er habe sich zur Fremdenlegion abgesetzt. Pflüger ermittelt und stößt dabei auf zwei Männer, die sowohl Matysiak als auch Windegger gekannt haben – einer von ihnen ist der Krankenhaus-Masseur Pohl (Max Mairich, „Hoopers letzte Jagd“), angestellt in jenem Krankenhaus, in dem Matysiak ermordet wurde…

„Des Menschen Wille ist sein Himmelsreich!“

Pflüger bekommt es also mit gleich zwei Mordfällen zu tun – kein schlechter Schnitt für nur einen einzigen „Tatort“-Einsatz. Bevor dieser auf den Plan tritt, wirft einen Neureuther jedoch mitten in die Rauferei am Rheinufer, gefilmt mit subjektiv anmutender Wackelkamera. Matysiak erwacht später schwer lädiert und nimmt den Bus in die Stadt, was die Handlung zwar kaum voran-, einem aber Matysiak etwas näherbringt. Einen Kontrast zum elend aussehenden Matysiak bildet das Tennismilieu, in dessen Rahmen der stirnglatzige Kommissar eingeführt wird. Während dessen ersten Gesprächs mit Matysiak scheint letzterer zu sterben; doch es stellt sich heraus, dass er lediglich eingeschlafen ist – war wohl gelangweilt vom etwas unauffälligen und biederen Kommissar, dessen einzige Marotte zu sein scheint, mit Lyrikzitaten wie später Ulmen in Weimar zu protzen. Dabei versteht man nicht unbedingt immer alles, denn die nicht nachsynchronisierten O-Töne sind mitunter arg leise geraten, zudem werden gleich mehrere verschiedene süddeutsche Dialekte gesprochen (hier wären Untertitel hilfreich gewesen).

Zu einem wichtigen Zeugen avanciert der Angler (Werner O. Feißt, „Tatort: Tod eines Einbrechers“), der Zeuge wurde, wie Matysiak sich wieder aufgerappelt hat. Aus dessen und Matysiaks arg bruchstückhaften Aussagen muss Pflüger nun etwas kombinieren, was ihm grundsätzlich gelingt, wenngleich er die Hilfe des bayrischen Kommissars Veigl (Gustl Bayrhammer) benötigt, dem er in München einen Besuch abstattet – der in den frühen „Tatorten“ obligatorische Gastauftritt eines anderen „Tatort“-Kommissars. Gemeinsam plaudert man über Freiluftsport (köstlicher Dialog!) und stattet Mutter Windegger (Dora Altmann, „Charlie und die Schokoladenfabrik“) einen Besuch ab. Allmählich nimmt der Fall Kontur an und da das Publikum lange Zeit kaum mehr weiß als die Polizei, ist etwas Spannung gegeben. Ein Nägelkauer ist dieser „Tatort“ jedoch nicht.

Achtung, Spoiler: Einen Wissensvorsprung erhalten die Zuschauerinnen und Zuschauer erst relativ spät, als sich Masseur Pohl mit dem wohlhabenden Bauunternehmer Bernbacher (Detlof Krüger, „Bischof Ketteler“) unterhält und dabei pikante Details ausspuckt. Dass sich „Wenn Steine sprechen“ nun in die Badener Oberschicht begibt und diese alles andere als vorteilhaft aussehen lässt – man ist auf der Karriereleiter ohne Weiteres über Leichen zu gehen bereit –, wertet ihn unheimlich auf. Bernbachers Arroganz und Selbstgefälligkeit richten sich gegen Pohl, der zum Bauernopfer wird. Dass es bereits die Pointe darstellt, dass Bernbachers Feier ein Reinfall wird, weil niemand erscheint, auch wenn Bernbacher noch so cholerisch herumbrüllt, nun, darauf muss man erst einmal kommen. Kommissar Pflüger kann Bernbacher also nichts anhaben, doch ist Bernbacher nun zur persona non grata geworden.

Dabei belässt es die Handlung, die zuvor mit dem aufgestemmten Bunker und der perfiden Ermordung Matysiaks weitere dramaturgische Höhepunkte aufweisen konnte. Demgegenüber stehen belanglose Smalltalks, die Einblicke in Pflügers Privatleben bieten sollen. Heutzutage kurios mutet das Geschlechterklischee an, dass fast alle Frauen hier Kaffee servieren – oder auch mal ein Likörchen oder einen Gin… Denjenigen, der Matysiak anfangs verprügelte und der später ebenfalls im Krankenhaus umherschlich, vergisst das Drehbuch leider irgendwann vollends, dafür sorgt die Kameraarbeit mit ihren etwas schrägen Perspektiven und ihren Großaufnahmen der Figuren für Dynamik und Unmittelbarkeit, und auch der Schnitt ist meist auf der Höhe.

Nach nur einem Einsatz wäre es ungerecht, Pflüger bzw. seinem Schauspieler einen Vorwurf zu machen; erst weitere Episoden hätten gezeigt, ob seine bedächtige, ruhige und zurückhaltende, nicht unsympathische Art sich gut in die Krimireihe eingefügt hätte. So bleibt gewissermaßen ein „Tatort“-Kuriosum, das es mir mit seinen Figuren und seiner eigentlich recht reißerischen, von der italienischen Mafia inspirierten Geschichte allen genannten Schwächen zum Trotz irgendwie angetan hat. 6,5 von 10 Tassen Kaffee lasse ich da gern bringen. Fräulein!
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Jet Generation – Wie Mädchen heute Männer lieben

„Jet Generation – Wie Mädchen heute Männer lieben“ – das ist das Langfilm-Debüt des berüchtigten deutschen Genrefilmers Eckhart Schmidt („Der Fan“). Das (nennen wir es mal) Drama wurde im Sommer und Herbst 1967 in München und Umgebung gedreht und am 25. Januar 1968 uraufgeführt. Für das Drehbuch arbeitete Schmidt mit Roger Fritz („Mädchen Mädchen“) zusammen, der zugleich die männliche Hauptrolle verkörperte.

Die attraktive, junge Carroll Buchheim (Dginn Moeller) reist von New York nach München, um persönliche Nachforschungen in Bezug auf das spurlose Verschwinden ihres Bruders Dirk anzustellen. Vier Monate ist es bereits her, dass man zuletzt etwas von Dirk gehört hat. Seine Wohnung hat er verkauft und die Behörden sind Carroll keinerlei Hilfe. Ihre Spur führt zum eingebildeten Modefotografen Raoul Malsen (Roger Fritz), der Dirk offenbar als Letzter gesehen hat. Ausgerechnet zu ihm fühlt sie sich immer stärker hingezogen…

„Na, das ist ja eine spannende Sache“, würde die scheidende Kanzlerin angesichts der Inhaltsangabe eventuell kommentieren – um vermutlich ähnlich enttäuscht zu werden wie ich. „Jet Generation“ ist leider kein knisternder, packender, erregender Erotik-Thriller, der die sexuelle Revolution knapp vorwegnimmt, die vermeintliche Verführbarkeit einer jungen Frau aufgreift und diese letztlich als großangelegten Racheplan entlarvt. Vielmehr handelt es sich um das oberflächliche Porträt eines ebenso oberflächlichen Fotografen aus der nicht minder oberflächlichen Modewelt, der großkotzig auf seine Mitmenschen herabblickt, ohne dass es negative Konsequenzen für ihn hätte – im Gegenteil: Aus vollkommen unerfindlichen Gründen verguckt sich auch Carroll in ihn. Über die vom Fotomodell Dginn Moeller in ihrem einzigen Filmengagement verkörperte Frau erfährt man darüberhinausgehend kaum etwas, sie bleibt weitestgehend nebulös. So tritt der Film narrativ die meiste Zeit auf der Stelle, bis im „Finale“ immerhin Dirks Verschwinden aufgeklärt wird.

Seine Qualitäten zeigt „Jet Generation“ in seinem unbedingten Stilwillen. Wie er die bayrische Landeshauptstadt in eine übertriebene Swingin‘-Sixties-Ästhetik taucht, wie sie dort mutmaßlich niemals vorherrschte, ist in Kombination mit seinen bunten, sonnendurchfluteten Bildern aller Ehren wert. Doch wann immer etwas Überraschendes innerhalb dieser Parallelrealität passiert, stellt sich heraus, dass es mit der Handlung gar nichts zu tun hat. Trotz Raouls Vielweiberei und Schmidts Bemühungen um eine gewisse libidinöse Anspannung bleibt sein Film seltsam asexuell und außer ein paar verschämt eingestreuten nackten Oberweiten jegliche Erotik außen vor.

Dabei sind die Darstellerinnen und Darsteller, u.a. Jürgen Draeger („Polizeirevier Davidswache“) als Raouls homosexueller Assistent Chris, mit einiger Hingabe bei der Sache – allein es fehlt ein Drehbuch, dass dem Stil auch etwas Substanz angedeihen ließe (womit der Film bisweilen an Antonionis „Blow Up“ erinnert, der Schmidt sicherlich inspiriert haben dürfte). So offenbart „Jet Generation“ – zu seinem aufgegriffenen Milieu durchaus passend –, wie langweilig rein äußerliche Attraktivität schnell werden kann. Er scheint nichts zu sagen zu haben und bleibt auch eine Antwort darauf schuldig, „wie Mädchen heute Männer lieben“ – indem sie sich in Arschlöcher verknallen? Sollte das die Aussage des Films sein? Oder ging es schlicht um die Bloßstellung der Modewelt als verführerisches, aber eigentlich vollkommen belangloses Zeitphänomen – und ihr filmisches Pendant dazu? Das weiß Schmidt vermutlich selbst nicht mehr so genau. Somit bleibt sein Debüt in erster Linie filmhistorisch interessant.
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The Suicide Squad

„We're all going to die…”

Nach US-Regisseur David Ayers etwas glückloser Erstverfilmung der DC-„Suicide Squad“-Antihelden-Comics aus dem Jahre 2016 trat, nach einigem konzeptionellen und personellen Neuausrichtungen sowie dem zwischengeschobenen Spin-Off „Birds of Prey“, der von Marvel bzw. Mutterkonzern Disney geschasste US-Filmemacher James Gunn („Slither“, „Guardians of the Galaxy“) an, es noch einmal zu wagen: Im Gegensatz zu Ayer, der es seinerzeit zu vielen Interessengruppen auf Produzentendruck hin hatte recht machen müssen und das kreative Potential des Stoffs daher nicht ausschöpfen konnte, ließ man Gunn weitestgehend freie Hand – und kurzerhand das Drehbuch selbst verfassen, wie er es zur Bedingung gemacht hatte. Die, um einen Artikel erweitert, nun „The Suicide Squad“ betitelte Science-Fiction-Fantasy-Action-Splatter-Big-Budget-Trash-Komödie (uff…) kam im Sommer 2021 in die Kinos und wurde zum Reboot erklärt, obwohl dieser elfte Film des DC Extended Universe auch als Fortsetzung fungieren hätte können.

„This is suicide.” – „Well, that's kind of our thing.“

Im südamerikanischen Inselstaat Corto Maltese hat ein Militärputsch das einst von den USA installierte Regime gestürzt. Um alle Informationen über das in der dortigen Geheimbasis Jotunheim stationierte Geheimprojekt „Starfish“ – eine intergalaktische Geheimwaffe – zu vernichten, stellt Amanda Waller (Viola Davis, „Blackhat“) eine Gruppe Strafgefangener zusammen und schickt diese auf die Insel. Sind Colonel Rick Flag (Joel Kinnaman, „Verblendung“), Harley Quinn (Margot Robbie, „Birds of Prey“), Captain Boomerang (Jai Courtney, „Terminator – Genisys“), Blackguard (Pete Davidson, „Dating Queen“), Weasel (James Gunns Bruder Sean Gunn, „Super - Shut Up Crime!“), T.D.K. (Nathan Fillion, „Der Soldat James Ryan“), Javelin (Flula Borg, „Killing Hasselhoff“), Mongal (Mayling Ng, „Lady Bloodfight“) und Savant (Michael Rooker, „Henry - Portrait of a Serial Killer“) erfolgreich, winkt Hafterleichterung – doch desertieren sie, bläst Waller ihnen per in den Nacken installierter Sprengvorrichtung ferngesteuert die Rüben weg. Diese Schwadron jedoch ist lediglich die Vorhut, Kanonenfutter, das den Feind von der Landung der eigentlichen Elitetruppe ablenken soll. Die beiden Profikiller und Ex-Soldaten Bloodsport (Idris Elba, „28 Weeks Later“) und der für den „Weltfrieden“ bereitwillig über alle Leichen gehende Peacemaker (Ex-Wrestler John Cena, „Bumblebee“), der bunte Punkte schießende und erbrechende Polka-Dot Man mit ausgeprägtem Mutterkomplex (David Dastmalchian, „Blade Runner 2049“), die Rattenherrscherin Ratcatcher II (Daniela Melchior, „The Black Book of Father Dinis“) und der etwas tumbe, dafür umso gefräßigere und starke Nachkomme einer Meeresgottheit, King Shark (Steve Agee, „Super – Shut Up Crime!“, im Original von Sylvester Stallone gesprochen), bilden das Sträflings-Team „Task Force X“, das sich nun neben Diktator Silvio Luna (Juan Diego Botto, „Lifeline“) und dessen Truppen auch dem Folterknecht Thinker (Peter Capaldi, „World War Z“) und dem „Project Starfish“ ausgesetzt sieht, dessen ganze Ausmaße ihm erst nach und nach bewusst werden…

„He's not a werewolf, he's a weasel! He's harmless! I mean, he's not harmless, he's killed 27 children, but, you know...“

Was in vergangenen Jahrzehnten noch eines der größten Probleme von Superhelden-Comicverfilmungen war, die halbwegs glaubwürdige Darstellung ihrer Superkräfte und die daraus resultierende Action, ist dank immer ausgefeilter und realistischer anmutender CGI und anderer Spezialeffekte längst möglich. Kommt kein echtes Comic-Gefühl auf, hat das andere Gründe. Was für Superhelden gilt, besitzt natürlich auch für Antisuperhelden Gültigkeit, und so bietet bereits der Prolog ein ganzes Potpourri an Ultrabrutalem und Action, das an Kriegsfilme à la „Der Soldat James Ryan“ erinnert. Auf den Vorspann folgt eine Rückblende, bevor es in die Gegenwart geht. Zeit- und Ortsangaben zur Orientierung werden künstlerisch mittels Bildinhaltselementen dargestellt und helfen, sich in den immer mal wieder installierten Rückblenden, insbesondere zu parallel stattgefundenen Ereignissen, zurechtzufinden. Mit einer absichtlich sprunghaften und unzuverlässigen Narration wie noch bei „Birds of Prey“ hat das aber nicht viel zu tun; es erzeugt eine eigene, angenehme Dynamik, die sich gut in die Dramaturgie einfügt.

„I don't like to kill people, but if I pretend they're my mom, it's easy.”

Eben diese Dramaturgie steckt voller Überraschungen und wird zu keiner Sekunde langatmig. Als Beispiel sei die zu einem betont übertrieben lässig-zynischen Mordballett avancierende Ankunft der Schwadron in einem cortomaltesischen Dorf angeführt, die zunächst wenig schöne Assoziationen an revisionistische US-Vietnamfilme weckt. Aber, siehe da: Man hat mir nichts, dir nichts versehentlich die verbündeten Rebellen getötet! Dadurch gerät diese Sequenz zur Verballhornung faschistoider Söldnerfilme. Die fiktionale Insel, ehrerbietend benannt nach dem Protagonisten der italienischen Abenteuer-Comics von Zeichner Hugo Pratt, erinnert mal an Kuba, mal an Venezuela – aber später stellt sich heraus, dass die USA weit mehr Dreck am Stecken haben als die Corto-Malteser. Der Seitenhieb auf die kriegerische US- bzw. NATO-Regime-Change-Außenpolitik ist nicht zu übersehen.

James Gunn beweist auch einmal mehr ein feines Gespür für seine Figuren, macht sie zu Charakteren, wozu neben seiner Erfahrung im Antihelden-Comicfilm beigetragen haben mag, dass er mit diversen Schauspielern bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat. Wer es schafft, die Handlung lang genug zu überleben, erhält etwas Zeit für seine Hintergrundgeschichte oder auch für introvertiertere, stillere Momente, die Gunn kitschfrei inklusive harschen Brechungen zu inszenieren versteht. Ratcatcher IIs traurige Vita wird in Form einer in Busfensterscheiben visualisierten Rückblende gezeigt, was nur eines von mehreren Beispielen für die kreative Kameraarbeit und visuelle Gestaltung des Films ist. Die Rattenherrscherin entwickelt dann auch eine besondere Beziehung zu Bloodsport, der unter einer ausgemachten Rattenphobie leidet (was Anlass für Running Gags ist). Der Polka-Dot Man hingegen bleibt auch mit seinem Mutterkomplex skurril und komisch, wenn Gunn verbildlicht, wie all seine Mitmenschen für ihn wie seine Mutter aussehen. Selbst der per Motion Capture auf die Leinwand gebrachte King Shark bekommt einen leisen Moment, wenn er bunte Fische in einem riesigen Aquarium erspäht und mit ihnen zu spielen beginnt.

Als das ändert indes nichts daran, dass King Shark eine witzig-tumbe Erscheinung ist, zahlreiche Superhelden-Klischees verballhornt werden und die oft amüsanten Sprüche und Dialoge vor vulgären, eigentlich kaum jugendfreien Vulgarismen, wie man sie von Marvel & Co. eben kaum kennt, regelrecht strotzen – ganz gleich ob untereinander oder im Disput mit der eigenen minderjährigen Tochter, die eine „Fernsehuhr“ stibitzt hat. Harley Quinn ist diesmal tatsächlich nur eine Figur von vielen, hat dementsprechend weniger Leinwandpräsenz und zeigt weit weniger Haut als die männlichen Darsteller. Starke Auftritte hat sie zweifelsohne dennoch, allen voran ihre Diktatorenromanze, die auch als in sich abgeschlossener Kurzfilm bestens funktioniert hätte. Prinzipiell auch nicht zu verachten ist ihr für die Gegenseite verlustreicher Gefängnisausbruch, dessen Brutalität Gunn mit niedlichen Zeichentrickelementen konterkariert. Störend wird das den Figuren per Drehbuch auferlegte Verhalten jedoch in ein paar (wenigen) Szenen, in denen sie nichtfigurenimmanente Kräfte zu entwickeln scheinen, die sie die größten Gefahren wie z.B. dichten Kugelhagel blessurenfrei überstehen lassen – da scheint dann aller Ironisierung zum Trotz doch immer mal wieder typischer Actionkino-One-(Wo)Man-Army-Quatsch durch.

„Oh my god, we've got a freaking kaiju up in this shit!”

Eine ganze Seestern-Armee hingegen ist Endgegner Starro, ein überdimensionaler Seestern aus dem All, der kleinere Exemplare seiner selbst auf Mensch abschießt, die sich auf ihren Köpfen festsetzen und diese damit zu seinen verlängerten Armen machen. Was man leichtfertig als „Alien“-Reminiszenz erachten könnte, ist tatsächlich eine uralte DC-Eigenkreation: In den Comics kämpfte die Justice League bereits 1960 gegen das Ungeheuer, das seither immer mal wieder auftauchte und zweifelsohne einen der bizarrsten Widersacher des DC-Multiversums darstellt. Und selbst diese Kreatur erhält noch eine tragische Note. Das im Kaiju-Stil à la Godzilla und Konsorten inszenierte Finale ist Japan-Monster-Hommage und bombastische Action- und Zerstörungsorgie zugleich. Wie zur Hölle Bloodsport auf einer Festplatte gespeicherte sensible Daten mitten im Trubel so ohne weiteres auf einen sicheren Server hochgeladen hat, hätte aber schon einer Erklärung bedurft. Hat er in seinem Anzug ein Rechenzentrum…?

„I was happy in space, looking at the stars...”

Suicide-Squad- und Batman-Comicautor John Ostrander hat einen Gastauftritt als Dr. Fitzgibbon, Troma-Chef Lloyd Kaufman und Schauspielerin Pom Klementieff („Guardians of the Galaxy Vol. 2“) tanzen in einem Nachtclub. Und mit Kaleidoscope (Natalia Safran, „Aquaman“), Calendar Man (ebenfalls Sean Gunn) und Double Down (Jared Leland Gore, „Boss Level“) sind für entsprechend geeichte Fans weitere DC-Schurken kurz zu erhaschen. Gerade letzteres ist ein Indiz für die Liebe zum Detail, mit der James Gunn arbeitete. Die musikalische Untermalung vereint Steven Prices Score mit einer überraschend stimmigen Melange aus Pop und Rock sowie Hip-Hop und R&B bekannter und unbekannterer Interpreten, die sowohl Klassiker als auch jüngere Songs umfasst, darunter interessante Coverversionen. Schauspielerisch die größte Entdeckung ist die gebürtige Portugiesin Daniela Melchior, die sich mit ihrer Darstellung der Ratcatcher II für weitere Produktionen empfohlen haben dürfte.

Ich kenne die Comics nicht, auf denen die „Suicide Squad“-Filme basieren, aber James Gunn ist ein comichaft anarchischer Straßenfeger gelungen, der den Comic-Nerd genauso ansprechen sollte wie den B-Movie- und Trash-Fan, den/die Action-Liebhaber(in) oder den Splatter-Freak (hier platzt manch Schädel, werden Menschen auseinandergerissen etc.), vielleicht sogar Freundinnen und Freunde von Verschwörungsthrillern. Im Post-Finale werden moralische Fragen verhandelt, die einmal mehr US-Geheimdienste und -Staatsführung adressieren und dazu beitragen, dass „The Suicide Squad“ gefühlt alles, was von den 1950ern bis in die Gegenwart Spaß gemacht hat, miteinander verbindet, ohne dabei beliebig zu werden oder jeglichen Anspruch aufzugeben. Damit spielt er tatsächlich in einer anderen Liga als noch die 2016er-Version, wenngleich er – wie eingangs erwähnt – mühelos auch als Fortsetzung durchgegangen wäre, nicht zuletzt wegen der zahlreichen personellen Überschneidungen. Ein bisschen schade ist es schon, dass er nicht den coolen Titel „Suicide Squad: Project Starfish“ bekam. Davon unabhängig sind bereits die auf oldschool getrimmten Kinoplakate echte Hingucker und werden sicherlich bald die Wände des einen oder anderen Comic-Fans zieren.

Wer übrigens im Kino zu früh aufsteht oder auf dem heimischen Sofa die Stop-Taste betätigt, verpasst die Post-Credit-Szene, die einen Hinweis darauf gibt, wie es in Sachen DC Extended Universe weitergeht...
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Falco – Forever Young

„Er war einsam und zerrissen.“

Die Zusammenarbeit des ORF mit der Raum.Film-Filmproduktion, der ca. 77-minütige Dokumentarfilm „Falco – Forever Young“, ist eine von mehreren Produktionen, die sich anlässlich Falcos 60. Geburtstags im Jahre 2017 mit dessen Leben, Wirken und Kunst beschäftigten: Im selben Jahr strahlte der deutsche Privatsender Vox die fast dreieinhalbstündige Dokumentation „Er war Superstar: Falco - Eine Legende wird 60“ aus und erschienen Rudi Delozals „Falco – Die ultimative Doku“ sowie der Falco-Beitrag zur Arte-Reihe „Too young to die“. Dieser vom österreichischen Regisseur Patrick Hibler gedrehte Film feierte seine TV-Premiere am 4. Februar 2017 auf ORF III, die bundesdeutsche Ausstrahlung folgte am 21. Februar auf BR3.

Aufgrund der Vielzahl dieser Produktionen mag das Thema auf den ersten Blick wie ein reichlich gemolkener Goldesel erscheinen, doch beweist sie das ungebrochene Interesse an Falco alias Johann „Hans“ Hölzel als Musiker und Person, von dem auch 20 Jahre nach seinem tragischen Tod noch eine ungeheure Faszination ausgeht. Hibler hatte als Journalist in jungen Jahren höchstpersönlich ein Interview mit Falco geführt, Auszüge dieses aufs Jahr 1991 datierenden Gesprächs finden sich im mit Off-Sprecher Matthias Euba verstärkten Film ebenso wie eine Vielzahl teils raren Archivmaterials aus alten Live-Ausschnitten, TV-Auftritten, weiteren Interviews etc. Prominente Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen sowie Weggefährtinnen und Weggefährten wie André Heller, Niki Lauda, Markus Spiegel, Thomas Rabitsch, die Band Opus und Nina Proll sowie Falcos langjähriger Manager Horst Bork kommen ebenso zu Wort wie jüngere österreichische Künstlerinnen und Künstler (Bilderbuch, Julien Le Play, Alkbottle, Thomas Jarmer von Garish) und Falcos vermeintliche Tochter Katharina-Bianca Vitkovic, die er wie ein eigenes Kind angenommen hatte. Das Besondere indes ist, dass es Hibler auch gelang, Falcos 89-jährigen Vater Alois Hölzel vor die Kamera zu bekommen, der das Potential und Genie seines Sohns nicht erkannt hatte und bis heute eher verwundert über dessen Erfolg scheint. Das ist eines der Alleinstellungsmerkmale dieser Dokumentation.

Hibler begibt sich auf einen chronologischen Streifzug durch Falcos Leben und Karriere. Sein Aufwachsen wird kurz angerissen, es folgen die Entwicklung der Kunstfigur Falco (über die Falco gern in der dritten Person sprach) und die ersten Bands, angereichert mit Szenen aus dem „Verdammt, wir leben noch“-Spielfilm. Vieles kennt man aus den zahlreichen anderen Falco-Dokus: Dass der erste große Hit „Der Kommissar“ ursprünglich als B-Seite gedacht war, sich das erste Album gut verkaufte und dessen Nachfolger „Junge Roemer“ Bowie-inspiriert und etwas überambitioniert war. Dass Opus auf ihm als Background-Sänger involviert waren, dürfte hingegen weniger bekannt sein. Der Drahdiwaberl-Sänger meint, das Album sei „zu kalt“ gewesen – da ist sicherlich etwas dran. Es folgte der Durchbruch mit dem dritten Album, das in enger Zusammenarbeit mit den Bolland-Brüdern entstanden war und mit dessen größtem Hit „Rock Me Amadeus“ Falco zunächst gehadert hatte. Zur Illustration dieses Abschnitts der Karriere Falcos hat Hibler in Form eines kritischen TV-Interview, das die Moderatorin Barbara Stöckl mit Falco führte, ein schönes Zeitdokument zu Tage gefördert.

Das Phänomen „Jeanny“ mitsamt Skandal findet natürlich ebenso Beachtung wie Falcos Nr.-1-Erfolg in den USA, den er als Belastung empfand, und seine vermeintliche Vaterschaft. Die Doku wirft nun ein kritisches Schlaglicht auf die Maschinerie des Musikgeschäfts und die Probleme, die sie Falco bereitete, beispielsweise auf der Japan-Tour zum „Emotional“-Album, und die schließlich zur Absage der US-Tour führten. Die nächsten beiden Alben wurden Misserfolge, was mir in Hinblick auf „Wiener Blut“ noch immer ein Rätsel ist, und auch „Data De Groove“ hat seine großen Momente. Musikjournalist Walter Gröbchen ordnet den „Junge Roemer“-„Flop“ korrigierend ein (denn nach diesen Verkaufszahlen hätte sich manch anderer die Finger geleckt) und bezeichnet „Data De Groove“ gar als missverstanden und visionär.

Anfang der 1990er gelang mit dem Comeback-Album „Nachtflug“ ein Achtungserfolg. Falco ging wieder auf Tour, hatte mit Sylvia eine feste Partnerin an seiner Seite, versuchte, von seinen Achillesfersen Alkohol und Tabletten abstinent zu bleiben und wirkte aufgeräumt. Inmitten dieser Harmonie vertieft Hibler Falcos schwierige Beziehung zu seinem Vater in einem sehr persönlichen Interview mit Alois Hölzel – ein bis dahin wenig beachtetes Puzzlestück in den Versuchen, Falcos bzw. Hans Hölzels Persönlichkeit zu erkunden.

Die Endphase wird durch Falcos Technoprojekte T»MA (erfolgreich) und T»MB (weniger erfolgreich) eingeläutet. Zu dieser Zeit hatte er seinen Lebensmittelpunkt bereits in die Dominikanische Republik verlegt und in Carolin eine neue Lebensgefährtin gefunden. Er feierte seinen 40. Geburtstag und plante ein neues Album, war jedoch etwas verunsichert und feilte lange daran. Aufgrund seines tödlichen Autounfalls erscheint es posthum und beschert ihm ein – bittere Ironie des Schicksals – posthumes Comeback mit neuen Hits und hohen Verkaufszahlen. Darüber hinaus erfährt man, dass Falco mit einer Million in der Kreide gestanden habe. Falcos Stiftung und Nachlassverwaltung streift Hibler nur kurz und lässt unerwähnt, dass sich mit Ronald Seunig ein Unternehmer und bekennender Rechtsextremist den Stiftungsvorsitz gekrallt hat und seither mutmaßlich von Falcos Tantiemen profitiert, während er in der Öffentlichkeit den angeblich besten Freund Falcos markiert – ein unwürdiges Trauerspiel und vermutlich perfektes Beispiel für einen falschen Freund (von denen Falco viele gehabt haben dürfte) und einen schmierigen Erbschleicher. Abschließend geht Hibler auf Falcos musikalisches Vermächtnis und seinen Einfluss auf jüngere Generationen ein. Verweise aufs Falco-Musical und einige warme Nachrufe runden „Falco – Forever Young“ ab.

Da Hibler in Sachen Archivmaterial offenbar aus dem Vollen schöpfen konnte, gelang es ihm, jede Phase aus Falcos Karriere von eben jenem persönlich und treffend kommentieren zu lassen. Interessant ist es dabei, zu beobachten, wann Falco in Interviews offensichtlich in die Rolle seiner Kunstfigur schlüpfte – und wann eher nicht. Spezielle Single-Veröffentlichungen und Kooperationen Falcos mit z.B. Désirée Nosbusch oder Brigitte Nielsen bleiben leider unerwähnt, generell hätte man sich gern eingehender mit Falcos Musik auseinandersetzen dürfen. Andererseits verdeutlicht „Falco – Forever Young“ einmal mehr, dass Falco keinesfalls auf seine Musik reduziert werden konnte, sondern ein Gesamtkunstwerk war, eine Stilikone und Aushängeschild Österreichs, letztlich aber eben auch ein Menschen mit Fehlern und Problemen.

Mit vielen anderen Falco-Dokus hat der Film „Falco – Forever Young“ u.a. gemein, dass er wirkt, als habe ein ehrliches Interesse an Falco sowohl als Künstler als auch als Mensch bestanden. Kaum eine dieser Dokumentationen äußert sich despektierlich, allzu reißerisch oder wühlt auf üblem Gossip-Niveau im Intimsten. Man begegnet Falco mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Faszination, untermauert seinen Stellenwert und hilft dabei mit, ihn weiter zu zementieren. Die Kehrseite der Medaille sind die Wiederholungen und Überschneidungen, die sich naturgemäß ergeben, wenn dasselbe Thema von verschiedenen Filmemachern immer wieder bearbeitet wird. Und angesichts weiterer Produktionen wie dem Falco-Spielfilm, dem Falco-Musical und diversen posthumen Tonträgerveröffentlichungen wirkt es bisweilen, als kralle sich die Unterhaltungsindustrie nach wie vor an Falco fest und möchte ihn einfach nicht gehen lassen.

Ob das als Statement in Bezug auf den aktuellen Popmusikmarkt und dessen Qualität interpretiert werden kann und wenn ja, wie es genau lautet, soll an dieser Stelle aber nicht diskutiert werden. Dass ich mir lieber noch einmal die „Einzelhaft“ auflege, soll als Antwort genügen…
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Shane

„Das haben mir die Leute schon vor 30 Jahren erzählt: ,Mach' so weiter und du wirst deinen 20. Geburtstag nicht mehr erleben.' Mindestens die Hälfte von denen schauen sich mittlerweile die Radieschen von unten an. Allmächtiger! Wenn ich keine Lust hätte zu Leben, dann wäre ich schon lange nicht mehr hier!“ – Shane MacGowan

Der britische Filmemacher Julien Temple, der bereits Ende der 1970er den Sex-Pistols-Film „The Great Rock 'n' Roll Swindle“ gedreht hatte und für den im Jahre 2007 veröffentlichten, vielbeachteten Joe-Strummer-Dokumentarfilm „The Future Is Unwritten“ verantwortlich zeichnet, wandte sich Ende der 2020er erneut dem Punk zu. Das Ergebnis lautet im Original „Crock of Gold: A Few Rounds with Shane MacGowan” (in der deutschen Fassung radikal verkürzt auf „Shane“) und widmet sich eben jenem Urgestein des Irish-Folk-Punks, das mit seiner Band The Pogues zu Beginn der 1980er das Genre begründete und mit seinen Erfolgen die traditionelle Musik seiner Heimat einem breiten Publikum über die Subkultur hinaus nahebrachte.

Der rund zweistündige Dokumentarfilm, produziert von Temple, Johnny Depp und Stephen Deuters (Co-Produktion: Patrick O'Neill), ist eine formal über weite Strecken streng chronologisch vorgehende Musiker-Biographie, die jedoch aus zahlreichen Versatzstücken und Stilelementen zu einem bunten Trip collagiert wurde: Temple eröffnet seinen Film mit irische Legenden aufgreifenden Animationssequenzen und verknüpft fortan rasant geschnitten mit Schauspielern nachgespielte Szenen aus Shanes Kindheit, zahlreiches authentisches, rares Archivmaterial, Fotos, Videoclip- und TV-Auszüge sowie mehrere eigens für den Film mit dem 61-jährigen MacGowan geführte Interviews (oder besser: Gespräche miteinander). Und da MacGowan eng mit der Geschichte seiner irischen Heimat verbunden ist, bekommt man einigen Geschichtsunterricht obendrein: Die Hungersnot im 19. Jahrhundert, die Kämpfe gegen den britischen Imperialismus/Kolonialismus, Iren im US-Exil, die IRA.

MacGowan führt als nuscheliger Off-Erzähler persönlich durch den biographischen und dokumentarischen Teil des Films; die deutschen Untertitel der deutschen Fassung sind da keine Option, sondern unabdingbar (und das Schönste: Sogar die angespielten Pogues-Songs werden übersetzt). Vom Leben ist er mittlerweile gezeichnet, seit einer Knieverletzung im Jahre 2020 auf den Rollstuhl angewiesen, kaum zu mimischen Regungen fähig. Die Vermutung, dass sein Zustand auf seinen jahrzehntelangen Genuss von Alkohol und anderen Rauschmitteln zurückzuführen ist, liegt nahe. Nach eigenen Angaben hat ihn seine verrückte Tante bereits im Vorschulalter mit Alkoholika und Zigaretten versorgt, was doch einigermaßen in Erstaunen versetzt. Ungebrochen sind jedoch MacGowans wacher Geist und sein herrlich trockener Humor, meist begleitet von einem Zischen durch die dritten Zähne – seine Art zu lachen. Ausgehend von seiner Kindheit auf der irischen Farm seiner Familie in Tipperary, auf deren Feiern er früh mit irischer Musik in Berührung kam und zum Singen und Feiern animiert wurde, über den Umzug mit seiner Familie nach Südostengland, seine dortige Schulzeit und die anti-irischen Anfeindungen, die er zu erleiden hatte, bis zu seiner Jugend in London inmitten der Punk-Explosion in der zweiten Hälfte der 1970er erzählt der Film, wie MacGowan aufwuchs und schließlich den Punk für sich entdeckte, während zeitgleich die Medien auf den hageren Mann mit den schlechten Zähnen und dem verhaltensauffälligen Habitus aufmerksam wurden. Shane gründete seine erste Punkband, The Nipple Erectors, und schließlich The Pogues.

Die in ausführlichen Passagen implementierten Gespräche führten sein Freund Johnny Depp, ein berühmter Schauspieler, Gerry Adams, ehemaliger Präsident der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin und maßgeblich am irisch-britischen Friedensprozess beteiligt, sowie seine Ehefrau Victoria Mary Clarke mit ihm. Dabei geht es um irische Politik und Kultur, um Alkohol und andere Drogen, um sein Selbstverständnis als Künstler, Ire und Mensch und natürlich um Musik. Die wichtigsten Stationen seines Lebens werden mit zahlreichen Anekdoten angereichert. Man erfährt aus erster Hand, wie MacGowan mit den späteren The-Pogues-Alben haderte, die weg vom Irish Folk hin zu massenkompatiblerem, damit aber auch weniger charakteristischer Rockmusik tendierten. Und wie er irgendwann nur noch funktionieren musste: Es ist im Prinzip die immer gleiche, schon so oft von anderen Bands gehörte Geschichte gieriger Managements, die ihre Künstler ausquetschen bis zum Geht-nicht-mehr. Die ständigen Auftritte und Tourneen zehrten MacGowan derart aus, dass er, 1991 am Ende seiner Kräfte angelangt, gar aus seiner Band geworfen wurde. Daraufhin gründete er The Popes, während The Pogues ohne ihn weitermachten. Diese Kapitel aus MacGowans Vita werden jedoch nicht weiter vertieft. Dafür wird dem unvergleichlichen Weihnachtslied „Fairytale Of New York“ ein Kapitel gewidmet, das zu einem echten saisonalen Dauerbrenner geworden ist.

Zu Wort kommen auch MacGowans Eltern und seine Schwester Siobhan, seinen Werdegang und die familiären Verhältnisse aus ihrer Sicht kommentierend. Schade hingegen, dass sich kaum ein anderes Bandmitglied der Pogues äußert. Hier wäre interessant zu wissen, ob sie von sich aus nicht konnten respektive wollten – oder ob MacGowan keinen Wert darauf gelegt hatte. Bemerkenswert ist dagegen die These, dass es MacGowans Diaspora in London gewesen sei, die ihn sich auf seine Wurzeln besinnen ließ, ohne die The Pogues gar nicht möglich gewesen sei. Das fügt sich gut ins vermittelte Bild des ewigen irischen Rebellen MacGowan, des unbändig stolzen Patrioten, der es in einem der Gespräche sogar bedauert, nicht mehr für die irische Republik getan, nie zusammen mit der IRA gekämpft zu haben. Letzteres ist der Moment, in dem man ihm zurufen möchte, dass er es genau richtig gemacht hat und es auch die IRA nicht wert ist, sein eigenes Leben, seine künstlerischen Ambitionen, sein eigentliches Talent für sie aufzugeben, dass er auf seine Weise weit mehr erreicht hat.

Temples Film endet mit Aufnahmen des Tribut-Konzerts anlässlich MacGowans 60. Geburtstags, das in Dublin stattfand, bei dem auch Nick Cave und der unvermeidliche Bono auf der Bühne standen – und in dessen Rahmen MacGowan der Preis für sein Lebenswerk feierlich verliehen wurde. Ein runder Abschluss eines Films, der einem Shane MacGowan und seine Lebensphilosophie näherbringt, zu der auch gehört, dem Alkohol zuzusprechen, um das Leben noch mehr genießen zu können. Zwischen dem etwas erschreckenden, nachdenklich, vielleicht auch traurig stimmenden, Anlass zur Sorge gebenden Bild, das er äußerlich abgibt, und seiner Lebenslust, die er gegen Ende noch einmal formuliert, mag eine Diskrepanz bestehen – aber war dies nicht schon immer der Fall, weshalb ein Fernsehmoderator ihn bereits in jungen Jahren damit konfrontierte, stets auszusehen, als kippe er jeden Moment um? Shane MacGowan, ein großer Musiker und Poet, ein belesenes, geschichtsbewusstes und politisch wie kulturell bewandertes Genie, das seinen Intellekt nie heraushängen ließ, sondern sich stets als einfacher Mann seines Volkes präsentierte – und dem Rezensenten durch diese Zusammenarbeit mit Julien Temple den bisherigen Kino-Höhepunkt des Jahres 2021 bescherte, in dessen Zuge eine ordentliche Schneise in die Bar getrunken wurde.

Wer sich auch nur ansatzweise für Punk, Irland oder Saufen interessiert, muss diesen Film gesehen haben. Auf dich, Shane – sláinte!
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Polizeiruf 110: Bis Mitternacht

„Personen weiblichen Geschlechts… Man könnte auch Frauen sagen, oder?“

In ihrem vierten „Polizeiruf 110“ hat es die Münchner Polizistin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) zur Oberkommissarin gebracht. Wie bereits ihr zweiter Fall wurde auch dieser von Dominik Graf inszeniert, der es damit nun auf sechs „Polizeiruf 110“-Episoden bringt. Ein Debütant innerhalb der öffentlich-rechtlichen TV-Krimireihe ist Drehbuchautor Tobias Kniebe. Der Anfang 2001 in München und Umgebung gedrehte Fall wurde am 2. Juli 2021 auf dem Filmfest München uraufgeführt und am 5. September 2021 im TV erstausgestrahlt. Er basiert auf einen realen Fall, der unter dem Titel „Wolllust“ vom pensionierten Kriminaloberrat der Münchner Mordkommission Josef Wilfling in seinem Buch „Abgründe: Wenn aus Menschen Mörder werden“ geschildert wurde.

„Sie macht das gut…“

Elisabeth Eyckhoff ist neu bei der Münchner Mordkommission und hat es gleich mit einem besonderen Fall in Verbindung mit einem besonders hartnäckigen Delinquenten zu tun: Man ist sich sicher, dass der Student Jonas Borutta (Thomas Schubert, „Windstill“) für den brutalen Überfall auf eine junge Frau (Emma Jane, „Am Abend aller Tage“) in einem Studentenwohnheim verantwortlich ist, bei dem sie zahlreiche Messerstiche erlitt, aber wie durch ein Wunder überlebte. Borutta ist ein der Polizei alter Bekannter, der bereits vor drei Jahren dringend verdächtig war, eine Frau ermordet zu haben. Dem seinerzeit ermittelnden Josef Murnauer (Michael Roll, „Lena Lorenz“) mangelte es jedoch an Beweisen und Borutta hüllte sich in Schweigen – so auch diesmal. Zwar gelang es Eyckhoff, Borutta zum Sprechen zu bringen, doch verwertbar ist davon nichts. Und die Zeit tickt: Bis Mitternacht sind es noch zwei Stunden – hat Borutta bis dahin kein Geständnis abgelegt, muss er wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Da Eyckhoff auf der Stelle zu treten scheint, wird der beurlaubte Murnauer gebeten, etwas aus Borutta herauszubekommen…

„Der geilt sich doch auf an seinen Schachtelsätzen! Er glaubt, dass er auf alle ‘ne Antwort hat.“

„Bis Mitternacht“ ist eine Art Kammerspiel-Psychoduell in Beinahe-Echtzeit, das sich hauptsächlich auf dem Polizeirevier in zwei verschiedenen Verhörräumen abspielt, die rote Digitaluhranzeige – beginnend bei 22:00 Uhr – ständig im Bild. Graf ergänzt dieses Konzept um Rückblenden, teils kurz und assoziativ mit Aufnahmen eines Vulkanausbruchs kombiniert, teils ausführlicher den Tatvorgang zeigend. Und konfrontiert Eyckhoff Borutta mit ihren Vorstellungen davon, wie die Tat abgelaufen sein könnte, werden auch diese Hypothesen visualisiert. Der sekundäre Schauplatz ist jener Raum des Reviers, durch den Eyckhoffs Kollegen die Szenerie genau beobachten und kommentieren, ohne dass es Borutta mitbekommt. Dort verzweifelt man zunehmend an Boruttas zwar recht eloquentem, aber eben auch nichtssagendem Gequatsche, mit dem er immer mehr Zeit gewinnt.

„Die Uhr tickt – für ihn, nicht für uns!“

Diese spannende Prämisse wird erweitert um die Hinzuziehung Murnauers, was zu mehr als nur Kompetenzgerangel führt: Ein deutlich älterer Mann soll einer jungen Frau ihren Fall wegnehmen, weil man ihr dessen Lösung nicht mehr zutraut. Das ist eine Kampfansage, die Eyckhoff u.a. mit der Staatsanwältin diskutiert. Dass man letztlich nur in Kooperation miteinander erfolgreich ist, ist eine ebenso simple und universelle wie konstruktive Botschaft. Dass sich Eyckhoff in einer Männerdomäne durchsetzt und mit ihrer weiblichen Intuition und ihrem Einfühlungsvermögen allen Belastungen zum Trotz erfolgreicher ist als manch männlicher Kollege mit seinen Macho-Methoden, die sich gar als kontraproduktiv erweisen, ist angenehm beiläufig und zugleich die Handlung entscheidend vorantreibend eingearbeitet worden. Ohne mitunter fragwürdige Manipulationsversuche wie die „Opferung“ eines aufbrausenden Kollegen, die Fälschung eines Beruhigungsmittels und die Konfrontation des Täters mit seinem jüngsten Opfer geht es allerdings auch nicht vonstatten. Und wenn Dominik Graf zur Split-Screen-Methode greift, scheinen deutlich seine Kinovorbilder durch.

„Die Umstände unseres Kennenlernens sind mehr als ungünstig gerade...“

Der „Polizeiruf 110: Bis Mitternacht“ erzählt somit eine mehrschichtige Geschichte, die neben einem (vielleicht etwas einfach geratenen) Psychogramm eines in all seiner Armseligkeit fast schon bemitleidenswerten Frauenmörders einen konstruktiven Beitrag zur Geschlechterdebatte leistet, psychologisch versierte Verhörmethoden anstelle gewaltvoller Machtdemonstrationen empfiehlt und die ihre Rolle facettenreich verkörpernde Verena Altenberger einmal mehr ideal in Szene zu setzen versteht. In einer Nebenrolle findet sich zudem erneut der Regisseur Robert Sigl („Laurin“), der, nachdem er im zweiten Eyckhoff-Fall den Polizeibeamten Blöchl spielte, nun den Kollegen Dorfmeister verkörpert. Dominik Graf wird in der Regel als besonders genre- und kinoaffiner Regisseur charakterisiert. Betrachtet man das Kriminalkammerspiel ebenfalls als ein Subgenre, passt diese Beschreibung auch hier. Vielleicht ist Dominik Graf aber auch einfach ein besonderer Fernsehkrimi-Regisseur, dessen Beiträge immer über das gewisse Etwas verfügen.
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Candyman

„I am the writing on the wall, the sweet smell of blood. Be my victim.”

US-Filmemacher Jordan Peele, der mit seinen Rassismus-kritischen Horrorfilmen „Get Out“ und „Wir“ in den 2010er Jahren für Aufsehen sorgte, ließ sich offenbar vom Erfolg des „Halloween“-Films von Regisseur David Gordon Green inspirieren, der im Jahre 2018 einen neuen zweiten Teil darstellte, also sämtliche bisher erschienenen, an John Carpenters Subgenre-begründenden Stalk’n’Slash-Film anknüpfenden Fortsetzungen ignorierte. So verfasste Peele zusammen mit Win Rosenfeld und Nia DaCosta ein Drehbuch, das die Geschichte von „Candyman“, jenem US-Horrorfilm aus dem Jahre 1992, weiterspinnt, ohne zu berücksichtigen, was in den seitdem veröffentlichten zwei Fortsetzungen vor sich ging. Peele produzierte auch gleich zusammen mit Rosenfeld sowie Ian Cooper, überließ den Regiestuhl jedoch dem Nachwuchstalent Nia DaCosta („Little Woods“). „Candyman’s Fluch“, wie das Original in seiner deutschen Fassung hieß, basiert wiederum auf einer in England statt wie die Filme in Chicago angesiedelten Kurzgeschichte Clive Barkers, in der der Candyman, wie man ihn kennt, jedoch gar nicht vorkommt (und schon gar nicht erscheint, wenn man seinen Namen fünfmal in einen Spiegel spricht). Da es aus der Mode gekommen ist, Fortsetzungen mit einer entsprechenden Ziffer im Titel zu kennzeichnen, heißt nun also auch DaCostas Film, der im Sommer 2021 in die Kinos kam, schlicht „Candyman“.

„Candyman is a way to deal with the fact that these things happened to us, are still happening!”

Das Chicagoer Stadtviertel Cabrini-Green, einst ein Arbeiterbezirk voller Sozialwohnungen, ist mittlerweile weitestgehend durchsaniert und -gentrifiziert. Erst kürzlich haben der Künstler Anthony McCoy (Yahya Abdul-Mateen II, „Aquaman“) und seine Frau Brianna Cartwright (Teyonah Parris, „Chi-Raq“) dort eine schöne, moderne Wohnung bezogen, in der sich Anthony auch sein Studio eingerichtet hat. Leider mangelt es ihm an Inspiration, was sich jedoch ändert, als ihm Briannas Bruder Troy (Nathan Stewart-Jarrett, „Wenn du König wärst“) vom Flammentod der Reporterin Helen Lyle als eine Art urbane Legende berichtet. Anthony stellt eigene Nachforschungen an und wird bald mit Helen Lyles damaligem Forschungsgegenstand konfrontiert: dem Mythos des Candyman – einem großgewachsenen schwarzen Mann, der anstelle einer rechten Rand einen Haken hat und unbarmherzig alle tötet, die es wagen, ihn anzulocken, indem sie seinen Namen fünfmal in einen Spiegel sprechen. Anthony stellt im Rahmen einer Vernissage einen Spiegel auf und fordert die Besucher(innen) auf, eben dies zu tun. Nach einem brutalen Doppelmord in der Galerie scheint es tatsächlich, als sei der Candyman zurückgekehrt – und Anthony ist mit seiner Kunst zum Stadtgespräch avanciert. Seiner Popularität kommt das zugute, doch weiß er wirklich, was er da herausbeschworen hat…?

„Tell everyone.“

Die Produktionslogos zu Beginn des Vorspanns werden als visueller Gag spiegelverkehrt gezeigt, was ein erster Hinweis ist sowohl auf die optische Verspieltheit des Films, die sich in einigen Szenen in Details und Zooms zeigt, als auch auf das verstärkte Agieren mit dem Spiegelmotiv als elementarem Bestandteil des Candyman-Mythos: Der Spiegel als Fenster in eine dunkle Welt, durch die der Candyman in die vertraute Realität schreitet. Lange Zeit ist er lediglich in Spiegeln zu sehen, während er zeitgleich ganz real und brutal wütet. Zugleich fungiert der Spiegel als beunruhigendes Zerrbild der eigenen Seele, in dem für Anthony die Realität und die eigene Identität infrage gestellt werden. Im Kontrast zu einigen grafisch herben Gewalt- und Ekelszenen stehen die originell mittels Scherenschnittfiguren in Schattenspielen visualisierten Rückblenden (während andere Rückblenden schauspielerisch realisiert wurden). Seine Handvoll Jumpscares hat „Candyman“ wohldosiert, viele Gewalteruptionen finden jedoch nicht selten offscreen statt. Der eine oder andere dezente Verweis auf Genreklischees untermauert die Absicht, mit eben jenen zu brechen. Dass hier mehr männliche als weibliche Nacktheit zu sehen ist, ist nur ein Beispiel dafür.

Während viele Horrorfilme, insbesondere Slasher, in Kleinstädten angesiedelt, wird der urbane Ansatz des ‘92er Originals aufgegriffen und weiterentwickelt, indem das Phänomen der Gentrifizierung verhandelt wird. Am dominantesten jedoch ist das Thema Rassismus, das in unterschiedlichen Ausformungen als sich durch die US-Historie bis in die Gegenwart ziehender roter Faden dargestellt wird und den Candyman schließlich gar zu einer Art Black-Lives-Matter-Racheengel macht. Dass der Film diesmal auch über den Candyman hinaus auf schwarze Hauptdarsteller(innen) setzt, ist da nur folgerichtig – und dass eine der männlichen Figuren auf selbstverständliche Weise homosexuell ist und mit einem Mann zusammenlebt, ist Ausdruck einer gleichberechtigten Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Zusammengenommen ergibt all das einen sehenswerten Post-Slasher mit ausgeprägtem Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände und politische Entwicklungen, eingebettet in einen um zahlreiche Aspekte erweiterten Mythos.

Unklar bleibt, weshalb manch grafischer Spezial- und Make-up-Effekt vor der Kamera ausgekostet wird, viele jedoch nicht. Am Rating dürfte es kaum gelegen haben. Sollte das Budget zu niedrig gewesen sein, wäre das schade. Das vor der Kamera versammelte Ensemble lässt dafür schauspielerisch nichts anbrennen, insbesondere Abdul-Mateen II überzeugt mit seinem Spagat aus gutaussehendem, durchtrainiertem jungem Mann und verunsichertem, von Selbstzweifeln geplagtem und sich zunehmend entfremdendem, auch äußerlich veränderndem Künstler. Zudem wartet die Besetzung in Vanessa Williams und Tony Todd mit einer Veteranin und einem Veteran aus der Erstverfilmung auf. Ist einem diese jedoch nicht mehr so geläufig oder hat man sie womöglich noch gar nicht gesehen, dürfte einem bei der Rekapitulation der Hintergründe in DaCostas Fortsetzung früher oder später der Faden verlorengehen.

Das furiose Finale überrascht mit mindestens einer Wendung sowie seiner Drastik, lässt sich als Cliffhanger für eine weitere Fortsetzung verwenden, beantwortet jedoch nicht unbedingt alle Fragen. Die größte, die mir blieb, ist die nach der inneren Logik der Mythos-Weiterentwicklung in Kombination mit den Wendungen gegen Ende, die ich mir noch nicht abschließend beantworten konnte. Greift da wirklich ein Puzzlestück sauber ins andere? Bis ich diesbezüglich schlauer bin, ist meine Bewertung unter Vorbehalt zu betrachten.
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Tatort: Platzverweis für Trimmel

Porsche, Trimmel, hallo HSV

„Was war er von Beruf?“ – „Eigentlich Penner!“

Der am 19. August 1973 erstausgestrahlte sechste Fall des ersten Hamburger „Tatort“-Ermittlers Paul Trimmel (Walter Richter) entstand unter der Regie des Stammregisseurs dieses „Tatort“-Zweigs, Peter Schulte-Rohr, der auch zusammen mit Friedhelm Werremeier das Drehbuch verfasste und es auf insgesamt 15 Beiträge zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe brachte. „Platzverweis für Trimmel“ ist im Milieu der deutschen Fußball-Ligen angesiedelt und greift den Bundesliga-Skandal der Saison 1970/’71 auf: Rot-Weiß Oberhausen und Arminia Bielefeld hatten sich mittels manipulierter Spiele den Klassenerhalt gesichert.

„In dem Gewerbe könnt‘ ich mir ‘nen ehrlichen Menschen nur äußerst schwer vorstellen…“

Eine Leiche wird nachts im Tor eines Bolzplatzes abgelegt, ein Zeuge beobachtet die unheimliche Szenerie. Ein Dauerläufer findet den Toten am nächsten Morgen und alarmiert die Polizei, die mit Kriminalhauptkommissar Trimmel anrückt und den Leichnam als Louis Spindel identifiziert. Dieser war finanziell gut betucht, Geldbriefträger Jonny Feldmann (Klaus Stieringer, „Cliff Dexter“) brachte regelmäßig höhere Summen Bares vorbei. Außerdem sei eine Frau namens Olga (Christa Berndl, „Die wilden Fünfziger“) regelmäßig zu Besuch gewesen, so Spindels Vermieterin. Spindel unterhielt offenbar geschäftliche Beziehungen zum nordrhein-westfälischen Regionalligisten VfL Bonsdorf. Trimmel kombiniert einen Zusammenhang mit dem Bundesliga-Skandal vor wenigen Jahren. Er heftet sich an Feldmanns Fersen und reist nach Köln sowie nach Bonsdorf, um sich einen Überblick über die Geldschiebereien im Fußballgeschäft zu verschaffen. Bis ein weiterer Mord geschieht…

„Ich war dreimal unglücklich verliebt, und die Männer sind alle tot.“

Der Fall und der VfL Bonsdorf sind fiktional, der Bundesliga-Skandal war es nicht und auch die HSV-Spieler, die mit Trimmel im Zug nach Köln reisen, sind ebenso real wie deren (toll gefilmte!) Spielszenen aus der Partie gegen den 1. FC Köln im Februar 1973, das für die Hanseaten verlorenging. Dort trifft Trimmel auf seinen Kollegen Böck (Hans Häckermann) aus Bremen, womit auch der damals obligatorische Gastauftritt eines anderen „Tatort“-Ermittlers abgehakt wäre. Die Verquickung von mutmaßlicher Spielmanipulation und dem Mord ist zunächst einmal spannend, legt aber zahlreiche falsche Fährten und ist mit seiner Vielzahl an nebulösen Nebenfiguren und zudem etwas arg langatmigen Erzählweise dramaturgisch nicht immer ein Volltreffer – bisweilen eher Standfußball denn Offensivzauber.

„Jetzt muss ich dich ‘n bischn verhaften!“

Dafür punktet diese Episode mit einer zeitweise recht düsteren Stimmung und der überraschenden charakterlichen Entwicklung Feldmanns hin zur gruseligen Type, deren Verhalten sich nur noch schwer nachvollziehen lässt. Auch seine Freundin Tilly (Eos Schopohl, „Einer muss der Dumme sein“) steigert besonders im betrunkenen Zustand den Unterhaltungswert, die Musik erinnert mitunter ein bisschen an Maestro Morricone und die Gesichtszooms ans gute alte Euro-Genrekino. Auch die Auflösung der Morde hat in ihrer Verquertheit beinahe etwas Gialloeskes, während das Thema manipulierter Spielverläufe bestechend simpel abgeschlossen wird und sich letztlich ebenfalls als roter Hering entpuppt, jedoch nicht, ohne der Schiedsrichterzunft aufgrund ihrer Subjektivität kräftig einen mitzugeben – und dabei gleichzeitig die Bundesliga zu relegitimieren.

„Der HSV hilft gern, wenn man kann!“ – „Besonders der Polizei!“

Ausgerechnet Jürgen Scheller von der Münchner Lach- und Schießgesellschaft einen Kölner spielen zu lassen, ist mutig, das weitaus authentischere, geballte Zeit- und Lokalkolorit Hamburgs und Kölns aber helfen aus heutiger Perspektive, über die Schwächen dieses historischen „Tatorts“ hinwegzusehen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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