bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Jack The Ripper – Der Dirnenmörder von London

„Auf diese Weise sind Sie Ihren Patienten keine Hilfe!“

Mit dem Schweizer Produzenten Erwin C. Dietrich und dem umtriebigen spanischen Genre-/Sexploitation-/Trash-Vielfilmer Jess Franco („Paroxismus“) hatten sich zwei gesucht und gefunden. Das Ergebnis ihrer mehrjährigen Kooperation umfasst jedoch nicht ausschließlich fragwürdige Sexfilmchen, sondern im Jahre 1976 mit „Jack the Ripper – Der Dirnenmörder von London“ auch eine Verfilmung des klassischen, historischen Stoffs um den nie gefassten Prostituiertenmörder, der im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts sein Unwesen trieb. Dietrich stellte sein bis dahin höchstes Budget zur Verfügung, ließ Francos Drehbuch von Jean-Claude Carrière überarbeiten – und Franco ließ dem Enfant terrible Klaus Kinski („Leichen pflastern seinen Weg“), Hauptdarsteller und Star des Films, weitestgehend freie Hand, der es ihm Überlieferungen zufolge mit Allürenfreiheit und Motivation dankte.

„Sie sind ja völlig verändert!“

Der angesehene Arzt Dr. Orloff (Klaus Kinski) gibt tagsüber den wohltätigen Samariter, der für ein karges Salär die angehörigen der Unterschicht behandelt, verfügt jedoch über ein dunkles Geheimnis: Er ist der vom Volksmund „Jack The Ripper“ getaufte psychopathische Triebtäter, der es nachts auf Prostituierte abgesehen hat und diese bestialisch ermordet. Nach einigen Morden melden sich bei Inspektor Selby (Andreas Mannkopff, „Das Amulett des Todes“) zwar Zeugen, die eine recht genaue Beschreibung des Täters abliefern, doch die Polizei tappt weiterhin im Dunkeln. Da fasst Selbys Freundin Cynthia (Josephine Chaplin, „Pasolinis tolldreiste Geschichten“) den Entschluss, sich als Prostituierte auszugeben und als Lockvogel zur Verfügung zu stellen. Ein gefährliches Unterfangen…

„Warum haben Sie Angst vor Frauen, mein Freund?“

In dieser freien Adaption des Stoffs wird kein großes Verwirrspiel um die währe Identität Jack The Rippers betrieben. In den durchaus gelungen auf nebelverhangenes viktorianisches London getrimmten Züricher Stadtkulissen versuchen sich Franco und Co. an einer psychologischen Deutung der Taten: Dr. Orloff hat ein Kindheitstrauma erlitten, das ihn noch immer verfolgt und ihn zu seinen misogynen Taten antreibt. Dieses Trauma resultiert aus dem Umstand, dass seine Mutter eine Hure war. Eine interessante Variation des Themas, die einhergeht mit schauriger Atmosphäre, gewitzten Dialogen, entblößten Oberweiten (eine dürre Dirne entblättert sich auch ganz), einer von Kameramann Peter Baumgartner hübsch in Szene gesetzten ordentlichen Ausstattung sowie Gesangs- und Tanzeinlagen Lina Romays („Rolls-Royce Baby“). Diese lacht sich Dr. Orloff an, woraufhin er ihr die Kleidung vom Körper reißt, auf sie einsticht und sie küsst und vergewaltigt, während das Leben langsam ihren Körper verlässt. Und es kommt noch schlimmer: Er zerlegt sie bei lebendigem Leibe – ein Höhepunkt der sleazigen Gewalt dieses Films, der ausgezeichnet ausgeleuchtet wurde, nichtsdestotrotz verstört, aber in artifiziell anmutenden Bildern kulminiert.

Weitere Schauwerte sind die opulente Sukkulentensammlung Friedas (Nikola Weisse, „Der Gehülfe“) sowie die unappetitliche Szene in der Arztpraxis, als Orloff dem obdachlosen Charlie (Herbert Fux, „Hexen bis aufs Blut gequält“) ein eitriges Geschwür regelrecht vom Bein reißt. Köstlich, wie eben jener Charlie als selbstbewusster Obdachloser den Hilfssheriff verbal zurechtstutzt, wenngleich diese Szene ebenso wie die Zeuginnenbefragung, die Phantombildanfertigung und die verdeckte Ermittlerin an Francos Frühwerk „Der schreckliche Dr. Orloff“ erinnert. Charlie wird auch im weiteren Verlauf eine nicht unbedeutende Rolle spielen, ebenso der blinde John Bridger (Hans Gaugler, „Es geschah am hellichten Tag“), der über einen besonders ausgeprägten Geruchssinn verfügt und sich sehr gewählt auszudrücken versteht. Tolle Rollenbilder wie diese tragen zum hohen Unterhaltsfaktor dieses Films auch während der Ermittlungsarbeit – eine Pflanze bringt Scotland Yard schließlich auf Orloffs Spur – bei, sodass der Verzicht aufs klassische Whodunit? zu keinem dramaturgischen Problem avanciert. Die Besetzung ist in Teilen durchaus namhaft, Kinski ist natürlich für seine Rolle prädestiniert. Die Nahaufnahmen der Augenpartien waren ein typisch europäisches Stilmittel der damaligen Zeit, die sich hier ebenso gut einfügen wie die vereinzelten Gewaltspitzen und der Sleaze-Anteil, die jedoch nie den Film zu dominieren drohen. Stattdessen drosselt Franco gegen Ende arg das Tempo und setzt auf Spannungsszenen.

Francos „Jack The Ripper“ ist eine erbauliche Mischung aus Kriminalfilm-Motiven, aus dem Horrorbereich entlehnter Gewalt, einer guten Prise Sleaze und amüsanter Geschichtsfälschung geworden, die technisch-formal überzeugt, mit ihrem charmanten internationalen Ensemble punktet und einigen kleineren Schwächen zum Trotz auch erzählerisch ordentlich bei der Stange hält. Oder kurz: Einer der wirklich guten Francos!
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Tatort: Einzelhaft

„Kennen Sie meine Akte?“

Der neunzehnte Fall der Duisburger-„Tatort“-Kripo um Kommissar Horst Schimanksi (Götz George) und seinen Kompagnon Christian Thanner (Eberhard Feik) wurde im Herbst 1987 und Januar 1988 unter Regie Theodor Kotullas, der bereits 1977 mit George für den Film „Aus einem deutschen Leben“ zusammengearbeitet hatte, nach einem Drehbuch Frank Göhres gedreht. „Einzelhaft“ blieb bis dato Kotullas einziger Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe, die Erstausstrahlung erfolgte am 21.08.1988.

„Hier in Duisburg haben wir längst die Mafiosis am Wirken!“

Rolf Vogtlaender (Franz Boehm, „Wallers letzter Gang“) sitzt wegen Mordes an seiner Frau Eva im Gefängnis, doch seine Tochter Ilona (Brigitte Karner, „Das zweite Gesicht“) ist von der Unschuld ihres Vaters überzeugt. Ihre privaten Nachforschungen bereiten Rolf Vogtlaender aber Bauchschmerzen, weshalb er Kommissar Schimanski bittet, auf seine Tochter einzuwirken, den Fall ruhen zu lassen. Damit hat er jedoch Schimanski angefixt, den eigentlich abgeschlossenen Fall noch einmal aufzurollen. Derweil wird eine Prostituierte erdrosselt aufgefunden. Thanner übernimmt die Ermittlungen und reagiert mit Unverständnis darauf, dass Schimanski sich lieber einem vermeintlich erledigten Fall widmet. Doch es scheint Zusammenhänge zu geben: Ilona, die sich als Taxifahrerin verdingt, kannte die Tote – und Unbekannte versuchen, nun auch sie umzubringen…

„Sein Schwanz wird ihm noch mal das Genick brechen!“

Nach diversen starken Beiträgen muss die Duisburger „Tatort“-Reihe hier einige Federn lassen: Schimmi ist nicht mehr nur das ungehobelte Raubein, sondern gegenüber Ilonas offenbar lesbischer Partnerin Petra (Maria Hartmann, „Kommissarin Heller“) regelrecht unangenehm sexistisch. Gänzlich aus der Rolle gefallen scheint Thanner: Der sitzt plötzlich wie ein Asi am Daddelautomat und benimmt sich einem türkischen Imbisswirt gegenüber wie ein Kotzbrocken. Später liefert sich Schimmi einen albernen Kampf auf einer Mauer und lässt sich im Anschluss die Fresse polieren – auch das passt so gar nicht zu ihm. Unverständlich zudem, dass es schon wieder aufs Rotlichtmilieu hinausläuft – man sollte meinen, dieses Feld hätte man in „Tatort“-Duisburg mittlerweile zur Genüge beackert. Was ist mit all den anderen Ruhrpott-spezifischen Themen, die manch Schimmi/Thanner-Fall so sehenswert gemacht hatten? Das hier jedenfalls ist alles andere als eine kreative Meisterleistung des Autors.

„Nutten! Zuhälter! Verrückte! Getobe! Geschrei! Ich will hier Ordnung! Und Ruhe! RUHE!“

Beim Fund der Prostituiertenleiche ist man kurz zu sinnieren geneigt, welch hübsche Leiche Ilona abgibt, doch handelt es sich gar nicht um sie – man hat aus welchen Gründen auch immer schlicht eine Komparsin gleichen Typs verpflichtet. Dies verwirrt unnötig innerhalb einer Handlung, die sich vorrangig um die Machenschaften der Stiefmutter Ilonas drehen sollte. Die Dame war offenbar recht umtriebig im Milieu und scheint auch über ihren Tod hinaus zu wirken. Leider ist manch Dialog nicht sonderlich gut zu verstehen, da der Ton mitunter arg verhallt oder auch vernuschelt ist. Apropos: Eine Art Lauschangriff startet auch Schimanski, der einen Frauen-CB-Funk abhört, jedoch schnell enttarnt wird. Immerhin darf er sich bei der Verfolgung eines Verbrechers einem coolen Autostunt hingeben.

Thanner hingegen fällt rücklings mit der Tür in eine Wohnung, landet aber bäuchlings auf einer Prostituierten – dieser Anschlussfehler ruiniert diesen Gag. Besser gelungen sind da die Tumulte auf der Wache, als gleich mehrere Huren auf einen Verdächtigen einprügeln. Thanner, noch immer der reinste Stinkstiefel, der in einer Art Sinnkrise zu stecken scheint, reicht es daraufhin: Er macht sich in einer Wutrede Luft – eine großartige Feik-Szene und einer der Höhepunkte dieser Episode.

Ein weiteres Todesopfer pflastert den weg zum Finale, das in seiner Ambivalenz perfekt zu diesem „Tatort“ passt: Alle noch lebenden wichtigen Figuren finden zusammen und erklären sich nach Vorbild von Agatha-Christie-Verfilmungen, doch die Wendung hin zu einer Familientragödie, die überraschenderweise Rolf Vogtlaender keinesfalls entlastet, ist nicht von schlechten Eltern. Davor lieferte der mit Vogelperspektiven, einigen schönen Noir-Bildern, netter, jazziger musikalischer Untermalung ein paar dramatisierenden Zeitlupen angereicherte „Einzelhaft“ jedoch leider nur relativ uninspirierte Durchschnittskost, die bisweilen schluderig inszeniert wurde und in Bezug auf wiederkehrende Figuren zu wenig Sorgfalt walten ließ. Schon noch ein solider ‘80er-TV-Krimi, aber der bisherige Tiefpunkt der Herren Schimanski und Thanner (was keinesfalls an den schauspielerischen Leistungen liegt).

Tragisch: Während der Dreharbeiten erlitt Eberhard Feik einen Herzinfarkt und musste sich einen Bypass legen lassen. Von einem weiteren Infarkt 1994 erholte er sich leider nicht mehr. Franz Boehm verstarb gar nur ein knappes Jahr nach Ausstrahlung dieses „Tatorts“, der offenbar unter keinem guten Stern stand...
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Das System Milch

„Unsere gesamte Existenz beruht darauf, dass wir einen Liter Milch so günstig wie möglich produzieren.“

Die italienische Grimme-Preisträger und Filmemacher Andreas Pichler („Ausverkauf Europa“) widmet sich in seinem 2017 in Programmkinos gestarteten und seither unregelmäßig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlten Dokumentarfilm „Das System Milch“ eineinhalb Stunden lang der Produktion von Kuhmilch als für den menschlichen Konsum gedachtes Lebens- und Genussmittel. 2018 hat der Film den Deutschen Wirtschaftsfilmpreis in der „Wirtschaft gut erklärt“-Kategorie gewonnen.

„Man arbeitet nur noch für Konzerne, für die Kraftfutterindustrie und für die Lebensmittelindustrie – und selber bleibt man auf der Strecke.“

Pichler führt als Voice-over-Sprecher durch seinen Film, für den er zunächst exemplarisch zwei unterschiedliche Milchbauernbetriebe besucht: Ein großes dänisches Industrieunternehmen und einen kleinen Bio-Bauernhof in Pichlers Heimat Südtirol. Da treffen erwartungsgemäß Welten aufeinander und die Aussagen des dänischen Großbauern sind an Zynismus schwer zu überbieten. Beiden gemein ist jedoch, dass sie einen riesigen Markt bedienen, der in hiesigen Gefilden seit den 1950ern dadurch anwuchs, dass man der Gesellschaft anerzog, bei Kuhmilch handele es sich um etwas für den Menschen Überlebenswichtiges – obwohl Wissenschaftler die positiven Auswirkungen auf Wachstum und Knochenbau bei Menschen anzweifeln und erhöhter Verzehr sogar im Verdacht steht, krebserregend zu sein. CMA und Konsorten wurden als so etwas wie unabhängige Gütesiegel wahrgenommen, dabei handelt es sich schlicht um Lobbyverbände der Industrie. Obwohl der Großteil der Menschheit laktoseintolerant ist – Chinesinnen und Chinesen sogar zu 90 % –, ist der Milchmarkt durch das jüngst erwachte chinesische Interesse am Milchkonsum noch einmal regelrecht explodiert.

Neben diesem Wissen vermittelt „Das System Milch“, wie bizarr überzüchtete Turbokühe auf Landwirtschaftsmessen präsentiert werden, internationale und sogar interkontinentale Entwicklungen zu einem höchst ungesunden Milchpreisdiktat führen und dass drei Liter Gülle auf die Produktion eines Liters Milch entfallen – wohin damit? Die Regenwaldrodung für die Futtermittelproduktion scheinen die Dänen als eine Art Planspiel zu verstehen, Nitrat verseucht das Grundwasser, die Methangasbelastung schädigt das Klima zusätzlich und trotzdem steigt die Milchproduktion immer weiter. Pichler analysiert das Marketing von Milchprodukten und spricht mit Lobbyisten in Brüssel. Dort verteilt man EU-Subventionen, von denen die meisten an die Agrarwirtschaft gehen, bevorzugt an die Klimakiller der industriellen Landwirtschaft. Überschussproduktion wird gefördert, um die Produktionspreise immer weiter drücken zu können. Pläne, auch Ostasien milchabhängig zu machen, werden unverhohlen formuliert, Pichler filmt chinesische Kuhfarmen. Die überschüssig produzierte Milch findet ihren Hauptabsatzmarkt jedoch in Afrika: Billige EU-Exporte, die afrikanische Volkswirtschaften zerstören, subventioniert durch europäische Steuergelder, von Pichler anhand seiner Besuche senegalesischer Milchbauern dokumentiert. Welch perfides kapitalistische System. Nur über Flüchtlinge, die in ihrer afrikanischen Heimat keine Zukunft mehr sehen und sich auf den beschwerlichen Weg nach Europa machen, sollte sich dann bitte niemand mehr echauffieren.

„Das Ergebnis der Wissenschaftler: Der entscheidende Faktor zur Bekämpfung des Hungers ist nicht die Steigerung der Produktivität, sondern die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und ihrer Produktionsmittel vor Ort. Die besten Garanten für eine flächendeckende globale Ernährungssicherheit sind kleinbäuerliche Strukturen. Ein Großteil der Agrarindustrie lehnt diese Ergebnisse ab.“

Schließlich stellt sich heraus, dass der zynische Däne hochverschuldet ist. Während er sich Kriegsrhetorik bedient, erinnert man sich an dessen Antipode, den Südtiroler Biobauern. Wie bei ihm müsste es überall zugehen, dann hätten sich vielleicht nicht 600 (!) französische Bauern in einem Jahr das Leben genommen. Somit lässt sich „Das System Milch“ durchaus als Plädoyer für Milcherzeugung nach Bio-Standards verstehen, die entsprechenden Schlüsse zu ziehen ist das Publikum jedoch selbst aufgefordert: Pichler hat wichtige, unaufgeregte und seriöse journalistische Vorarbeit geleistet, die Konsequenzen ziehen hoffentlich seine Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Überwindung des „Systems Milch“ geht im Idealfall einher mit einer Überwindung des Systems Kapitalismus, der, wie dieser Film eindrucksvoll veranschaulicht, auch auf diesem Gebiet versagt, Mensch, Tier und Natur ausbeutet und Folgeschäden produziert, die uns alle teuer zu stehen kommen. Mich daran erinnernd, wie lange selbst ich gebraucht habe, zu kapieren, dass Milchkühe permanent künstlich schwanger gehalten werden, plädiere ich ferner für ein Schulpflichtfach „Ernährungskunde“ o.ä. und für die Integration dieses Films in den Schulunterricht – vielleicht in einer leicht überarbeiteten Fassung, in der auch die süddeutschen und Südtiroler Gesprächspartner untertitelt werden…
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Borgman

„Nur ein paar Tage...?“

Der Niederländer Alex van Warmerdam („Grimm“) führte Regie beim niederländisch-belgisch-dänisch koproduzierten Mystery-Drama/-Thriller „Borgman“, der im Jahre 2013 erschien.

„Es ist Zeit für Liebe, es ist Zeit für Trost.“

Drei übernatürliche Wesen, die ihre Gestalt zwischen Hund und Mensch wechseln können, leben im Wald, versteckt in Erdhöhlen. Nachdem sie von dort verjagt wurden, sucht einer von ihnen, der sich Camiel Borgman (Jan Bijvoet, „The Broken Circle“) nennt, die Villa einer wohlhabenden Familie auf. Er sieht aus wie ein verwahrloster Landstreicher und bittet die Bewohner(innen), ein Bad nehmen zu dürfen. Die Familienmutter Marina (Hadewych Minis, „Loft - Liebe, Lust, Lügen“) kenne er zudem von früher. Doch ihr Ehemann Richard (Jeroen Perceval, „Bullhead“) reagiert derart aggressiv auf Borgman, dass er ihn brutal zusammenschlägt und verletzt vor dem Haus zurücklässt. Am Abend desselben Tags stellt Marina fest, dass Borgman sich in ihr Gartenhaus zurückgezogen hat. In einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Faszination für den Fremden hilft sie ihm schließlich ohne Wissen Richards, die freigewordene Stelle als Gärtner anzutreten. Was sie jedoch nicht weiß: Die Stelle ist nur deshalb freigeworden, weil Borgman & Co. seine Frau und ihn ermordet haben – der Beginn einer unheimlichen Mordserie im Umfeld der Familie. Rasiert, frisiert und in frischer Kleidung erkennt Richard den Bewerber nicht und stellt ihn tatsächlich als neuen Gärtner ein, womit er sich einen wahren Teufel ins Haus geholt hat, der zusammen mit seinen „Kollegen“ derart manipulativ vorgeht, dass er die Kinder und das Kindermädchen für sich gewinnt und somit seinen finsteren Plan zu Ende führen kann…

Vorrangig mit den narrativen Stilmitteln eines Home-Invasion-Thrillers demontiert der Film die trügerische Idylle einer selbstgerechten, dekadenten Wohlstandsfamilie, hinter deren Fassade kaum etwas so ist, wie es scheint; Liebe und Geborgenheit gibt es kaum, das Gefüge entpuppt sich als dysfunktional und in Oberflächlichkeit, Egoismus und Routine gefangen. Dies bietet Borgman & Co. reichlich Anknüpfmöglichkeiten für ihre Manipulationen und letztlich die Zerstörung der Familie. Das Motiv des in eine Familie eindringenden und sie vollends auf den Kopf stellenden Fremden ist auch in seiner psychologischeren und philosophischeren Herangehensweise nicht neu, Buch und Regie versuchen zu variieren. Mehrfach werden bizarre Abwandlungen des klassischen Nachtmahr-Motivs inszeniert, in denen Borgman nackt auf dem Bett der schlafenden Marina sitzt – oder gar direkt auf ihr.

Doch statt konsequent den psychologischen Topos zu bedienen, einen handfesten Thriller auszuarbeiten oder sich nach Art eines Horrorfilms auf den übernatürlichen, dämonischen Aspekt zu konzentrieren, tun Buch und Regie, nun ja – nichts von alledem. Wie es Borgman gelingt, die Familie zu manipulieren, bleibt diffus – es passiert eben einfach. Dabei bleibt – natürlich! – nicht aus, dass Marina plötzlich auf Borgman steht, auf dieses Stereotyp wollte man dann doch nicht verzichten. In erster Linie werden jedoch alle zunehmend aggressiv und verhalten sich immer seltsamer, bis hin zu einer grotesken Ballettaufführung im Garten.

Klar, „Borgman“ will die Nutzlosigkeit der Oberschicht illustrieren, vor allem aber ihre Angst davor, dass etwas in ihre scheinbar heile Welt eindringen und sie zerstören könnte, dass man ihr den ganzen sinnlos angehäuften Wohlstand und sogar den eigenen Nachwuchs nehmen könnte, wenn dieser beschließt, ein anderes Leben zu führen und anderen Vorbildern als denen der Eltern folgt – eine Angst, auf der letztlich der gesamte politische Konservatismus fußt und unter der seit jeher Unter- bis Mittelschicht und stigmatisierte Minderheiten, alternative Lebensentwürfe etc. zu leiden haben. Van Warmerdam aber ist – bis auf eine hübsche Oben-ohne-Szene Sara Hjort Ditlevsens („Rita“) und den erwähnten Nachtmahr-Szenen – weder an Schauwerten noch an psychologischer Finesse oder Plausibilität gelegen. Die Familie überzeichnet er derart stark, dass sie in ihrem unnatürlichen Verhalten schlicht vollends entrückt wirkt und einem auf die Nerven geht. Damit beraubt er sie jedoch jeden Identifikationspotentials, absolut niemand wird sich in dieser Familie wiedererkennen wollen. Eine Mythologie der offenbar übernatürlichen Eindringlinge wird angerissen, aber nicht weiterverfolgt; stattdessen werden nicht nur sie, sondern regelrecht alle Figuren zu Metaphern, zu allegorischen Symbolbildern, wo der Verzicht auf diese Mischung aus Abstraktionen und klischeesierten Projektionsflächen viel spannender gewesen wäre – ganz gleich ob als realistisches Sozialdrama oder als Genrefilm. So wartet man beharrlich auf eine wie auch immer geartete Auflösung der Chose, auf eine Pointe, eine Wendung oder einen Aha-Effekt, während der Film in seinem Pseudosurrealismus verharrt und sein Publikum mit einer spröden Inszenierung ohne Filmmusik in erzwungen langsamem Erzähltempo und Überlänge bestraft.

Damit dürfte, wie so oft, wenn sich die Mittelschicht ihrer anzunehmen vorgibt, die Unterschicht außenvorbleiben, während das Bildungsbürgertum sich fürs naheliegende „Entschlüsseln“ der Metaphern und diverser Anspielungen und Symboliken gegenseitig auf die Schulter klopfen und sich versichern darf, mit der hier abgebildeten Oberschicht ja so gar nichts zu tun zu haben – Menschen also, denen man mal eine Gruppe Punks vorbeischicken müsste, die die Craftbierkästen im Keller findet, eine zünftige Party feiert, Körperflüssigkeiten und Brandlöcher auf dem guten Teppich hinterlässt und anschließend mit dem Nachwuchs abzieht, um ihn weiter zu verderben.
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Tatort: Moltke

„Die Drogenfahndung singt: ,Leise rieselt der Schnee‘…“

Nach dem Durchhänger mit der Episode „Einzelhaft“ riss der Stammregisseur und Miterfinder der Duisburger „Tatort“-Reihe um die Kripokommissare Horst Schimanksi (Götz George) und Christian Thanner (Eberhard Feik) wieder das Ruder herum: Hajo Gies verfilmte das Drehbuch des Autorentrios Axel Götz, Jan Hinter und Thomas Wesskamp mit viel Verve, woraufhin der am 28. Dezember 1988 erstausgestrahlte 20. Einsatz „Moltke“ sogar einen Grimme-Preis für Regie und Hauptdarsteller einheimste.

„Na dann: Frohes Fest!“

Duisburg, Vorweihnachtszeit: Thanner und Schimanski sind beim Weihnachtsbaumkauf, als sie im Kofferraum ihres Wagens den Immobilienbauherrn Gerd Gress (Jürgen Heinrich, „Der Himmel über Berlin“) gefesselt und geknebelt vorfinden. Man hat ihm eine Flasche Danziger Goldwasser mit hineingelegt, die Schimmi als Zeichen des jüngst nach Absitzen einer neunjährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassenen polnischen Bankräubers Zbiginiew Pawlak (Hubert Kramar, „Karambolage“) deutet und Gress somit kein Wort glaubt, als dieser etwas von Skinheads fabuliert. Pawlak gehörte 1978 zu einer Gangsterbande, die eine Bank überfallen hat. Als sein Bruder, einer der Mittäter, angeschossen wurde und in die Fänge der Polizei zu geraten drohte, wurde er vom Anführer der Bande ermordet. Pawlak blieb am Tatort zurück und wurde als einziger gefasst und verurteilt. Seitdem hat er kein Wort mehr über den Bankraub verloren, was ihm seinen Spitznamen „Moltke“ einbrachte. Schimanski wähnt Pawlak auf einem Rachefeldzug gegen seine ehemaligen Komplizen und Gress als einen von ihnen, kann dies jedoch noch nicht beweisen. Gress‘ Anwalt Stefan Cantz (Gerd Silberbauer, „Der Landarzt“) holt ihn schnell wieder aus dem Verhör heraus, doch Schimanski heftet sich an den schweigsamen, aber umso entschlosseneren Pawlak. Dennoch kann er nicht verhindern, dass zwei der damaligen Mittäter ermordet werden, weshalb die Polizei um Schimmis Partner Thanner nun ebenfalls hinter Pawlak her ist…

„Ich glaube, ich war einfach zu feige, Gangster zu werden!“

Angesichts der hier ständig irgendwo im Hintergrund gesungenen Weihnachtslieder handelt es sich um einen regelrecht saisonalen „Tatort“, ein „Fest der Gnade“ feiert er über weite Strecken dennoch nicht. Die Ereignisse aus dem Jahre 1978 werden in einer Schwarzweiß-Rückblende nacherzählt, bevor sich Schimmi und Thanner in versöhnlichen Bildern mit der Unterwelt in einer Kneipe betrinken, wo Thanner gar mit Pawlaks Schwägerin Ariane (Iris Disse, „Die Katze“) anbändelt, bevor man betrunken durch die Straßen zieht. Natürlich handelt es sich dabei um streng dienstliche Ermittlungsarbeit, doch auch aus dem abgefüllten Pawlak ist nichts herauszubekommen. Im weiteren Verlauf wird Schimmi noch eine sagenhafte Show in einem Beach-Club abziehen, während Thanner die Düsseldorfer Drogendezernatsleitung angeboten wird.

„Die nächste Leiche kommt bestimmt!“

Spektakulär auch, wie Pawlak Schimanski in einen Käfig sperrt und Raubkatzen auf ihn hetzt – und wie wenig nachtragend der Beamte ist… Wesentlich genervter reagiert er darauf, dass Thanner ihm permanent dazwischengrätscht, indem dieser, koste es, was es wolle, Pawlak verhaften will. Generell ist mit Thanner diesmal nicht gut Kirschen essen; einem Kollegen droht er gar an, ihm die Fresse zu polieren. Dass Schimanski und Thanner also einmal mehr gegen- denn miteinander arbeiten, trägt ebenso zum Unterhaltungswert dieses „Tatorts“ bei wie der diesmal in erster Linie für trockene Sprüche und lakonischen Humor zuständige Hänschen („Wenn ganz Deutschland gegen dich ist – Holland steht hinter dir.“) und die ambivalente Figur des formidabel vom hünenhaften Hubert Kramar verkörperten Pawlak, der stoisch, festentschlossen und gefährlich, andererseits aber auch verletzlich und nicht unsympathisch wirkt.

„Wir sind kein richtiges Team mehr.“

Innerhalb der Handlung wird auf Grundlage der Gress-Figur nicht nur Kritik an unlauteren Immobiliengeschäften laut, gewissermaßen schlägt dieser „Tatort“ auch die Drücke von klassischen Gangstern mit ihren Raubüberfällen zu den Nobelverbrechern aus der Oberschicht, denn während Pawlak in den Knast wanderte und sein Bruder ermordet wurdet, sind die Komplizen die Treppen heraufgefallen und haben nun entsprechend viel zu verlieren. Statt nach unten tritt Schimanski nach oben und begibt sich auch damit in Gefahr. Und so ganz nebenbei maßregelt er auch noch ein paar halbstarke Nachwuchsfaschos. Ferner werden zumindest in Ansätzen Selbstjustiz und Religiosität thematisiert und miteinander in Verbindung gebracht. Das ist alles temporeich inszeniert und dramaturgisch gewitzt dargeboten, die Verleihung des Grimme-Preises ist gut nachvollziehbar. Einen halben Punkt Abzug gibt’s jedoch aufgrund des Dieter-Bohlen-Malus: Im von seinem „Blue System“-Projekt beigesteuerten Musikstück „Silent Water“ versucht er furchtbarerweise, wie Bonnie Tyler zu klingen und verdeutlicht, wie möchtegerntiefsinnig seine mit viel Hall und Synthies auf atmosphärisch getrimmte Komposition ist. Zu allem Überfluss hat er sich auch noch einen vollkommen überflüssigen Gastauftritt erschlichen, ist mit seiner Antifrisur aber zumindest für einen Lacher gut. Einen besseren Eindruck hinterlässt der junge Ludger Pistor („Balko“) in einer Nebenrolle. Daher 7,5 von 10 Immobilienhaien im Kofferraum für „Moltke“ und ein Duisburger „Tatort“-Team unter Gies in Topform!
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Mutter muss weg

„Antizyklisch!“

Regisseur Edward Berger, sonst eher im Krimibereich zu Hause („Tatort“, „Polizeiruf 110“, „Schimanski“), verfilmte im Jahre 2012 ein Drehbuch Marc Terjungs fürs ZDF. Das Ergebnis ist die Komödie „Mutter muss weg“ mit Komiker Bastian Pastewka in der männlichen Hauptrolle.

Der 40-jährige Tristan (Bastian Pastewka, „Der Wixxer“) ist für seine offenherzige, jedoch sehr dominante Mutter Hannelore (Judy Winter, „Das schöne Ende dieser Welt“) eine einzige Enttäuschung: Er ist spießig und verklemmt, noch immer ledig und seine neueste Geschäftsidee taugt auch nichts. Therapeutin Dr. Korff (Karoline Eichhorn, „Der Felsen“) versucht ihm dabei zu helfen, sich von seiner Mutter unabhängig zu machen, doch Tristan geht sogar einen großen Schritt weiter: Frustriert in der Kneipe sitzend, trifft er auf Josip (Albert Kitzl, „Wir können auch anders...“), der ihm anbietet, seine Mutter zu ermorden, wenn er in Form eines Teils des Erbes bezahlt wird. Doch der Mordversuch geht vollkommen schief, Tristan geht stiften und seine Mutter landet lediglich leichtverletzt im Krankenhaus. Als er sie dort am nächsten Tag besucht, erfährt er, dass sie herzkrank sei und ohnehin nur noch eine geringe Lebenserwartung habe. Das Gewissen beginnt Tristan zu plagen, gemeinsam begibt man sich auf eine Kur. Und dass Josip mittlerweile professionelle Killer engagiert hat, um den Auftrag zu Ende zu bringen, weckt Tristans Beschützerinstinkt – fortan ist jeder verdächtig, der im Kurhotel seiner Mutter seines Erachtens zu nah kommt…

Pastewka hat sichtlich Freude daran, den verklemmten Versager zu mimen, der in ein außergewöhnliches Abenteuer um Leben und Tod gerät. Visualisierte Kindheitserinnerungen während Tristans Therapiesitzungen, zwischen denen und der eigentlichen Handlung die Erzählung kontinuierlich changiert, zeigen jedoch deutlich die Versäumnisse der Mutter auf, die ihren Sohn bisweilen gar verleugnete. Wer sein Vater ist, weiß er nicht, seine Mutter angeblich auch nicht. Die Handlung verhandelt somit sowohl das ‘68er-Phänomen, dass Kinder spießiger als ihre Eltern werden, als auch die Vernachlässigung der Kinder allzu freigeistiger und feierwütiger Eltern, die nie in ihre Vorbild- und Erzieherrolle finden. Nach dem zu Wagnermusik inszenierten Mordversuch wirkt Tristan einen kurzen Moment lang tatsächlich befreit, nämlich genau so lange, bis ihm bewusstwird, dass seine Mutter gar nicht tot ist.

Das ist ein durchaus launiger, schwarzhumoriger Einstieg in diese von einem starken Ensemble gespielte Komödie, die jedoch überkonstruiert erscheint, wenn man beim gemeinsamen Kuraufenthalt sowohl Tristans Psychotherapeutin als auch Mutter Hannelores Kardiologen begegnet. Erstgenannte verhält sich dort auch erschreckend unrealistisch unprofessionell, was der Arbeit von Psychotherapeutinnen und -therapeuten nicht gerecht wird. Besser zu gefallen wissen die Situationskomik, für die Pastewka prädestiniert ist, und der Running Gag, dass Hannelore beim Essengehen grundsätzlich für ihren Sohn mitbestellt – auf diese und ähnlich komische Weise verdeutlicht sich das Verhältnis beider zueinander. Für Spannung sorgt der Umstand, dass tatsächlich manch Hotelgast ein Geheimnis mit sich herumträgt und nicht immer die Wahrheit sagt. Dies verleiht der Handlung einen wohligen Krimi-Touch der alten Schule inklusive unheimlicher Point-of-View-Perspektiven und zum Miträtseln einladender Verdächtigungen, woraus man einiges hätte herausholen können – jedenfalls mehr, als es die leider immer abstruser werdende Handlung vermag, die aus „Mutter muss weg“ zunehmend eine bemüht schwarze Komödie voller unwahrscheinlicher Zufälle macht. Diese wiederum werden schließlich halbherzig mit Tristans blühender Fantasie entschuldigt, wofür am Ende immerhin ein dann doch noch blutiges Ende entschädigt.

„Mutter muss weg“ macht Spaß, allein schon aufgrund seines spielfreudigen und charistmatischen Ensembles, hat letztlich aber zu viele Macken und erscheint zu unausgegoren, um sich aus dem Wust deutscher TV-Komödien nachhaltig abzuheben. Eventuell ist auch der Schnitt verunglückt. Im Bonus-Interview der DVD-Fassung jedenfalls äußert Pastewka, dass er eigentlich geglaubt habe, es ginge Tristan darum, herauszufinden, was seine Mutter weiß und ob sie bestimmte Pläne hege – was ein interessanter, reizvoller Kniff gewesen wäre, nur geht’s darum eben leider überhaupt nicht… Unterm Strich kurzweilige Unterhaltung ohne größeren Erinnerungswert, die im Vergleich zu einem Format wie der „Pastewka“-Serie klar den Kürzeren zieht.
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Justine – Grausame Leidenschaften

„Religion ist bloß die Tyrannei, mit der die Reichen und Mächtigen die Armen zu Sklaven machen, um sie zu erniedrigen!“

Nach seinem weitestgehend unbekannten Debüt „Summer Of Silence“ aus dem Jahre 1974 realisierte der britische Regisseur Chris Boger im Jahre 1977 seinen zweiten und zugleich letzten Spielfilm, das auf „Justine“ und anderen Schriften Marquis de Sades basierende Erotik-Drama „Justine – Grausame Leidenschaften“. „Cruel Passion“, so der Originaltitel, ist zwar ungleich populärer als Bogers Debüt, aber dennoch stets ein Geheimtipp geblieben. Aufgrund dessen gebe ich in den folgenden beiden Absätzen einen Überblick über die gesamte Handlung, insofern herrscht Spoiler-Alarm!

„Alles Körperliche muss doch natürlich sein!“

Ein Kloster in Frankreich: Der Vater der 17-jährigen Juliette (Lydia Lisle, „Der Elefantenmensch“) und ihrer 16-jährigen Schwester Justine (Koo Stark, „Emily“) wird außerhalb des Klostertors begraben, weil er durch seinen Suizid durch Erhängen eine Todsünde begangen hat. Die Mutter der Mädchen wird neben ihm beerdigt, beide sind nun Vollwaisen Die aufrührerische und unkeusche Juliette gibt sich dem gleichgeschlechtlichen Sex mit einer Nonne hin, während Schwester Claire (Malou Cartwright, „Was der schwedische Butler sah“), die enthaltsame und fromme Justine zu vergewaltigen versucht. Nun sind Juliette und Justine angehalten, das Kloster zu verlassen, das Geld ihrer Eltern streicht die Kirche ein. Gemeinsam wollen die Geschwister nun nach London und lassen sich von Lord Carlisle (Martin Potter, „Dämon des Grauens“), den sie auf der Kutschfahrt kennenlernen, zwecks Ausbildung zu Prostituierten an ein Bordell vermitteln. Der tuntige George (Barry McGinn, „Wie man sein Leben lebt“) dient ihnen als Versuchsobjekt und Juliette gibt sich schnell bereitwillig ihren Freiern hin, während Justine Pater Johns (Louis Ife, „The Second Sin“) Angebot annimmt, bei ihm unterzukommen, denn sie möchte nicht als Hure arbeiten. Der Pfaffe jedoch muss sich beherrschen, nicht zu onanieren oder gar über sie herzufallen. Justine erleidet erst einen grausamen Alptraum und schließlich einen Vergewaltigungsversuch des Pfaffen, der jedoch während der Verfolgungsjagd vom Dach stürzt und stirbt. Auf einem Friedhof wird Justine daraufhin von einer Gruppe Landstreicher um die alte Bonny (Hope Jackman, „Jenseits des Rechts“) aufgelesen, die sie baden und umsorgen – und ihr Angst machen, dass sie wegen Mordes gesucht werde, damit sie sich ihnen anschließt und für sie stiehlt. Bonny droht gar damit, sie von „ihren Jungs“ vergewaltigen zu lassen – Justine geriet also vom Regen in die Traufe.

„Es ist möglich, durch liebe die Trauer auszulöschen, mein Kind!“

Lord Carlisle (Martin Potter) hat sich derweil in Juliette verknallt und befreit sie aus dem Bordell. Die Landstreicher nutzen Justine als Köder ausgerechnet für einen Überfall auf die Kutsche, mit der Carlisle und Juliette reisen, und gehen sehr brutal vor, wollen alle Reisenden töten, inklusive Kind und Kegel. Doch Justine kann zumindest das Leben des Lords retten. Die Bande verlangt aber, dass er sie ihnen anschließt, damit er weiterleben dürfe. Gemeinsam gelingt die Flucht, doch die Mörder sind unerbittlich hinter ihnen her. Es kommt zum Kampf, erneut kann man fliehen. Doch Lord Carlisle zeigt sein wahres Gesicht, als er Justine ihre Hilfe dankt, indem er sie an einem See vergewaltigt. Er lässt sie verletzt zurück und flieht feige vor der Bande, deren Hunde über Justine herfallen und deren Männer sie ebenfalls vergewaltigen, um sie anschließend wie ein Stück Abfall in den See zu werfen. Der Lord wird ebenfalls von den Hunden gebissen und schließlich von einem Bandenmitglied ermordet.

„Unser Geschlecht dient der Natur nie so gut, als wenn es sich prostituiert!“

Jess Franco hatte diesen Stoff bereits 1969 verfilmt, doch Chris Bogers gut ausgestattete Low-Budget-Variante gefällt mir sogar noch besser: Diese ist krass, ja, richtiggehend wütend antiklerikal, wenn sie auch zeitweise etwas arg naiv die Prostitution zu verharmlosen scheint. Gruselszenen wie visualisierte Höllenfeuerfantasien, deren Effekt durch das Geschwafel einen Pfaffen verstärkt wird, oder die schnell geschnittene und mit Horrormasken ausgestattete Verbildlichung Justines Alptraums, in dem sie sich gekreuzigt wiederfindet, wechseln sich mit nie zu selbstzweckhaft werdenden Erotikszenen ab, beginnend mit einer nackten masturbierenden Nonne. Je dramatischere Züge die Entwicklung nimmt, desto stärker lässt der Erotikanteil nach; dennoch gelingt es immer wieder mal wieder, die kessen Jungdarstellerinnen entblößt in Szene zu setzen. Die Spielfreude Lisles und Starks teilt zwar nicht das gesamte Ensemble, Barry McGinn als George beispielsweise legt seine Rolle viel zu albern aus, was aber auch damit zusammenhängen dürfte, dass die Bordellszenen allesamt unpassend komödiantisch überzeichnet wurden. Der Tonfall des Films ist in seinem Changieren zwischen ordinär auf der einen und gefühlvoll und sensibel auf der anderen Seite ohnehin etwas gewöhnungsbedürftig, entscheidet sich in seinem Finale jedoch für ein konsequentes Anti-Happy-End, das einem deftigen Magenschwinger gleichkommt.

„Die Religion ist eine Krankheit, die geheilt werden muss!“

In ihm kulminiert die moralische Korruption nahezu aller Beteiligten auf dem Rücken der Geschwister, von denen insbesondere Justine auf tödliche Weise erfahren muss, wie nutz- und wertlos ihre Versuche sind, ein gottesfürchtiges Leben in einer durch und durch verkommenen Gesellschaft zu führen, deren religiöser Überbau aus nichts als Heuchelei und Machtmissbrauch besteht. Boger und sein Team erzählen diese Geschichte, ohne übermäßig in Sexploitation-Gefilden zu wildern (lassen aber deutliche Nunploitation-Einflüsse zu) und ohne in Sachen Tempo in Hektik oder Agonie zu verfallen. Die insgesamt prachtvolle Kameraführung fängt auch einige blutige Szenen ein, die Aussage und darstellerische wie erzählerische Entfaltung unterstreichen, statt von ihnen abzulenken. Von den angesprochenen Schwachpunkten einmal abgesehen ist „Justine – Grausame Leidenschaften“ ein relativ seriöses Erotikdrama, das sich zwischen all den belanglosen Nackedeifilmchen der 1970er zu entdecken lohnt.
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Neue Deutsche Welle – Revolte, Spaß und Da-Da-Da

„Die NDW war zum Teil kein Schöngesang!“

Der rund eineinhalbstündige Dokumentarfilm „Neue Deutsche Welle – Revolte, Spaß und Da-Da-Da“ der Autorin Melanie Didier für den WDR aus dem Jahre 2019 versammelt NDW-Musiker aus der zweiten Reihe wie Markus, Ixi und Geier Sturzflug sowie Zeitzeuginnen und -zeugen wie Lisa Feller, Stefanie Tücking/Ingolf Lück, Dieter Falk oder Aleksandra Bechtel, um gemeinsam das Musikphänomen Neue Deutsche Welle Revue passieren zu lassen. Dieses wirbelte die deutsche Musiklandschaft von Ende der 1970er bis ungefähr Mitte der 1980er ordentlich durch. Ursprünglich vom Punk kommend, etablierte die NDW deutschsprachige Popmusik im Mainstream, wurde aber auch im Eiltempo kommerzialisiert, bis sie als Trend recht bald bedeutungslos wurde. Sie hat aber ihre Klassiker und Evergreens hervorgebracht und wird seither regelmäßig wiederentdeckt.

Susanne Hampl führt als Off-Sprecherin durch den Film, der zahlreiche Original-TV-Aufnahmen in Form von Archivmaterial aneinanderreiht, darunter Ausschnitte aus Musikvideos, Auftritten von NDW-Künstlerinnen und -Künstlern in Fernsehsendungen sowie Interview-Ausschnitte, und von den o.g. Mitwirkenden kommentieren lässt. Natürlich macht man mit Nena den Anfang, beleuchtet aber auch Hubert Kah näher, dessen Musik seit jeher dem Mainstream zugeneigt war, jedoch mit Look und öffentlichen Auftritten für Furore sorgte, und widmet sich schließlich den Punkwurzeln der NDW, vor allem anhand der Düsseldorfer Szene und ihren Übergängen zur NDW, sowie der Stadt Hagen mit ihren Hybridbands Extrabreit und Ideal. Joachim Witt, Frl. Menke, Trio und die Spider Murphy Gang geben sich ebenfalls ein Stelldichein; sogar das kuriose Projekt „Deutsch-Österreichisches Feingefühl (DÖF)“ findet Erwähnung.

Am Beispiel von Ixis „Knutschfleck“ wird schließlich die Kommerzialisierung und Verflachung der NDW problematisiert, aber auch Ixis spaßiges Skandälchen um Detlef, den sie auf den Strich schicken wollte, wird ins Gedächtnis gerufen. Die Geier-Sturzflug-Jungs dürfen noch mal erläutern, wie sehr sie mit ihrem „Bruttosozialprodukt“ missverstanden wurden und stehen doch so einigem, das die NDW hervorbrachte, skeptisch gegenüber; insbesondere Klaus „John“ Fiehe, der sich im schicken T-Shirt des Hamburger Musikclubs „Molotow“ präsentiert und heute 1Live-Moderator ist, wirkt recht grantelig – Geier Sturzflug hatten einen etwas anderen Anspruch als viele NDW-Acts.

„Neue Deutsche Welle – Revolte, Spaß und Da-Da-Da“ ist unterm Strich eine nette Doku, die mit ihren repetitiven „Da da da“-Samples, abgewechselt vom offenbar unvermeidlichen „Es geht voran“ (Fehlfarben), bisweilen ebenso enerviert wie mit der ständig singenden Aleks Bechtel, anhand des geballten Archivmaterials aber einen für den Einstieg (und natürlich die Nostalgie) recht geeigneten Überblick über ein zeitlich begrenztes musikalisches, popkulturelles Phänomen zwischen Mode und Oberflächlichkeit auf der einen und Rebellion und Selbstverwirklichung auf der anderen Seite liefert. Didiers Film zeichnet die Neue Deutsche Welle als kreativen Zeitabschnitt, in dem sich viele (auch tänzerisch…) ausprobieren konnten, wodurch die Bewegung doch ziemlich heterogen geriet. Zudem fand die NDW offenbar zu großen Teilen im damals noch sehr eingeschränkten TV-Musikprogramm statt, wodurch sie vor allem in der „ZDF Hitparade“ für ein Skandälchen nach dem anderen sorgte und sie somit nicht nur zu einem Musik-, sondern auch zu einem Medienphänomen machte.

Die Doku bietet für eineinhalb Stunden Laufzeit einen passablen Querschnitt durch die Neue Deutsche Welle, wenngleich es schade ist, dass der damalige NDW-Underground quasi komplett unerwähnt bleibt. Und wo ist eigentlich Peter Schilling abgeblieben? Tragischerweise handelt es sich bei diesem Film um einen der letzten TV-Auftritte der ehemaligen „Formel Eins“-Moderatorin Stefanie Tücking, die 2018 unerwartet und viel zu früh verstarb. Ihr ist „Neue Deutsche Welle – Revolte, Spaß und Da-Da-Da“ gewidmet – eine schöne Geste.
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Gib Gas – Ich will Spaß!

„Reine Zeitverschwendung!“

Nachdem der seit jeher an Jugend- und Popkultur interessierte deutsche Filmemacher Wolfgang Büld („Brennende Langeweile“) sich in diversen Filmen dem Punk gewidmet und sich am Episodenfilm „Neonstadt“ beteiligt hatte, nahm er sich zusammen mit seinem Kompagnon Georg Seitz dem Phänomen der Neuen Deutschen Welle an – und wollte unter Mitwirkung Trios und Falcos eine Parodie auf Schlagerfilme drehen. Doch es kam anders: Trio und Falco sagten ab. Nun waren Improvisation und Spontaneität gefragt, das Drehbuch wurde flugs um- und auf Markus und Nena, die sich parallel gerade in den Aufnahmen zu ihrem ersten (!) Album befand, zugeschrieben. Als „Gib Gas – Ich will Spaß!“ Anfang 1983 in die Kinos kam, war Nena bereits zum gefeierten Superstar der NDW avanciert.

Robby (Markus) ist der Neue an einer Münchener Schule, wo er sich überstürzt in die attraktive Tina (Nena) verguckt. Doch Tina ist bis über beide Ohren in den Draufgänger Tino (Endrick Gerber von der Berliner Rockband Morgenrot) verknallt, der auf dem Rummelplatz jobbt. Als Tino seinen Job verliert, will Tina die Schule sausen lassen und mit ihm durchbrennen, um einem unsteten Leben voller Abenteuer zu frönen. Für den grundsoliden Robby ist kein Platz in ihrer Welt, bis Tino einfach ohne sie loszieht, weil sie es nicht pünktlich zum verabredeten Ort geschafft hat. Darin, den um sie buhlenden Robby auszunutzen, wittert sie ihre Chance, ihren Traummann einzuholen, und so macht sie dem hilfsbereiten Knaben schöne Augen, damit er mit ihr auf seinem Motorroller die Verfolgung aufnimmt – während er nichts von ihren wahren Motiven ahnt. Doch im Zuge der gemeinsamen Irrfahrt beginnt Tina tatsächlich, Sympathien für Robby zu entwickeln…

„Gib Gas – Ich will Spaß!“ als trashiges Kommerzfilmchen zwecks NDW-Starpromo abzutun, wäre ebenso naheliegend wie wohlfeil. Weitaus interessanter ist es, Bülds Film als Zeitdokument zu betrachten, als ein Jugendkino-Artefakt, das gerade in der Retrospektive mit seinem leichtfüßigen Charme und seiner Unbedarftheit zu umgarnen versteht. Zudem war nach ihren ersten TV-Auftritten damals fast jeder in Nena verknallt, was das Identifikationspotential mit Markus enorm steigerte. Die Mischung aus Roadmovie, NDW-statt-Schlager-Revue, Teenie-Romanze und Komödie transportiert allein schon aufgrund ihrer popkulturellen Ausrichtung ein Höchstmaß an Zeitkolorit und wirkt zugleich wie eine Art verfilmte Bravo-Foto-Lovestory.

Nena, so die Filmemacher, habe Markus zunächst nicht leiden können, was ironischerweise gut zur Handlung passt. Büld eröffnet seinen Film mit Markus bzw. Robby, der im Straßenverkehr seinen größten Hit schmettert, allerdings nicht im Maserati, sondern in kurzen Hosen und weißen Tennissocken auf seinem Motorroller. In seiner neuen Schulklasse macht er Bekanntschaft mit dem rüpelhaften und verfressenen Punk Eckelmann (Peter Lengauer, „Disco Fieber“) sowie mit der quirligen Raucherin (heute unvorstellbar!) Tina. Seltsamer Jugendslang und albernes Gekicher dringen von der Tonspur an die Ohren – und schließlich auf dem Rummelplatz eine weitere unvermittelte Gesangseinlage Robbys.

Man lernt Tino kennen, ein verwegener Vokuhila-Typ vom Autoscooter in roter Lederjacke, auf den Tina steht, während alle Jungs auf Tina stehen. Diese trägt den legendären roten Minirock aus Nenas erstem TV-Auftritt und singt beim Fahrradfahren „Nur geträumt“, während Tino ihr „Wenn du willst“ von Morgenrot bei der gemeinsamen Runde im Autoscooter vorsingt und mit Robby nicht gut Kirschen essen ist: „Ich bin heut‘ böse“, ließ er in Liedform wissen. Anschließend ist schon wieder Robby an der Reihe, „Dampfer dampfen auf See, Flieger fliegen hoch im Himmel“ trällert er mit Nena auf seinem Roller. Anderer Ort, andere Kirmes: Tina wird von fiesen Rockern überfallen, die aber von den „Phantastischen 5“ in die Flucht geschlagen werden – eine Anspielung nicht nur auf die Marvel-Superheldenreihe, sondern auch aufs dritte Extrabreit-Album „Rückkehr der phantastischen 5!“, und so werden jene Helden dann auch tatsächlich von den Bandmitgliedern gespielt.

Nächster Gastauftritt: Karl Dall („Quartett im Bett“)! Dieser wird als Lkw-Fahrer von Hare-Krishna-Anhängern belästigt und fährt Robby und Tina kalauernd zum nächsten Hotel. Dort zeigt sich, dass Nena unter ihren ausladenden Übergröße-Pullis auch einen Körper besitzt, dessen nackten Rücken sie der Kamera zuwendet. Bei der Weiterfahrt trifft man erneut auf Karl Dall, der nun als Busfahrer einer Kaffeefahrt fungiert. Zusammen mit den Omis im Bus singt Robby „Schön sind wir sowieso“ (und damit einen der Markus-Songs, die den Test der Zeit ganz gut bestanden haben). Weiter geht’s im Auto, „Ich will Spaß“ ertönt zum zweiten Mal, diesmal mit in die Handlung integriertem, visualisiertem Songtext. Dann ist Nena wieder an der Reihe, „Ganz oben“ interpretiert sie auf dem einem Flugplatz und macht Bekanntschaft mit Karl Dall als betrunkenem Pilot. In einer Waldhütte kommen sich Robby und Tina endlich näher, woraufhin die eigens für den Film geschriebene Schmachtnummer „Kleine Taschenlampe brenn“ duettiert wird. Doch das Idyll ist nicht von Dauer, denn endlich durchschaut Robby Tinas perfiden Plan und haut ab, zum Bahnhof, wohin ihm Tina folgt und den Zug nach ihm durchkämmend „Leuchtturm“ auf den Lippen hat. Wer sich als Schaffner des Zugs entpuppt, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung mehr…

Die Bahn bringt die beiden schließlich nach Venedig, wo Robby auf einem Boot von vier liebeshungrigen Frauen entführt wird und Büld eine „Wenn die Gondeln Trauer tragen“-Reminiszenz unterbringt. Und zu allem Überfluss treibt sich auch Tino in Venedig herum, singt „Feuerwehrmann“ auf einem Boot, während er Tina nachstellt. Wer darf da nicht fehlen? Natürlich: Karl Dall, das Boot steuernd und schlechte anzügliche Wortspiele formulierend. Dabei ist die Lösung doch so einfach: Tino zu den Liebeshungrigen, Robby zu Nena und noch mal die „Kleine Taschenschlampe“ zum Abspann.

Ob diese scheinbar positive Entwicklung den guten Robby tatsächlich glücklich machen wird, darf bezweifelt werden, denn Tina hat sich über weite Strecke doch als eine ziemliche Schreckschraube geriert. Markus‘ Rolle hingegen erdet den Film, der viel albernen, trashigen Humor regelrecht zelebriert, sodass die ursprünglich intendierten satirischen Ansätze kaum mehr erkennbar sind, eher Selbstironie wichen. Nach schauspielerischen Leistungen wurde damals auch eher weniger gefragt, wenngleich Nena mit ihrer Ausstrahlung, ihrer Frechheit und ihrem natürlichen Charme punktet und das bisweilen etwas Clowneske, meist aber eher Unsichere, das Markus in seine Rolle legt, zu dieser gut passt. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten scheinen mir die beiden Stars durchaus das Beste daraus gemacht zu haben. Dass die Handlung eigentlich nicht viel mehr als das Aufgreifen von Klischees unglücklich verliebter Teenager hergibt, ist sicherlich ein unumstößlicher Fakt – der jedoch eindeutig die zweite Geige hinter dem Umstand spielt, dass man hier Megastar Nena zusammen mit „Ich will Spaß“-Antisänger Markus knapp eineinhalb Stunden lang bei einer Odyssee durch Bayern und am Ende gar Venedig beobachten kann, gewürzt mit einer ganzen Menge Songs – insbesondere den Nena-Evergreens –, die anscheinend umso mehr Spaß machen, je älter sie werden.

Somit kann man diesem Film kaum böse sein: Büld & Co. haben kein aalglattes, auf Hochglanz poliertes, antiseptisches und durchkalkuliertes Kommerzprodukt auf den Markt gewuchtet, um einen Hype auszuschlachten, sondern mit viel Spontaneität, Improvisationsgeschick und (nennen wir es ruhig) „künstlerischer Freiheit“ etwas geschaffen, womit man zur richtigen Zeit am richtigen Ort war – gewissermaßen ganz im Geiste der frühen Neuen Deutschen Welle. Und als ein solches Zeitdokument zeigt der Film in abstrahierter Form recht eindrucksvoll die Möglichkeiten und zugleich die Grenzen jenes popkulturellen Trends auf…
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Emanuelle und Lolita

„Du bist eine Hure!“

Regisseur Henri Sala hat in erster Linie einige Pornofilme wie „Lolitas Bumsfestspiele“ oder „Das große Blaskonzert“ gedreht, doch mit „Emanuelle und Lolita“, einer italienischen Produktion aus dem Jahre 1976, findet sich auch ein Sexploitation-/Softporno-Film in seinem Œuvre.

Emanuelle (Nieves Navarro, „Note 7 - Die Jungen der Gewalt“), eine attraktive und wollüstige Geschäftsfrau, reist nach Thailand, um dort Immobiliengeschäfte abzuschließen. Helikopterpilot Bob (Richard Darbois, „Grand-Prix im Bett“) setzt sie im Dschungel ab, von wo aus sich beide auf der Suche nach Mr. Keller (Philippe Gasté, „Wendekreis des Krebses“) durchschlagen und die junge Thailänderin Lolita (Thiwa Yuporn) kennenlernen. Die folgenden Tage sind bestimmt von Leidenschaft und Sex…

Exotische Bilder, Emanuelle verpasst ihren Flug. Da der nächste Flieger erst in drei Tagen geht, treibt’s sie’s gegen etwas Geld mit Pilot Bob, den sie daraufhin für einen Hubschrauberflug zur Vertragsunterzeichnung mit Mr. Keller bezahlen kann. Eine junge Thai in Hotpants wird gezeigt, sie interessiert sich noch für Puppen und Eis – womit Sala die Lolita-Thematik initiiert. Emanuelle und Bob stranden im Dschungel und suchen das nächste Dorf auf, wo jenes Mädchen beide zu sich einlädt. Sprachbarrieren gibt es keine und niemand spricht mit Akzent. Wow.

Das Mädchen beobachtet, wie es Emanuelle und Bob auch dort miteinander treiben. Anschließend trifft Emanuelle Mr. Keller, geht mit ihm essen und baden. Mr. Kellers Sekretärin (Adrienne Delorme) ist zugleich seine Geliebte, Sala inszeniert eine Softsex-Szene der beiden. Nach knapp 40 Minuten zeigt Sala die kindisch-trotzige und mittlerweile Lolita getaufte Thailänderin erstmals oben ohne, dann auch bald nackt – sie verführt Mr. Keller. Auf den Geschmack gekommen passt sie den eigentlich Emanuelle suchenden Bob ab und versucht, ihn ebenfalls zu verführen, scheint aber nur bis zum Vorspiel zu gelangen. Nach einem gemeinsamen Hubschrauberflug gelingt ihr jedoch auch diese Eroberung. Kellers Sekretärin gibt sich derweil einem Geschäftspartner hin und nach einem Streit zwischen Emanuelle und Lolita kommt’s zur obligatorischen Versöhnungslesbenszene. Am Ende fliegt Emanuelle mit der Sekretärin davon.

Oder so ähnlich jedenfalls. Die Handlung des Films ist schwer auszumachen, selbst Alibifunktion erfüllt sie nur leidlich. Eigentlich ist sie reines Füllmaterial, ebenso wie die Bilder exotischer Rituale, bei denen es sich wahrscheinlich um Archivszenen handelt. Die immer gleiche Gitarren- und Klavierklimpermusik wirkt auf Dauer narkotisierend und unterstreicht die Langeweile, die „Emanuelle und Lolita“ trotz nackten Tatsachen und exotischem Ambiente verbreitet. In seiner krudesten Szene scheint er andeuten zu wollen, Emanuelle stelle sich während des Koitus vor, von einem Elefanten rituell begattet zu werden, im Endeffekt ist er aber derart plump auf ein durchschnittliches, prüdes männliches Publikum zugeschnitten, dass er es sogar penibel vermeidet, Schwänze zu zeigen. Die Softsex-Szenen sind weder sinnlich noch erotisch gefilmt und leiden unter den planlosen Kamerazooms.

„Emanuelle und Lolita“ ist ein inkompetent und lieblos zusammengeschusterter Möchtegernerotik-Schund, der das unangenehm kolonialistisch und sextouristisch müffelnde Motiv williger thailändischer Minderjähriger, die nur auf ihre sexuelle Initiation durch westliche Heilsbringer warten, aufgreift und sexploitativ verwurstet, ohne es auch nur ansatzweise infrage zu stellen. Das ist grober Bockmist, der auch dadurch nicht besser wird, dass Navarro damals anscheinend wahllos vor jede Kamera gesprungen ist. Ob Thiwa Yuporn, die hiernach offenbar keinen weiteren Film mehr drehte, tatsächlich so hieß, entzieht sich meiner Kenntnis. Volljährig dürfte sie jedoch gewesen sein.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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