Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Moderator: jogiwan

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buxtebrawler
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Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

Verfluchte Liebe deutscher Film.jpg
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Originaltitel: Verfluchte Liebe deutscher Film

Herstellungsland: Deutschland / 2016

Regie: Dominik Graf, Johannes F. Sievert

Mitwirkende: Mario Adorf, Peter Berling, Artur Brauner, Peter F. Bringmann, Wolfgang Büld, Werner Enke, Roger Fritz, Dieter Geissler, Lisa Gotto, Gisela Hahn, Roland Klick, Rainer Knepperges u. A.
Kennt nicht jeder die Sehnsucht nach deutschen Filmen, die aus der Reihe tanzen, die wild, sinnlich, physisch sind? Von dieser Sehnsucht erzählt der Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe Deutscher Film“. Wo ist die Seite unserer Filmtradition geblieben, die in den 70er und 80er Jahren ein Genrekino hervorbrachte, das ein anderes, abgründiges Deutschland zeigte?

Mit dem Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe Deutscher Film“ begibt sich ARTE auf eine Reise zu den Nachtschattengewächsen des deutschen Films, in den Steinbruch der Filmgeschichte, zu den vergessenen Juwelen, die zeigen, was Kino beziehungsweise Fernsehkino sein kann: wie unberechenbar, wie labyrinthisch, wie gewagt, wie gefährlich gerade in den Genrekonfektionsformen das Kino war.
Viele der Filme sind wahre Schätze des Genrekinos. „Verfluchte Liebe Deutscher Film“ beleuchtet einen vergessenen Teil unserer Filmkultur - Filme, die neben dem offiziellen, seriösen, exportfähigen Output einen ungewohnten Ton anschlagen und einen seltsam anderen Blick auf unser Land, in unsere Seele und unser Unbewusstes werfen.

Wie konnte es dazu kommen, dass eine Seite der deutschen Filmtradition so schnell verloren gegeben wurde? Mit Entdeckerfreude versucht der Dokumentarfilm im Gespräch mit Historikern und mit Protagonisten unserer Geschichte den Zuschauern einen kenntnisreichen Blick in die unterdrückten Mahlströme des deutschen Films zu eröffnen. Es ist die Erzählung einer schwierigen Liebe, der Liebe zum deutschen Film und über einige der schönsten und gleichzeitig unbekanntesten Filme unseres Landes.
Quelle: https://programm.ard.de/TV/arte/verfluc ... 2605118658

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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

Im rund 90-minütigen Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe deutscher Film“ spüren Dominik Graf („Die Katze“) und Johannes F. Sievert („Zeche is nich – Sieben Blicke auf das Ruhrgebiet“) dem deutschen Genrefilm der 1960er und ‘70er nach, der – so die Hypothese – zwischen den Polen „Papas Kino“ mit seinem restaurativen Heimatkitsch und dem Beibehalt klassischer Strukturen nach Kriegsende auf der einen und dem Oberhausener Manifest mit dem neuen deutschen Autorenkino und dem Erstreiten öffentlicher Filmförderung auf der anderen Seite zerrieben wurde und in Vergessenheit zu geraten droht. Uraufgeführt wurde der für die Rundfunksender WDR und Arte produzierte Film im Jahre 2016 auf der Berlinale, im Anschluss lief er auch auf zahlreichen weiteren in- und ausländischen Filmfestivals.

Ein roter Fader im Sinne eines feststehenden Konzepts ist innerhalb des Films nur schwerlich auszumachen, stattdessen macht er einen spontanen, collagenhaften und sprunghaften Eindruck: Mal tritt Graf als Voice-over-Sprecher in Erscheinung, mal befindet er sich hör- und sichtbar in Interviewsituationen, meist aber wirken die Aussagen der zahlreichen Interviewpartner(innen) wie Statements innerhalb einer Oral History. Bei diesen handelt es sich neben Filmwissenschaftler(inne)n und -kritiker(inne)n um die Filmemacher Klaus Lemke („Rocker), Roland Klick („Supermarkt“) Wolfgang Büld („Brennende Langeweile“), Roger Fritz („Mädchen: Mit Gewalt“) und Eckhart Schmidt („Der Fan“), Produzent Artur „Atze“ Brauner sowie Schauspieler wie Mario Adorf („Milano Kaliber 9“, „Der Mafiaboss – Sie töten wie Schakale“, „Deadlock“) und Werner Enke („Zur Sache, Schätzchen“). Textauszüge, Fotos und Filmplakate werden eingeblendet und viele Filmausschnitte gezeigt – meist in einem irre hohen Tempo, sodass sich kaum auf sie konzentrieren lässt. Auf einige, jedoch längst nicht auf alle dieser Filme wird näher eingegangen.

So lässt man Mario Adorf recht ausführlich auf seine Zusammenarbeit mit Roland Klick sowie dem italienischen Regisseur Fernando di Leo eingehen und diverse Anekdoten zum Besten geben, die u.a. von den schweren körperlichen Belastungen während der Dreharbeiten handeln. Der Block über das italienische Genrekino fällt für eine Doku über den deutschen Film generell überraschend breit aus. Neben Rolf Olsens Œuvre, insbesondere „Blutiger Freitag“, werden vor allem Klicks „Supermarkt“ und „Deadlock“, Fritz‘ „Mädchen: Mit Gewalt“ und Lemkes „Brandstifter“ in Erinnerung gerufen (bzw. einem jüngeren Publikum schmackhaft gemacht). Klick und Lemke reden dabei, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, also in beeindruckender Offenheit. Man merkt, dass sich doch auch einige Wut gegen die Initiatoren des Oberhausener Manifests aufgestaut hat, die seinerzeit zwar durchaus zurecht gegen jeglichen Realismus verweigernden Heimatkitsch und ähnlichen für Kriegsverlierer gedrehten Unrat aufstanden, aber offenbar das Kind mit dem Bade ausschütteten und – für radikale neue Ideen natürlich nicht unüblich – wenig differenziert vorgingen.

Davon leiten die Protagonisten dieser Dokumentation ab, dass es deutsches Genrekino daraufhin schwer gehabt habe, sich zu entwickeln und zu etablieren, dass körperliches, sinnliches, actionlastiges oder auch gern mal reißerisches Kino als nicht intellektuell genug gegolten und es Schwierigkeiten bereitet habe, vom neuen Filmförderungssystem zu profitieren (das beispielsweise Lemke komplett ablehnte, da er seine Unabhängigkeit gefährdet sah und fürchtete, Kompromisse eingehen zu müssen). Der Neue deutsche Film wiederum habe mangels kommerziellen Drucks das Publikum aus den Augen verloren und sei selbstgefällig geworden. Das hier behandelte deutsche Genrekino sei ein gutes Stück weit auch ein Gegenentwurf dazu gewesen.

Die Filmwissenschaftler(innen) kommentieren diese Entwicklung ebenso wie die Filmemacher, die von ihrem unterschiedlichen Umgang mit ihr berichten und dabei bisweilen das Wissen ihres Interviewpartners – Dominik Grafs – mit dem des Publikums gleichsetzen, sodass letzteres nicht alles auf Anhieb richtig einordnen können wird. Diesbzgl. wäre ein stärker am klassischen Dokumentarfilm orientierter historischer Abriss sicherlich hilfreich gewesen, um eine für alle klar verständliche Grundlage zu schaffen. Unter den Filmwissenschaftler(innen) tut sich besonders Lisa Gotto hervor, die ihre Ausführungen sehr leidenschaftlichen und mit expressiver Mimik und Gestik vorbringt.

In seinem kreativen Chaos ist „Verfluchte Liebe deutscher Film“ ein sehenswerter Beitrag zur Erinnerung daran, was deutsches Kino auch einmal sein konnte, und, wie der Name schon verrät, eine Liebeserklärung – die hoffentlich viele Zuschauerinnen und Zuschauer auf diese Art von Filmen stieß, denn unter ihnen gibt es in der Tat eine Menge zu entdecken. In seiner historischen Aufarbeitung des deutschen Nachkriegskinos bis in die 1970er hinein ist Grafs und Sieverts Film mir aber etwas zu subjektiv geprägt; so hätte man den Filmwissenschaftler(inne)n gern mehr Raum für unaufgeregte, neutrale Reflektionen einräumen dürfen. Nichtsdestotrotz ist es ein Vergnügen, all die alten Haudegen noch einmal zu sehen und ihren Ausführungen zu lauschen.

Meinem persönlichen Empfinden nach geht die im Film verhandelte Problematik bereits auf die in ihm einleitend erwähnte, typisch deutsche Unterscheidung zwischen „ernsthafter“ und unterhaltender Kultur zurück, einem riesigen Irrtum, der aus inhaltlichem Anspruch und Unterhaltung einen Widerspruch macht, der eigentlich keiner sein sollte. Ideal wäre nämlich eine Mischung aus beidem, unterhaltsam aufbereitet lassen sich Inhalte nun einmal besser vermitteln. So ganz behagt mir dann auch das konsequente Abkanzeln des Neuen deutschen Films nicht, der zweifelsohne auch seine Perlen hervorgebracht hat und mit unterschiedlichsten Filmemacher(inne)n eine sehr heterogene Filmlandschaft geschaffen hat. An staatlicher Filmförderung kann ich auch nichts Verkehrtes finden, solange diese nicht mit Bevormundung und Zensur einhergeht. Auch dieser Dokumentarfilm wurde öffentlich gefördert, und zwar von der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen.

Angebracht wäre es indes – und darum dürfte es Graf & Co. in erster Linie gegangen sein –, dem deutschen Genrekino würde in einer ebensolchen Akzeptanz und mit einem ebensolchen Respekt begegnet wie dem Neuen deutschen Film oder anderen besser beleumundeten Nachkriegsentwicklungen innerhalb der deutschen Spielfilmlandschaft.

P.S.: Die Arte-Ausstrahlung wurde um rund eine halbe Stunde gekürzt, die WDR-Ausstrahlung war vollständig. Und ein Jahr später folgte mit „Offene Wunde deutscher Film“ eine Fortsetzung.
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FarfallaInsanguinata
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von FarfallaInsanguinata »

Klingt interessant!
Generell ist mein Verhältnis zur deutschen Filmgeschichte immer noch sehr zwiespältig, da ich diese Extreme "Spießer-Heimatfilm-Narkotisierung" auf der einen und "Studenten-Besserwisser-Klugscheißer" auf der anderen sehr anstrengend finde. Es entspricht aber nunmal (beides!) leider der deutschen Mentalität, die irgendwie zwanghaft, ängstlich und unfrei ist. Und das sind die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für "Exploitation"!
Ich besitze ein Buch namens "Il Nuovo Cinema Tedesco negli anni Sessanta" (= Das neue deutsche Kino der sechziger Jahre), das ich ausgesprochen interessant finde, da es einen ausländischen Blick auf diese deutsche Aufbruchsstimmung gestattet. Abstand ist ja oft von Vorteil!
Außerdem ist es verblüffend gut recherchiert, so gab es da einige Werke, die mir vorher völlig unbekannt waren.
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Maulwurf
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von Maulwurf »

Bei mir war es Rolf Giesen, der mir mit seinem Buch Kino wie es keiner mag für lange Zeit den Spaß an Dingen wie deutschem Film oder Jess Franco genommen hatte. Gottseidank konnte ich mich irgendwann, Splatting Image sei Dank, von diesem verwerflichen Gedankengut emanzipieren, und im Lauf der letzten Jahrzehnte dann aus eigener Kraft das deutsche Kino erfahren. Die Edgar Wallace-Filme kannte und liebte ich dank meiner ersten Lebensgefährtin bereits, und damit war die Türe bereits geöffnet für den klassischen deutschen Krimi der 60er-Jahre. Das Blickfeld weitete sich allmählich aus und brachte Perlen wie PERRAK zum Vorschein, oder WENN ES NACHT WIRD AUF DER REEPERBAHN. Subkultur sei ewiger Dank für die Bergung dieses Kulturguts!!! :verbeug: :verbeug: :verbeug:

In den 70ern machte das kopflastige Neue Deutsche Kino der Sex-Welle starke Konkurrenz, und mit den meisten Machwerken von Wim Wenders oder Werner Herzog stehe ich auch heute noch auf Kriegsfuß. Dann lieber erstklassige Genreware wie Roland Klicks SUPERMARKT oder Alfred Vohrers ANITA DRÖGEMÖLLER UND DIE RUHE AN DER RUHR. Parallel hat ein Klaus Lemke mit Filmen wie NEGRESCO oder ROCKER Filmwelten erforscht, die bis heute unerreicht sind. Wer braucht da einen Alexander Kluge?? Gerade die 70er und die frühen 80er haben für Genrefans jede Menge zu bieten, von der LASS JUCKEN KUMPEL-Reihe über BLUTIGER FREITAG bis zu den Simmel-Verfilmungen oder KALT WIE EIS. Eckhart Schmidt anyone? ALPHA CITY oder LOFT? Es war halt eine ganz andere Sprache damals, und im Zeitalter der aufziehenden US-Blockbuster mit Millionenbudget und Alles-plattmach-Garantie wirkte (und wirkt) LIEB VATERLAND, MAGST RUHIG SEIN einfach hoffnungslos bieder. Aber gerade den würde ich vielen US-Kino"knüllern" der letzten 50 Jahre jederzeit vorziehen.

Irgendwann merkte ich, dass die 50er-Jahre auch nicht nur aus Herz-Schmerz-Filmen bestanden. Das Nachkriegskino bietet Kostbarkeiten wie die vorsichtigen Annäherungen an das Dritte Reich und den Krieg: HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? von Frank Wisbar oder KIRMES von Wolfgang Staudte versuchen einen publikumswirksamen Zugang zu einer Zeit zu bekommen, von denen die Menschen, der Hölle gerade entronnen, eigentlich nichts mehr wissen wollten. NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM versucht dies genauso auf seine Art wie DES TEUFELS GENERAL von Helmut Käutner, und beide sind in jeder Hinsicht spannende Beispiele für aktive Vergangenheitsbewältigung. Auf der anderen Seite: Wer immer sagt, dass Heimatfilme nur Schmonzes sind, der kennt die 1961er Verfilmung von VIA MALA nicht, mit Gert Fröbe und Christine Kaufmann. Ein böses und bitteres Drama, das auch heute noch spannend ist und packt. Auch hier gilt wie so oft, dass man ein wenig graben muss, um zum Beispiel an DENN DAS WEIB IST SCHWACH (Wolfgang Glück, 1961) zu gelangen, der ein Zeit- und Sittenbild zeigt, das man so nicht erwartet hätte. Und der gleichzeitig ein spannender Krimi ist.

Mittlerweile liebe ich das deutsche Kino, von den 20ern (DR. MABUSE, SPIONE) über die 30er (M - EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, FÄHRMANN MARIA) und die 40er (... UND ÜBER UNS DER HIMMEL, UNTER DEN BRÜCKEN) bis in die 80er hinein. Heute? Heute hat es CHIKO, es hat WHO AM I - KEIN SYSTEM IST SICHER, es hat DER HAUPTMANN und es hat DER GOLDENE HANDSCHUH. Das deutsche Kino lebt, und es ist um Längen besser als sein Ruf. Wie oft lese ich den Satz "Ich schaue mir keine deutschen Filme an, die sind immer so verkopft.". Aha, GEGEN DEN STROM nicht gesehen? NUR GOTT KANN MICH RICHTEN nicht gesehen? Und wenn gar nichts mehr geht, Leute, schaut euch WALTER BOCKMAYER'S GEIERWALLY an, und dann reden wir noch mal ... :ugeek:
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von Arkadin »

Maulwurf hat geschrieben: So 25. Apr 2021, 16:32 Mittlerweile liebe ich das deutsche Kino, von den 20ern (DR. MABUSE, SPIONE) über die 30er (M - EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, FÄHRMANN MARIA) und die 40er (... UND ÜBER UNS DER HIMMEL, UNTER DEN BRÜCKEN) bis in die 80er hinein. Heute? Heute hat es CHIKO, es hat WHO AM I - KEIN SYSTEM IST SICHER, es hat DER HAUPTMANN und es hat DER GOLDENE HANDSCHUH. Das deutsche Kino lebt, und es ist um Längen besser als sein Ruf. Wie oft lese ich den Satz "Ich schaue mir keine deutschen Filme an, die sind immer so verkopft.". Aha, GEGEN DEN STROM nicht gesehen? NUR GOTT KANN MICH RICHTEN nicht gesehen? Und wenn gar nichts mehr geht, Leute, schaut euch WALTER BOCKMAYER'S GEIERWALLY an, und dann reden wir noch mal ... :ugeek:
Da spricht Du mir aus der Seele. Es gib so viel zu entdecken. Auch in den vermeintlich "bösen" Genres. Und die "verkopften Problemfilme" des Neuen Deutschen Films sind mitnichten langweilig. Fassbinder z.B. hat unglaublich kraftvolle, aufrüttelnde und emotional packende Filme gedreht, wird aber gerne mit Kluge in einen Sack gesteckt. Wobei Kluges Filme auch interessant sind, wenn man sich drauf einlassen möchte, aber wirklich nur für einen winzigen kleinen Ausschnitt des deutschen Filmschaffens stehen - aber immer so aufgeblasen werden, als hätten sie 50% der Kinos verstopft. Quatsch. Viele Beispiele, wo es sich zu graben lohnt hast Du ja schon erwähnt. Nur bei Werner Herzog möchte ich Dir gerne vehement widersprechen, weil ich seine Filme einfach großartig finde und jeden einzelnen (okay, "Invincible" eher weniger) sehr liebe.
Auch heute findet man großartige deutsche Filme. Wenn man danach sucht und vor allem ohne Schranke im Kopf drangeht. Man darf hat nicht nur ignorant auf die abschreckenden Beispiele starren und diese dann zum Status Quo erklärt.

Ein letzter Satz: Schuld ist übrigens nicht immer nur "der deutsche Film", sondern sehr häufig "das deutsche Publikum". Denn gerade die Filme, die wir da heute lieben und bewundern, waren zu ihrer Zeit reinstes Kassengift. Und wenn heute mal ein deutscher Genrefilm um die ecke kommt, dann wird gerne die Nase gerümpft, ein lapidares "aus Deutschland, kann ja nix sein. Gucke ich nicht" in den Raum geworfen und die Kinos bleiben leer. Da würde ich mir als Produzent auch überlegen, ob ich das nächste Mal wieder einen Thriller finanziere oder eine RomCom.
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von Maulwurf »

... und erst beim Zitieren fällt mir auf, dass ich Quatsch geschrieben habe, Statt einem Gegen den Strom meinte ich natürlich GEGEN DIE WAND. Verzeihung dafür, ich hatte mir mit den Titeln echt Mühe gegeben, aber der ist mir durchgerutscht ...

Bei Herzog darfst Du mir gerne widersprechen :D Ich glaub's Dir nur nicht :mrgreen: Die Kinski-Filme halte ich für größtenteils gut bis sehr gut, nur WOYZECK hat mir seine Seele noch nicht gezeigt. BAD LIEUTENANT - COP OHNE GEWISSEN habe ich mir ein wenig schön geschreiben, aber schlecht war der beileibe nicht, nur anders. Aber ich kann mich erinnern, wie ich mal in einem Londoner Kino ein Double Feature aus AGUIRRE und JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE gesehen habe. Letzteren habeich etwa 15 Minuten gepackt, dann ging es nicht mehr. Genau diese Kopflastigkeit, die so viele dem deutschen Film vorwerfen, wurde hier ausgespielt bis zum geht nicht mehr. Möglicherweise ein schlechtes Beispiel, aber eines das mich sehr geprägt hat. SCHREI AUS STEIN möchte ich nun mal endlich sehen, aber sonst? Kannst Du mir was von Herzog empfehlen?

Persönlich sehe ich Filme von Volker Schlöndorff sehr gerne. Nicht nur die BLECHTROMMEL, die ich auf ihre Art für genauso genial halte wie den Roman, sondern auch DIE FÄLSCHUNG. Oder MICHAEL KOHLHAAS. Schlöndorff hat eine Art Geschichten zu erzählen, die mich einfach anspricht. Ich gabe aber auch zu, dass mir PALMETTO nur bedingt gefallen hatte ...

Ach je, da gäbe es noch so viel zu entdecken ... :(
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von Arkadin »

Maulwurf hat geschrieben: So 25. Apr 2021, 17:21 Bei Herzog darfst Du mir gerne widersprechen :D Ich glaub's Dir nur nicht :mrgreen: Die Kinski-Filme halte ich für größtenteils gut bis sehr gut, nur WOYZECK hat mir seine Seele noch nicht gezeigt. BAD LIEUTENANT - COP OHNE GEWISSEN habe ich mir ein wenig schön geschreiben, aber schlecht war der beileibe nicht, nur anders. Aber ich kann mich erinnern, wie ich mal in einem Londoner Kino ein Double Feature aus AGUIRRE und JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE gesehen habe. Letzteren habeich etwa 15 Minuten gepackt, dann ging es nicht mehr. Genau diese Kopflastigkeit, die so viele dem deutschen Film vorwerfen, wurde hier ausgespielt bis zum geht nicht mehr. Möglicherweise ein schlechtes Beispiel, aber eines das mich sehr geprägt hat. SCHREI AUS STEIN möchte ich nun mal endlich sehen, aber sonst? Kannst Du mir was von Herzog empfehlen?
Stimmt. "Schrei aus Stein" habe ich vergessen. Den fand ich auch weniger gelungen. Und den "Ameisen"-Film. Aber vielleicht gefallen gerade die Dir? "Jeder für sich" ist super. "Woyzeck" finde ich ebenfalls großartig und hat den besten (und ungewöhnlichsten) Kinski den ich kenne. Von daher bin ich vielleicht der Falsche, um hier einen Tipp zu geben. Ich liebe auch seine Dokumentarfilme. Da würde ich zum Einstieg mal "Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner" empfehlen.
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Re: Verfluchte Liebe deutscher Film - Dominik Graf / Johannes F. Sievert (2016) [Doku]

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Maulwurf hat geschrieben: So 25. Apr 2021, 17:21 Aber ich kann mich erinnern, wie ich mal in einem Londoner Kino ein Double Feature aus AGUIRRE und JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE gesehen habe. Letzteren habeich etwa 15 Minuten gepackt, dann ging es nicht mehr. Genau diese Kopflastigkeit, die so viele dem deutschen Film vorwerfen, wurde hier ausgespielt bis zum geht nicht mehr. Möglicherweise ein schlechtes Beispiel, aber eines das mich sehr geprägt hat.
Huch! Interessant, wie die Meinungen auseinanderdriften können. Gerade JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE ist einer meiner liebsten Spielfilm-Herzöge - (sprich, auf einer Stufe mit AUCH ZWERGE HABEN KLEIN ANGEFANGEN, STROZESK und HERZ AUS GLAS; die Kinski-Filme gehören für mich tatsächlich "nur" zur zweiten Riege seiner Spielfilm-Arbeiten) -, und Herzog gerade einer der Protagonisten des Neuen Deutschen Films, dem ich "Kopflastigkeit" am allerletzten ankreiden würde. Bei Fassbinder mit seiner Brecht-Exegese und beim introvertiert-autistischen Wenders und beim moralisierenden, sich auf Literaturklassikern ausruhenden Schlöndorff könnte ich diese Kritik ja durchaus noch nachvollziehen, aber der an Surrealismus und Art Brut geschulte Werner... Viel absurd-komischer und herzzerreißend-tragischer wird Kino dann auch für mich nicht mehr als in JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE: Die Szene, wenn Kaspar Hauser verloren auf dem Marktplatz in Dinkelsbühl steht und nur "Ross!" stammelt; oder die mich jedes Mal zu Tränen rührende Szene auf dem Sterbebett, wo er seinen Traum vom blinden Beduinenführer erzählt, dessen Ende er aber vergessen hat; oder die groteske Freak-Show mit dem "Jungen Mozart" und dem "Zwergenkönig", die damit endet, dass all die "Attraktionen" ausbüxen; oder das schwärzest-humorige Finale, wenn Clemens Scheitz sich endlich seinen Traum erfüllt, das Gehirn Kaspar Hausers sezieren zu dürfen... :knutsch:
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