Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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Reinifilm
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Reinifilm »

"Polizeiruf 110: Sabine": Sabine ist völlig fertig - geschieden, der Strom wurde ihr gerade abgedreht, ihr Umfeld beherrscht von Gewalt und sozialer Kälte, der Job in Gefahr. Mit einer Pistole will sie Selbstmord begehen, wird jedoch von Schreien aus der Nachbarwohnung gestört...
Hach, was musste ich lachen... nein, natürlich nicht - wieder ein Polizeiruf, der nicht nur ein absoluter Downer, sondern ein regelrechter Schlag in die Magengrube ist. Hier sieht eine Frau nicht rot, sondern tristes grau - was nicht weniger tödlich für einige Menschen in ihrer Umgebung ist.
Stark besetzt bis in die kleinste Nebenrolle und die beste Methode sich zu erden, falls man einen freudestrahlenden sorgenfreien Sonntag hatte. 08/10
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Polizeiruf 110 Sabine.
Ja ein Downer. Spannend fan dich ja die die Entwicklung, als man den Eindruck hatte, dass die Sabine durchaus gefallen am Töten findet, endlich hat sie Macht und zum ersten Mal ist en Teil ihres Lebens selbst bestimmt. Insofern fand ich das Ende dann nicht so gut, da sie dann ja wieder nru die erwartbaren gesellschaflichen Konentionen einhält.
Die private Geschichte von Bukow mit Halbschwester und totem Vater und König lief genau so wichtig, hatte aber nix mit dem Fall zu tun, aber wieder mal brillant geschauspielert, eben wie auch die Darstellerin der Sabine.
Was die Krankhetsgeschichte des Chefs dann auch noch drin sollte, weiß ich dann gar nicht, ein bißchen viel.
Aber neben den Spiel stimmten auch die anderen values: Sound, Musik, Kamera, Farben,
Gut.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Reinifilm
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Reinifilm »

karlAbundzu hat geschrieben: Mo 15. Mär 2021, 19:29 Was die Krankhetsgeschichte des Chefs dann auch noch drin sollte, weiß ich dann gar nicht, ein bißchen viel.
Das roch für mich so ein bisschen nach "Darsteller-will-demnächst-aus-der-Serie-aussteigen"... mal schauen.
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Auf offener Straße

„Dir brennt wohl der Kittel, was?!“

Nach den Kommissaren Trimmel (Hamburg), Liersdahl (Saarbrücken) und Kressin (Kölner Zoll) führte der vierte Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimireihe „Tatort“ Kommissar Eugen Lutz (Werner Schumacher, „Der Hauptmann von Köpenick“) ein, der von 1971 bis 1986 im Südwesten der Bundesrepublik ermittelte. Sein erster Einsatz fand in Mannheim statt, wo er sich nach einem Drehbuch Leonie Ossowskis und Gunther Solowjews unter der Regie Theo Mezgers („Der Fall Liebknecht-Luxemburg“) eines Kriminaldramas anzunehmen hatte. Mezger sollte im Laufe seiner Karriere noch 15 weitere „Tatort“-Episoden inszenieren. Mit nur rund 70 Minuten Laufzeit handelt es sich um einen der kürzesten "Tatorte".

„Einen auf Polizeispesen!“

Matrose Huberts (Peter Weis, „Die Räuber“) Schiff legt am Mannheimer Hafen an. Mit Lohn und einem Vorschuss begibt sich Hubert auf Landgang. So richtig ist der Job eigentlich nichts für ihn, er möchte lieber sesshaft werden. Dazu gehört auch eine feste Freundin, die er in Milly (Irmgard Riessen, „Die Engel von St. Pauli“), einer Animierdame in der Cha-Cha-Cha-Bar, gefunden zu haben glaubt. Dabei ahnt der leichtgläubige junge Mann jedoch nicht, dass Milly ihn lediglich von Berufswegen becirct, wie sie es im Team mit ihren Kolleginnen mit allen Gästen tut, um die sündhaft teuren Getränke an den Mann zu bringen. Nach einer feierlichen Nacht in der Bar, die aufs Huberts Kosten ging, zieht Milly ohne Hubert ab und lässt ihn verdattert und enttäuscht zurück. Ernüchterung macht sich breit, die zu Frust und Wut wird. Im Vorbeigehen stiehlt er ein Jagdmesser, mit dem er später einen Passanten (Erwin Geisler, „Bel Ami“) erstechen wird, der ihn verfolgt, nachdem er den Hund eines gassigehenden älteren Ehepaars getreten hat. Ein Fall für Kommissar Lutz, der nach dem Flüchtigen fahndet und sich selbst ein Bild von der Situation, u.a. in der Cha-Cha-Cha-Bar, macht…

Der „Tatort“ eröffnet unmittelbar mit der Verfolgungsszene und dem Gerangel auf der Straße, aus dem heraus Hubert den tödlichen Stich verübt. Ein Voice-over-Sprecher erklärt kurz, wer das Opfer war – den Täter lernt man fortan in einer rund 40-minütigen Rückblende kennen, die mit zwei zankenden jungen Männern auf einem Boot beginnt. Einer von ihnen ist Hubert, der sich auf seinen Landgang freut und mit seinem Job hadert. Nach den frustrierenden Ereignissen, aber noch vor der im Affekt verübten Tat schlägt er in den frühen Morgenstunden Zeit im Bahnhofswartesaal tot, stromert durchs morgendliche Mannheim und legt sich auf einer Parkbank schlafen. Diese Sequenzen zählen zu den stärksten dieses „Tatorts“, drücken sie doch die Melancholie und die Enttäuschung nach einer durchzechten Nacht aus, wie man sie sicherlich selbst schon einmal empfunden hat – und sei es nur beim Ausnüchtern während des Wartens auf die erste Bahn, obwohl man eigentlich nur endlich nach Hause ins Bett wollte.

Bis hierhin ist eigentlich noch nicht viel passiert, doch Hubert trifft die falschen Entscheidungen und verrennt sich in seine fixe Idee, Milly könne dasselbe für ihn empfinden wie er für sie, statt seine Lehren zu ziehen und es dabei zu belassen. Es zieht ihn am späten Nachmittag sofort wieder ins Cha-Cha-Cha, wo er endgültig abblitzt. Jetzt erst wird Kommissar Lutz (zusammen mit Assistent Schroth, gespielt von Wolfgang Hepp) Teil dieser Episode, über den man jedoch noch recht wenig erfährt. Stattdessen erhält man Einblicke in klassische Polizeiarbeit mit Zeugenbefragungen vor Ort, Information der Witwe (Renate Pistor), Phantombilderstellung und Ähnlichem. Parallel dazu sieht man Hubert in einer Art Zeitschleife gefangen, denn ein weiteres Mal sucht er den Kontakt zu Milly, aber auch ein Eishockey-Spiel auf, was zu unerwarteten Stadionbildern führt. Dabei hätte er eigentlich längst an Bord seines Schiffsführers (Horst-Werner Loos, „Ein Toter stoppt den 8 Uhr 10“) zurückkehren müssen, dessen Vorschuss er bereits verjubelt hat. Am Ende hat Lutz dann gar nicht so viel zu tun, denn ein Missverständnis treibt Hubert direkt in dessen Arme.

Dieser atmosphärisch stimmige Fall warnt davor, auf Abzockläden hereinzufallen und sein Herz an „professionelle“ Damen zu verlieren, wenngleich es hier nicht im Prostitution im eigentlichen Sinne geht. Die Struktur dieses „Tatorts“ mit seiner ausgedehnten Rückblende, die Täter und „Motiv“ offenbart und erst danach die Polizei zuschaltet, ist ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig, hat aber ihren Reiz, allein schon, weil sie sich doch stark davon unterscheidet, wie sich die Reihe bis heute entwickelt hat. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Kommissar Lutz in seinem Debüt unheimlich blass bleibt. Für viel mehr Irritationen sorgt jedoch das äußere Erscheinungsbild Huberts, der in einer Lack-Knickerbocker oder dergleichen herumrennt und sich dann noch wundert, dass Milly ihn lieber von Weitem sieht. In den Dialogen wird viel Dialekt gesprochen, sodass ich mehrmals ans Komikerduo Badesalz denken musste: „Du sprichst so komisch, fast Mannheimerisch!“ – „Ei, ich hatte die Fischvergiftung…“
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Sabine

„Wir müssen die Anständigen bleiben in der Öffentlichkeit! Nur so können wir unsere Arbeit retten und die Schließung verhindern!“ – „Und das glaubst du wirklich, oder was?!“

Der bereits 23. Rostocker „Polizeiruf 110“ um das ermittelnde Duo Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) wurde im August und September 2020, also in den in Deutschland „ruhigeren“ Wochen der Covid-19-Pandemie, gedreht und am 14. März 2021 erstausgestrahlt. Das Drehbuch Florian Oellers inszenierte Stefan Schaller („5 Jahre Leben“), der damit erstmals innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe in Erscheinung trat.

„Sag mal, wen würdest du als nächstes killen?“

Rostocks älteste Werft, die Arunia, wurde erst von einem Großkonzern übernommen und soll nun geschlossen werden, rund 800 Arbeiterinnen und Arbeitern drohen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Besonders pikant: Der Konzern hat staatliche Hilfen eingestrichen und einen satten Gewinn gemacht, an dem auch die Werft mit einigen Millionen beteiligt war. Finanzchefin Anja Ritter (Lea Willkowsky, „Nur eine Frau“) erläutert jedoch, dass die Rendite zu gering sei, und Geschäftsführer Paul Lettcke (Lucas Prisor, „Im Feuer“) hat seine Schäfchen längst im Trockenen. Eine schwierige Situation für die Betriebsräte Evin Yilmaz (Sara Fazilat, „Die Füchsin“) und Hannes Hegeloh (Alexander Hörbe, „Kleinruppin Forever“), die der Belegschaft noch zu vermitteln versuchen, das Unternehmen könne gerettet werden. Schwierige Situationen ist die alleinerziehende Mutter Sabine Brenner (Luise Heyer, „Der Junge muss an die frische Luft“) gewohnt, ohne sich je an sie gewöhnt zu haben. Ihre Anstellung als Schweißerin wurde längst wegrationalisiert, ihre Ersparnisse sind dahin, seit sie sie vermeintlich sicher angelegt hatte. Sie hat mehrere Umschulungen hinter sich und verdingt sich nun als Zeitarbeits-Servicekraft in der Arunia-Werft, wo sie quasi unsichtbar ist, wenn sie sich nicht gerade anhören muss, dass sie die Zitronen fürs Mineralwasser anders schnitzen solle. Leben kann sie davon nicht, wie so viele ist sie Aufstockerin. Das Arbeitsamt behauptet, nichts mehr für sie tun zu können, ihre Bank dreht den Geldhahn zu. Ihr Sohn Jonas (Ilja Bultmann, „Detour“) soll es einmal besser haben als sie, doch dessen Lehrerin verweigert ihm trotz guter Noten die Gymnasialempfehlung, da sie Sabine nicht zutraut, ihn in seiner schulischen Laufbahn ausreichend unterstützen zu können. Sabine ist am Ende ihrer Kräfte angelangt und will mit allem schlussmachen. Die Pistole hat sie schon angesetzt, doch als sie ihren Nachbarn Jörg Funkel (Helge Tramsen, „Das Gesetz sind wir“) wieder einmal seine Frau terrorisieren hört, entscheidet sie sich spontan anders…

„Wir sind das Arbeitsvieh, die Gefickten.“

Dieser „Polizeiruf 110“ nimmt sein Publikum mit in Sabines Alltag, ihr Leben, ihre bedrückende Welt. Parallel dazu erhält man Einblicke in den Arbeitskampf der Werftbelegschaft, ihren Streit mit dem Betriebsrat und die Machenschaften hinter den Kulissen, während auf der horizontalen Erzählebene sich König und Bukow – endlich, möchte man meinen – als Liebespaar versuchen. Zuhause gibt Bukow ein kleines Fest seinem verstorbenen Vaters zu Ehren, zusammen mit König singt er eine Rio-Reiser-Karaoke, seine Halbschwester Melly (Lina Beckmann, „Tödliches Comeback“) ist extra zu Besuch gekommen. Erst relativ spät werden sie mit Sabines erstem Opfer konfrontiert, dem bald weitere folgen werden. Als Zuschauer(in) hat man gegenüber der Polizei einen enormen Wissensvorsprung, kennt Täterin und Tatumstände, wird gar ein wenig zu ihrer Komplizin – ihr Frust und ihre Wut lassen sich sehr gut nachvollziehen und ihre Opfer sind wahrlich keine Sympathieträger. Dies ändert sich erst im Finale, das in seinem Fatalismus zwar konsequent, aber auch etwas unbefriedigend ist.

Bis dahin zieht Schallers Film aber sehr gekonnt zahlreiche Register eines Sozialdramas, die die Krimihandlung dominieren. Es sieht düster und aussichtslos aus, Rostock wirkt trostlos und trist, jeder ist sich selbst der Nächste und wer in der gesellschaftlichen Hackordnung auch nur ein Stückchen über Sabine steht, lässt sie dies spüren und scheint alles dafür zu tun, dass dem auch so bleibt. Luise Heyer spielt ihre Rolle mit einer fast besorgniserregenden Glaubwürdigkeit, unterstützt von einer Kamera, die ihre leisen Emotionen in zahlreichen Nahaufnahmen einfängt. Heyer bildet hier die Speerspitze eines generell sehr eindringlich spielenden Ensembles.

Die sozialen Verwerfungen, denen sich Sabine ausgesetzt sieht, schlagen von Verzweiflung in Hass und Gewalt um. Sicherlich ist nicht intendiert, Sabine als isoliertes Einzelschicksal zu betrachten, vielmehr fungiert die Figur als Stellvertreterin für im kapitalistischen Klassensystem Abgehängte. Deren durch die Hartz-Gesetze und ähnliche Gängelungen ohnehin schon prekäre Situation hat die Covid-19-Pandemie noch einmal verschlimmert, ihren Abstieg und ihre Ausbeutung beschleunigt. Vor einer Eskalation, wie sie am Beispiel Sabines hier durchexerziert wurde, aber auch generell vor den negativen Folgen derartiger Abwärtsspiralen möchte dieser „Polizeiruf 110“ warnen, was ihm über weite Strecken gelingt. Einmal mehr deutlich wird: Eine Korrektur des politischen Systems hin zu einem sich stärker am Sozialismus orientierenden Gesellschaftskonzept scheint unabdingbar und überfällig.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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McBrewer
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von McBrewer »

Ich persönlich war auch vom letzten Rostocker Polizeiruf SABINE sehr angetan, Bukow und König sind eh ein herrlich fertiges Pärchen, auch Ihre Partner aus der Zweiten Reihe sticheln sich gekonnt aufs Blut.
Aber jener Polzeiruf hat natürlich die großartige Luise Heyer als namens gebende "Sabine", die mir schon als Hape Mama in "Der Junge muß an die Frische Luft" positiv aufgefallen. Ihre Performance geht in die ähnliche, intensive Richtung. Großes Kino im TV Format. Bitte weiter so :prost:
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Strandgut

„Bist du von der Heilsarmee oder ist das ‘ne Einladung zum Beischlaf?“

Der ein Jahr zuvor innerhalb der noch jungen öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimireihe „Tatort“ eingeführte Kieler Kriminalhauptkommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) ging 1972 in Serie: Die Episode „Strandgut“ wurde sein zweiter von insgesamt sieben Einsätzen, von denen alle bis auf den letzten auf das bewährte Duo aus Herbert Lichtenfeld als Drehbuchautor und Wolfgang Petersen („Die unendliche Geschichte“) als Regisseur setzten.

„Zwei Kaffee und zwei Stück Kuchen, das macht dann 16,40 DM.“

Die Brüder Helmut (Dieter Kirchlechner, „Der Hitler-Ludendorff Prozeß“) und Karli Possky (Rolf Zacher, „Mädchen: Mit Gewalt“) haben ein ebenso einträchtiges wie kriminelles Geschäftsmodell für sich entdeckt: Auf der Insel Sylt setzen sie attraktive junge Damen wie Christa Kassdorf (Heidy Bohlen, „Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen“) und Manuela Borsdorf (Ingeborg Schöner, „Hexen bis aufs Blut gequält“) auf gutsituierte Herren mittleren Alters an, um diesen den Kopf zu verdrehen, während die Posskys kompromittierende Fotos schießen, mittels derer sie die meist verheirateten Herren um stattliche Summen Geld erpressen. Dieselbe Nummer probieren sie an Regierungsdirektor Warrlau (Ulrich Matschoss, Kriminalrat Königsberg der Schimanski-„Tatorte“), doch hat sich Christa tatsächlich in den Mann verliebt. Die Posskys setzen sie daraufhin unter Druck und prügeln Warrlau ins Krankenhaus, genauer: in die Privatklinik des Inselarztes Dr. Kühne (Wolfgang Kieling, „Bremer Freiheit“), was Hauptkommissar Finke und seinen Adjutanten Jessner (Wolf Roth) auf den Plan ruft. Kurz darauf wird Christa tot am Kampener Strand angespült. Und damit nicht genug: Wenige Tage später ereilt Manuela das gleiche Schicksal. Diese wollte ebenfalls aussteigen und mit Dr. Kühne eine ernsthafte Partnerschaft eingehen. Die Posskys sind dringend mordverdächtig, doch fehlen die Beweise – und Warrlau schweigt beharrlich…

„Ich hab‘ mir nun doch ‘ne Badehose gekauft…“

Die vollbusige Christa, mit der der Herr Regierungsdirektor im den Dünen knutscht und fummelt, bietet gleich zu Beginn nackte Tatsachen fürs Auge, und auch im weiteren Verlauf hält sich dieser „Tatort“ nur wenig bedeckt, wenn bei den Ermittlungen am Strand immer mal wieder Anhänger(innen) der Freikörperkultur durchs Bild huschen. Dass sich Finke und Jessner als Vater und Sohn ausgeben, um inkognito zu ermitteln, bietet humoristisches Potential, das jedoch kaum genutzt wird, da die beiden schnell enttarnt werden. Der Frankfurter „Tatort“-Kommissar Konrad (Klaus Höhne) hat einen kurzen Gastauftritt, als Jessner kurzerhand in die Mainmetropole reist, da das dort ansässige Erpressungsopfer Dr. Breitenbach ein wichtiger Zeuge sein könnte – doch dieser hüllt sich ebenfalls in Schweigen. Generell wird hier ständig nach Sylt und zurück geflogen, die Klimabilanz dieses Polizeieinsatzes ist bedenklich.

„Nase voll?“ – „Ja!“

Die große Frage, die es zu beantworten gilt, ist die, ob die Posskys die Mörder sind und wenn ja, beider Frauen oder lediglich einer, oder eine oder beide der Damen Selbstmord begingen. Als Zuschauer(in) ist man sehr nah an der Polizeiarbeit, doch letztlich scheinen zwei Jugendliche die Beamten auf die richtige Spur zu führen. Die Figur des Kommissars Finke gewinnt in diesem seinem zweiten Einsatz an Profil: Ein kleingewachsener, etwas gedrungener Mann, der sich nicht davon beirren lässt, bei der Konfrontation von Verdächtigen meist nach oben linsen zu müssen, und betont nüchtern und emotionslos gern in stakkatoartiger Befehlsform spricht, um sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten und seiner Autorität Ausdruck zu verleihen.

„Von irgendwas muss der Mensch ja leben…“ – „Nur nicht von der Arbeit, was?“

Eine wahrlich überraschende, regelrecht gialloeske Wendung im Finale ist neben dem Sylter Lokalkolorit das größte Pfund dieses „Tatorts“. Leider war man offenbar der Ansicht, in einer Rückblende alles noch einmal haarklein aufdröseln zu müssen, was eigentlich überflüssig ist und zur Überlange von rund 105 Minuten führt. Die vielen gegensätzlichen Figuren entschädigen jedoch für dramaturgische Holprigkeiten, zumal der leichte Sleaze-Faktor auch nicht zu verachten ist. Oder wie heißt es hier so schön? „Auf Manuela wär‘ ich auch geflogen!“
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Santini
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Santini »

Tatort: die Amme

Starker Fall! Und auch recht krass(nitzer).
Die Rolle des Entführers in Frauenkleidern ist von Beginn an herrlich creepy und bedrohlich. Dabei aber niemals over the top. Gleichzeitig wohnt diesem Charakter aber auch eine gewisse Tragik inne, die dann im Finale durch einige kurze aber höchst effektive Szenen noch einmal verdeutlicht wird. Toll gespielt!
Gut auch die Szene, in der den beiden Ermittlern im Auto „etwas“ von oben auf das Auto kracht.
Und zum Finale zieht dann die Spannung nochmals ordentlich an.
Die nächsten Folgen werden es wahrlich schwer haben, an diesen Tatort heranzukommen.
Und dann, ganz zum Schluß, kann Adele auch endlich schlafen...

Austria, 10 Points!
(Und ich konnte bei den letzten Austria-Beiträgen nicht gerade vor Begeisterung schwärmen. :wink: )
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Bin ganz bei Santini.
Spannender heftiger Fall, und Krassis Weg vom Rauhbein zum empatischen Menschenversteher ist nach der Schlußszene wohl abgeschlossen und absolut nachvollziehbar. Ansonsten eher ein Adele-Tatort. Und der creepy Killer/Entführer unglaublich. Guter Sound auch!
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer

„Ich hab‘ noch was vor…“

Am 9. Juli 1972, nur rund fünf Wochen nach der Erstausstrahlung des vierten „Tatorts“ um den Kölner Zolloberinspektor und Lebemann Kressin (Sieghardt Rupp) wurde bereits dessen fünfter Fall gesendet: „Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer“ wurde im Gegensatz zum vorausgegangenen Einsatz Kressins wieder von Wolfgang Menge geschrieben, die Regie übernahm Michael Verhoeven (dessen zweite und bis dato letzte „Tatort“-Inszenierung auf das Jahr 2005 datiert: „Die Spieler“).

„Konkurrenz belebt das Geschäft!“

Ein Scharfschütze erschießt einen Mann vor dem Eingang des Bonner Bundeshauses, wird dessen gelben Koffers habhaft und gibt diesen unerkannt weiter, sodass er schließlich den Auftraggeber des Attentats erreicht. Bei diesem handelt es sich um niemand Geringeren als Sievers (Ivan Desny), der damit verhindern konnte, dass das im Koffer enthaltene, seine illegalen Waffengeschäfte dokumentierende Beweismaterial an die Öffentlichkeit gelangt – zum Unmut dessen Konkurrenten Nobiling (Paul Verhoeven, „Die Ratten“), der sich ebenfalls in Verhandlungen über Waffenlieferung an den afrikanischen Staat Abanda befindet. Doch Kressin, der eigentlich nur einer attraktiven Frau nachstellte, hat verdächtige Beobachtungen gemacht, die bald auf die richtige Spur führen…

„Ich hatte mir das etwas dramatischer vorgestellt…“

Dem „Tatort“-Vorspann wurde hier ein Prolog vorgeschaltet, in dem Kressin seine aktuelle Gespielin am Flughafen verabschiedet und sich direkt an den nächsten Rock heftet. Der bekannte Vorspann wurde zudem gekürzt und muss ohne das gewohnte musikalische Titelthema vorkommen – ein Sakrileg, das heutzutage undenkbar scheint. Der Mord geschieht im unmittelbaren Anschluss; den abgebrühten Schützen in auffälliger Kluft wird man im weiteren Verlauf nicht nur als Handlanger, sondern auch als jemanden, der knallhart seine eigenen Interessen vertritt, kennenlernen: Er wendet sich gegen seinen Auftraggeber und versucht, mehr für sich herauszuholen. Dies erweitert die Einblicke in den Ablauf illegaler Waffengeschäfte bietende Handlung (inkl. protziger Vorführung eines Amphibienpanzers) um eine weitere Partei, die etwas Unruhe zu stiften versteht.

Gewissermaßen selbstreferenziell wird dieser vom WDR produzierte „Tatort“, wenn er nicht nur den Kölner Sitz des WDR groß im Bild einfängt, sondern auch die realen WDR-Journalisten Friedrich Nowottny und Ernst-Dieter Lueg als sie selbst mitspielen und sich von der Polizei befragen lassen. Den Eindruck einer, wenn man es so nennen will, „Familienproduktion“ verstärkt dann auch der Umstand, dass Nobiling vom Vater des Regisseurs gespielt wird. Und „Tatort“-Star Götz Georges späterer Kompagnon in dessen Rolle als Kommissar Schimanski, Thanner-Darsteller Eberhard Feik, feiert hier als Wachtmeister seinen ersten Fernsehauftritt. Etwas arg erzwungen wirkt dagegen Fritz Eckhardts Gastauftritt als Inspektor Marek aus der gleichnamigen österreichischen Krimiserie, die 1971 in die „Tatort“-Reihe eingemeindet wurde. So bleibt es immerhin dabei: Kein Kressin-Fall ohne einem anderen „Tatort“-Kommissar als Gast.

Um die eine oder andere nicht ganz passende komödiantische Einlage um Schnapstrinken oder dümmliche Gangster ist man auch nicht verlegen, die damals zeitgenössisch nervigen Klick-Klack-Kugeln, ein kurzlebiger Jugendtrend, finden sich als Zeitkolorit ebenfalls wieder, dafür hat man aber an Action, Sex und markigen Dialogen gespart, die sonst die Kressin-Fälle bestimmten. Sievers hingegen ist so präsent wie seit Kressins erstem Einsatz nicht mehr und das Finale mit Knalleffekt stimmt einigermaßen versöhnlich. Dennoch überwiegt der Eindruck, dass man sich von den typischen Kressin-Zutaten ausgerechnet die verzichtbareren ausgesucht hat. Ob das eine Reaktion auf den vorausgegangenen „Kressin und die Frau des Malers“ war, dem es nicht nur bei seinem vermittelten Frauenbild an Ironie gemangelt hatte? Jedenfalls scheint, als habe man mit dem ursprünglichen Kressin-Konzept nicht mehr allzu viel anzufangen gewusst. Bis hierher leider der schwächste Teil der Reihe.
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