Toni Erdmann - Maren Ade (2016)

Moderator: jogiwan

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buxtebrawler
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Re: Toni Erdmann - Maren Ade (2016)

Beitrag von buxtebrawler »

Ist bei der Oscar-Verleihung leer ausgegangen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
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purgatorio
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Re: Toni Erdmann - Maren Ade (2016)

Beitrag von purgatorio »

TONI ERDMANN (Deutschland, Österreich 2016, Regie: Maren Ade)

Offensichtlich muss ich dumm sein… wie sonst kann mir die Genialität dieses Films so konsequent verborgen bleiben? Ein komödiantisches (Familien-)Drama aus deutschen Landen, preisgekrönt und für noch mehr Preise nominiert! Ein Meisterwerk! – Ich habe wohl einen anderen Film gesehen? Ich sah zweieinhalb Stunden (also lässig eine Stunde zu lang) einem alten Herrn, der nicht erwachsen werden möchte, dabei zu, wie er, als sei er schwachsinnig, mit Perücke und falschen Zähnen durch die Gegend stolziert und dabei auf die größtmöglich blöde Art das Leben seiner Tochter ruiniert – und die findet das irgendwann auch noch gut… Weder witzig, noch dramatisch oder überhaupt mit irgendeiner Emotion versehen, tut einem die Tochter ebenso leid wie der Mann, der offenbar in ärztliche Betreuung gehört. Echt? Das war es dann auch schon! Irgendwer muss genauso schwachsinnig sein, wie die fiktive Figur Erdmann – der Feuilleton oder ich… ich tippe ja auf mich. Wie sonst konnte ich nicht unter die schwachsinnige und unerträglich gedehnte Oberfläche blicken und die Kraft dieses Films erkennen?
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
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buxtebrawler
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Re: Toni Erdmann - Maren Ade (2016)

Beitrag von buxtebrawler »

Come as you are

„Ich hab' mir 'nen Monat freigenommen!“

Einer der aufsehenerregendsten deutschen Spielfilme des Jahres 2016 war der von Maren Ade („Alle Anderen“) mithilfe Lotte Brauns‘ geschriebene und bereits 2014 gedrehte, österreichisch koporduzierte „Toni Erdmann“. Die zweieinhalbstündige Mischung aus Familiendrama und Geschäftsweltsatire feierte ihre Premiere in Cannes, wurde vielfach ausgezeichnet und für den Oscar nominiert.

„Bist du eigentlich 'n Mensch?“

Winfried Conradi (Peter Simonischek, „Sukkubus – den Teufel im Leib“) ist ein Rentner, der anderen gern Streiche spielt, indem er in bizarre Verkleidungen schlüpft und sich als jemand anderer ausgibt. Seine einzige Tochter Ines (Sandra Hüller, „Requiem“) pflegt kaum noch Kontakt zu ihm und steckt bis über beide Ohren in der Geschäftsscheinwelt des Beratungs-, ‘tschuldigung, „Business-Consulting“-Unternehmens, bei dem sie im Öl- und Gas-Bereich angestellt ist. Als sie nach Bukarest reist, um dort wichtige Abwicklungsverhandlungen mit einem Großkunden zu führen, besucht ihr Vater sie kurzerhand – wovon Ines wenig begeistert ist und ihn schließlich abzureisen bittet. Stattdessen setzt sich Winfried Perücke auf und falsche Zähne ein, nennt sich von nun an Toni Erdmann, gibt sich als Geschäftsmann aus und scharwenzelt stets in Ines‘ Umfeld umher. Ines bringt er damit in die eine oder andere unangenehme Situation. Wird es ihm gelingen, seine Tochter daran zu erinnern, was wirklich im Leben zählt und sie dazu bringen, ihren Panzer der unterkühlten Geschäftsfrau abzulegen?

„Hast du in deinem Leben noch irgendwas vor, außer anderen ein Furzkissen unterzuschieben?!“

So, wie Winfried zu erzwingen versucht, dass Ines aus dem starren Business-Korsett ausbricht, zwingt der Film sein Publikum zur Entschleunigung, dazu, sich Zeit zu nehmen und sich auf ihn einzulassen. „Toni Erdmann“ ist sehr langsam erzählt, verzichtet vollständig auf extradiegetische Filmmusik, ist teils mit wackliger Handkamera gefilmt – und scheint einen Blick in die überstimulierte moderne Geschäftswelt im Tempo eines entspannten Rentners zu wagen. Winfried wird als exzentrisch und sympathisch in die Handlung eingeführt, während Ines permanent angespannt und unter Druck zu stehen scheint, zu Zynismus neigt und emotional verkümmert ist. Es prallen also Welten aufeinander, wenngleich beiden gemein ist, dass sie gewissermaßen Masken vor sich hertragen. Der Unterschied: Winfrieds Toni-Maske ist eine Reaktion aus die Maskerade Ines‘, hinter der sie menschliche Gefühle in einem Ausmaß versteckt, dass von der privaten Nichtgeschäftsfrau kaum noch etwas zu erkennen ist. Ihren Vater nimmt sie als Störfaktor wahr, der ihr Zeit raubt und ihre Karriere gefährdet. An sich herankommen lässt sie ihn zunächst nicht.

„This is Miss Schnuck, my secretary.”

Ines unterhält eine fragwürdige Beziehung zu einem Kollegen, die in einer bizarren So-etwas-ähnliches-wie-Sex-Szene eindrucksvoll skizziert wird. Ihr Geschäftsfeld ist männerdominiert, was sie wie alles andere auch professionell an sich abprallen lässt und offenbar durch derartige Unterwerfungsspiele auszugleichen sucht. Dass sie das für keine Sekunde glücklich macht, ist nicht zu übersehen. Obwohl sie ständig Menschen um sich herumhat, wirkt sie einsam. Ihre noble Geschäftswelt wird von einem Blick aus dem Bukarester Konferenzraumfenster kontrastiert, der die Armut der einfachen rumänischen Bevölkerung zeigt. Imposante Bilder der Metropole gibt es hingegen kaum zu sehen, der Film bleibt stattdessen nah an seinen Figuren. Als Ines ein weiteres Jahr in Bukarest bleiben soll, überdenkt sie ihre Einstellung zu den Dingen, ihrer beruflichen wie privaten Situation, allmählich.

Dieser einsetzende Prozess macht nun das Herzstück des Films aus. Langsam, aber beharrlich erreicht ihr Vater sie, der sich durchaus kritikwürdig in ihr Leben und sogar ihren Beruf drängte. Ines scheint den Spieß umdrehen zu wollen und zeigt ihm Dinge, die er sicherlich nicht hätte sehen wollen. Sie zieht Stoff vor ihm und kreuzt schließlich tatsächlich mit ihm beim Geschäftspartner auf. Diese Situationen knistern vor Konflikt- und Eskalationspotenzial. Während Winfried die Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der einfachen rumänischen Bevölkerung kennenlernt, nötigt er Ines, von ihm am Keyboard begleitet Whitney Houstons „The Greatest Love of All“ zu singen und konfrontiert sie dadurch mit dem Text. Diese beinahe absurde Sequenz ist eine der intensivsten des Films – und lässt nicht zuletzt bestimmt dem einen oder anderen Houstons Lied in neuem Lichte erscheinen.

Ines‘ Umdenken manifestiert sich, als sie ihren ursprünglichen Plan, zu ihrem Geburtstag einen „Business-Brunch“ zu organisieren und sich zwecks „Teambuilding“ ausschließlich mit Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen zu treffen, spontan ad absurdum führt, indem sie eine Nacktparty daraus macht. Der Höhepunkt des Films; nicht etwa wegen der Fleischbeschau, sondern aufgrund ihres anarchischen Humors, der Verklemmt- und gespielte Offenheit zugleich aufs Korn nimmt, und aufgrund Ines‘ unnachahmlicher Attitüde in diesen Szenen.

Das Ende ist offen gestaltet, eine „Läuterung“ Ines‘ bleibt aus. Zwar scheint sie ein gutes Stück weit lockerer geworden zu sein, doch verdingt sie sich weiterhin als Unternehmensberaterin für Kapitalistinnen und Kapitalisten. Ob es ihr zukünftig besser ergehen wird, steht in den Sternen. Ihre weitere Entwicklung kaut einem der Film nicht vor, immerhin wirkt Ines in der letzten Einstellung nachdenklich. Hier passt die alte Floskel „regt zum Nachdenken an“ perfekt. Handelte es sich bei diesem Film um eine typische, gefällige Fernsehfilm- oder Mainstream-Produktion – die man aus dem Grundsujet sicherlich hätte machen können –, würde Ines sich fürs Familienleben zu interessieren beginnen, einen Freund finden, heiraten und schwanger werden. Dies bleibt hier dankenswerterweise aus, denn es geht „Toni Erdmann“ nie darum, Ines in ein überholtes traditionelles Frauenbild zurückzudrängen. Tatsächlich lässt sich weiblicher Karrierismus (ebenso wie männlicher) mühelos kritisieren, ohne in diese Art von Chauvinismus zu verfallen. Darüber nachgedacht werden darf indes aber auch darüber, ob hier durch Übergriffigkeit eine Familienzusammenführung erzwungen werden soll – und ob und wenn ja, wie der Film dies bewertet.

„Toni Erdmann“ ist großartig geschauspielert, zumal Hüller und Simonischek häufig quasi das Schauspielern schauspielern müssen. Mit seinem Gebiss erinnert Winfried als Toni an Loriots unvergessene „Die Maske“, witzig ist neben manch wenig vorhersehbarer Situationskomik auch das permanente „Business-Deutsch“-Denglisch, saufies eine Fußnagelszene, vor der zarte Gemüter gewarnt werden müssen. Ades Film ist nicht zuletzt aufgrund seiner feinen Beobachtungsgabe und seiner Beherrschung der leiseren Zwischentöne in Kombination mit etwas sprödem Dogma-Charme intelligentes, aber nicht verkopftes deutsches Kino mit ganz eigener Note, wie es mir wirklich Freude bereitet.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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