Requiem - Hans-Christian Schmid (2006)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3004
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Requiem - Hans-Christian Schmid (2006)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Requiem

Produktionsland: Deutschland 2006

Regie: Hans-Christian Schmid

Darsteller: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Anna Blomeier, Martin Borchert
Wir wunderten uns darüber, dass gegenüber des Friedhofs, getrennt von ihm lediglich durch die Hauptstraße, ein großes Baugelände brachlag, vorne mit einem ebenso großen Schild, dass das Grundstück zu verkaufen sei, und dass an dieses Gelände ein offensichtlich leerstehendes Haus angrenzte, das, vermutlich bei einem Brand, die meisten Federn hatte lassen müssen, denn es sah vollkommen verkohlt aus, hatte kein Dach mehr, und der Eingangsbereich war längst von der Natur zurückerobert worden, von Farngräsern und Dornengestrüppen und kleinen Büschen. Erst später erfuhren wir, dass es genau dieses Haus gewesen sein soll, in dem Anneliese Michel exorziert worden und gestorben ist, vor nun genau vierzig Jahren, und dass daneben, wo nun bloß noch Wiese ist, das Sägewerk ihrer Familie gestanden hatte, und dass beides tatsächlich in Feuer aufging, in einer Nacht vor drei Jahren, und dass damals spekuliert worden sei, dieser Brand müsse irgendetwas mit den Vorfällen damals zu tun haben. In den Medien wurde von Satanisten gesprochen, die ihn angeblich mittels Grablichtern vom Friedhof gelegt hätten, in Klingenberg selbst vertraute uns jemand die Vermutung an, es seien Einwohner des Ortes selbst gewesen, die die Anwesenheit dieses Hauses nicht mehr ertragen hätten, und deshalb kurzerhand beschlossen hatten, diesen Schandfleck auszuradieren, und vielleicht steckt auch, wie so oft, nichts weiter dahinter als eine stürzende Kerze, eine vergessene Zigarette, ein Kurzschluss. Anneliese Michels Grab befindet sich jedenfalls auf der hinteren Seite des Friedhofs, über dem sich Weinberge wie die Stufen einer Treppe erheben. Dort ist ebenfalls ein Haus zu verkaufen, direkt oberhalb der Friedhofsmauer. Hätte der Christus, der, neben der Aufschrift, dass es vollbracht sei, ihren Grabstein ziert, die Lider nicht geschlossen, hätte er in der Feuernacht die Flammen zucken sehen können, drüben, auf der anderen Straßenseite. Das Grab ist gepflegt, obwohl die Eltern nach dem Inferno weggezogen sind. Das, sagte man uns, liege vor allem an den Pilgern, die nach wie vor in den Ort kämen, um die Begräbnisstätte des Mädchens zu besuchen und dort zu beten, die sie für eine Heilige, für eine Stigmatisierte halten, für eine Märtyrerin, die zum Wohle der Deutschen Jugend und im Kampf mit dem Erzfeind ihr Leben geopfert habe. In den Augen dieser Frommen folgte Anneliese Michels Leiden einem göttlichen Plan, der sie mit den sie plagenden Teufeln infizierte, um sie danach umso erlöster aus dieser Plagerei herauskommen lassen zu können. In den Augen der meisten Ortsbewohner, von denen übrigens viele sofort eine Mauer des Schweigens errichten, wenn man versucht die Sprache auf die Familie Michel zu bringen, starb Anneliese an den Folgen der Exorzismen, denen ihre Familie und zwei katholische Priester und einige damalige Ortsbewohner sie unterzogen haben. Sie verhungerte schlicht. Auf den schrecklichen Photos, die kurz vor ihrem Tode gemacht worden sind, ist die damals Dreiundzwanzigjährige derart abgemagert und zerschunden, dass man sie für eine schwerkranke Hundertjährige halten könnte.

Als sie es endlich geschafft hat, in ihrem erzkatholischen Elternhaus durchzusetzen, dass sie doch auf Lehramt studieren und dazu in die Stadt ziehen darf, wirkt Michaela Klinger wie ein Backfisch, der zum ersten Mal ins offene Meer hinaus-schwimmt. Während ihre Mutter noch immer strikt dagegen ist, dass ihre behütet aufgewachsene Tochter sich den Verführungen der Großstadt aussetzt und ihnen möglicherweise unterliegt, hat Michaela Unterstützung in ihrem liberaler gesinnten Vater und ihrer jüngeren Schwester, die sich mit ihr über die eingetroffene Zusage der Universität freuen. Im Studentenwohnheim trifft die junge Frau auf eine ihr bislang völlig unbekannte Welt, eine Welt, die viel größer ist als ihr überschaubares Heimatdorf, in dem jeder jeden kennt und die Kirche sonntags aus allen Nähten platzt. Eine ihrer Bekanntschaften ist Hanna, mit der sie zusammen zur Schule gegangen ist, und die sie zu solchen, in den Augen Michaelas, Verrücktheiten wie Schwimmen in den Straßensachen, das Trinken von Sekt oder Partys in Studentenclubs animierte. Dort läuft übrigens, obwohl wir schon Mitte der Siebziger sind, noch immer die Cover-Version von Donovans Lalena, die Deep Purple, damals noch ohne Ian Gillan und Roger Glover, dafür mit Nick Simper am Bass und Rod Evans am Mikrofon, 1969 für ihr drittes gleichnamiges Album aufgenommen haben. Michaela blüht auf, und aus dem altbacken angezogenen und steif und verschüchtert wirkenden Mädchen wird langsam eine selbstbestimmte junge Frau. Was bleibt, ist ihr tiefer Glaube an Gott, und leider auch die Konflikte mit ihrer Mutter, die ihr schon mal, wenn sie über Feiertage zu Hause ist, ihre Klamotten wegschmeißt, und leider auch die epileptischen Anfällen, die sie seit Jahren schon plagen. Einmal findet Hanna sie völlig verängstigt unter ihrem Schreibtisch, ein anderes Mal unternimmt sie mit ihrer Familie eine Wallfahrt, und wird im dortigen Hotel von ihrem Vater bewusstlos im Speisesaal aufgefunden. Statt eines Arztes sucht sie zunächst den Priester ihrer Heimatgemeinde auf und berichtet ihm, dass diese Anfälle nicht alles sei, was ihr zu schaffen mache. Sie höre Stimmen, sagt sie, und sehe Fratzen, und glaubt, da sei der Teufel daran schuld. Erst mag Pater Landauer ihr nicht glauben, doch sein jüngerer Kollege Borchert ist sofort Feuer und Flamme, als er von Michaelas vermeintlicher Besessenheit erfährt. Er sichert ihr seine Hilfe zu, sie von den Dämonen zu befreien. Kaum hat die Amtskirche damit quasi bestätigt, dass Michaelas Probleme nicht etwa nur psychischer Natur sind, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand rapide. Manisch schreibt sie ihre erste Hausarbeit und bringt dabei ihren Freund Stefan fast um den Verstand, und auch Hanna, die für ein Praktikum in Hamburg war, erkennt ihre Freundin bei der Rückkehr kaum wieder. REQUIEM endet knapp vor den Exorzismen, die Anneliese Michel, das Vorbild für die Figur der Michaela, das Leben gekostet haben. Die letzte Szene zeigt Sandra Hüller, die in ihrem Kinodebut eine schauspielerische Leistung der oberen Güteklasse abliefert, mit optimistischem Blick in eine Zukunft schauen, die düster werden wird.

Bereits 2005 hat das Schicksal der Anneliese Michel als Inspirationsquelle für einen Spielfilm gedient. Obwohl für THE EXORCISM OF EMILY ROSE der Schauplatz von Süddeutschland in die Vereinigten Staaten von Amerika verlegt worden ist, und obwohl Anneliese freilich nicht mehr Anneliese, sondern Emily heißt, und obwohl signifikante Einschnitte in die uns vor allem über die Prozessakten recht lückenlos überlieferte Geschichte vorgenommen wurden, um sie entsprechend zu dramatisieren und fiktionalisieren, ist offensichtlich, wer Pate stand für das Martyrium des jungen Mädchen, das, wie sein historisches Vorbild, von einem Priester für teufelsbesessen gehalten wird und den daran anschließenden Exorzismus nicht überlebt. Dabei ist THE EXORCISM OF EMILY ROSE jedoch fast mehr ein Justizdrama als ein Horrorfilm oder ein psychologisches Drama. Erzählt wird die Geschichte Emilys in Rückblenden, die von der Verteidigerin des auf der Anklagebank sitzenden Father Moores, Erin Burner, bei ihren Recherchen, Zwiegesprächen mit dem Priester oder Zeugenverhören im Gerichtssaal aufgescheucht werden. Dementsprechend ist der Zuschauer, wie auch Burner, mit einer Fülle an Materialien, Dokumenten, subjektiven Aussagen, unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert, die von der Ansicht, Emily sei tatsächlich Spielball teuflischer Mächte gewesen bis hin zu der Vermutung reichen, ein Großteil ihrer Besessenheit sei ihr von Moore erst eingeredet worden. Während sich der Leidensweg Emilys nach und nach vor Burners und unseren Augen entrollt, schreitet auch der Prozess gegen den Priester sukzessive voran, ohne dass sich mit der Zeit eine eindeutige Erklärung der Geschehnisse herauskristallisieren würde. Bis zum Schluss bleibt, trotz des Freispruchs Moores, die Unge-wissheit darüber, was genau es nun wirklich gewesen ist, das das fromme Mädchen zu einem zuckenden, Blasphemien ausspuckenden Dämon machte. Trotzdem, und das könnte man ihm als größten Kritikpunkt vor die Füße werfen, verzichtet THE EXORCISM OF EMILY ROSE nicht darauf, die Ereignisse mit Genre-Versatzstücken zu unterfüttern. So versichert Moore seiner Verteidigerin, da sie ihn vor der Verurteilung bewahren wolle, hätten es die Teufel Emilys nun auch auf sie abgesehen. In der Folge häufen sich, ob nun von Burner eingebildet oder nicht, in ihrem Privatleben merkwürdige Vorfälle wie zum Beispiel ihr ständiges Aufwachen um drei Uhr nachts, laut Moore die Stunde der Dämonen. Ebenfalls wenig nüchtern ist der Soundtrack, der die leiseren Töne des Films mit dem für US-Horrorfilme typischen Paukenschlägen regelrecht zerhämmert. In gewisser Weise kann man Hans-Christian Schmids REQUIEM als eine Antwort auf diesen unausgegorenen Versuch Hollywoods verstehen, den Aschaffenburger Exorzismusprozess kinematographisch auszuwerten.

Eine Szene zu Beginn von THE EXORCISM OF EMILY ROSE findet man auch in REQUIEM: Michaela Klinger bzw. Emily Rose schwenkt freudestrahlend den Brief, der ihr gerade von der Universität ins Haus geflattert ist, an der sie so gerne studieren würde. So sehr sich die überglücklichen Gesichter von Sandra Hüller und Jennifer Carpenter ähneln, so sehr unterscheiden sich die Reaktionen ihrer Eltern. Während Emilys Mutter zwar ein bisschen traurig zu sein scheint, dass ihre Tochter nun flügge geworden ist und bald das heimische Nest verlassen wird, ihr aber sichtlich nur das Beste wünscht, bemüht sich die Mutter Michaelas nicht ansatzweise, ihre Feindseligkeit den Zukunftsplänen ihrer Tochter gegenüber unter den Tisch zu kehren, und lässt sie unmissverständlich wissen, dass sie in ihren Augen einen kaum zu überbietenden Fehler begeht. Überhaupt ist eines der zentralsten Themen von REQUIEM das Beziehungsgeflecht zwischen Michaela und ihrer Familie. Schmids für einen deutschsprachigen Anspruchsfilm typische semi-dokumentarische Kameraarbeit, die vorgibt, zurückgenommen und ohne zu werten abzubilden, was sich vor ihrer Linse entfaltet, seziert das Verhältnis Michaelas zu ihrem Umfeld mit dem selbstaufgelegten Anspruch, eine, wie auch immer geartete, Wahrheit aus den irgendwie fragmentarischen, bruchstückhaften Szenen herauszukitzeln. Weniger als bei EMILY ROSE ist diese Wahrheit von dem Film indes eindeutig vorgegeben: REQUIEM lässt zu keinem Zeitpunkt auch nur den Verdacht zu, Michaelas Körper könne wirklich zu einem Gefäß für den Teufel geworden sein. Seine Erklärungen sind medizinisch, psychoanalytisch, soziologisch. Vor allem sind sie aber von jemandem abgeben, der eine ziemlich dicke 68er –Brille auf der Nase trägt. Das Elternhaus, der Katholizismus und seine Vertreter, die sowieso schon vorhandene psychische Labilität der jungen Frau, eklatante Fehlentscheidungen der mit ihr in Beziehung stehender Menschen – am fatalsten wohl die ihres Freundes Sebastian, sie nicht, wie Freundin Hanna vorschlägt, ins Krankenhaus, sondern zurück in ihr Heimatdorf zu bringen, als ihr Gesundheitszustand sich derart verschlechtert hat, dass Michaela nicht länger im Studentenwohnheim bleiben kann -, das alles führt konsequent und folgerichtig zur Katastrophe, auf die der Film mit schon fast mathematischer Genauigkeit zusteuert. Damit erweckt REQUIEM selbst den Eindruck von einem Beweisstück, das in dem Gerichtsprozess, den EMILY ROSE beschreibt, Verwendung hätte finden können. Der Film setzt alles daran, die Katholische Welt, in der Anneliese aufwuchs, zu entzaubern und die Dämonen in ihre säkularen Schranken zu verweisen. Er fühlt sich an wie das Gutachten von jemandem, der nicht verwinden will, dass THE EXORCISM OF EMILY ROSE wenigstens noch das kleinste Schlupf-loch gelassen hat für die konservativ-katholische Theorie, Anneliese sei wahlweise eine verkannte Heilige oder eine verkannte Teufelsjüngerin gewesen.

Wir sammeln weiter Eindrücke in und um Klingenberg. Die Pforte der Katholischen Kirche ist verschlossen. Neben ihr, in einem kleinen Hof, steht eine Madonnenfigur in einer künstlichen Grotte, Rosen zu ihren Füßen. Oben, im Holz der Tür des Aussichtsturms, der irgendwann Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gestiftet worden ist, als sich der Ort mehr und mehr zum Tummelplatz für Touristen mauserte, ist der Name Michel eingeritzt, und ein Herz daneben. Ebenfalls Ziel für die Touristen ist die Seltenbachschlucht, die, früher unbegehbar, später mit Stegen und Brücken ausgestattet wurde, und in dem wir ein totes Vögelchen finden, dem die Insekten bereits die Augen genommen haben. Es liegt unterhalb der Klingenburg, von der man das Grab Annelieses nicht sehen kann, weil ein hoher Busch es verdeckt. Abends, im Gasthof, hören wir uns noch einmal die Originaltonaufnahmen ihrer Exorzismen an. Es ist immer der gleiche Effekt: Wir werden beklommen von dieser unmenschlich fauchenden, knurrenden Stimme, und zugleich wundern wir uns darüber, dass es so weit überhaupt mit derjenigen kommen konnte, der diese Stimme gehörte. Der Pfarrer Alt stellt eine Suggestivfrage nach der nächsten, und Anneliese antwortet stets im Einklang mit der vorherrschenden Meinung des eher weniger progressiven Teils der Katholischen Kirche. Nero sei in ihr, sagt sie, und Hitler, und der Teufel höchstpersönlich, und Hans Küng sei ein Ketzer, und das Zweite Vatikanische Konzil ein Sakrileg, mindestens. Die Aufnahmen sind von Thea Hein gemacht worden, damalige Wallfahrtsleiterin in Klingenberg, und Hauptverantwortliche für Annelieses angebliche Besessenheit. Wir stellen uns das vor, diese Szene: Das Mädchen, halb verhungert und blutig geschlagen im Bett, dann die betenden Priester und Frau Hein mit dem Aufnahmegerät, vielleicht ihre Eltern noch. Wir fragen uns, wie oft sie die Klinke der Kirchentür runtergedrückt hat, und wie oft sie vor der Rosenmadonna gekniet hat, und wie oft sie auf den Turm hinaufgestiegen ist und wann sie das letzte Mal die Seltenbachschlucht entlangwanderte. Nachts kommen uns Zweifel an allem. Uns ist schlecht von den Äpfeln, die wir von den Plantagen auf der gegenüberliegenden Main-Seite stibitzt haben. Es fühlt sich an, als würden sie in uns zu gären beginnen. An Schlaf ist nicht zu denken. Wir warten auf den Morgen. Der Verkehr der Hauptstraße erwacht. Ein letztes Mal gehen wir zu ihrem Grab. Irgendwer hat frische Blumen gebracht.
Antworten